Schwarzer Samt (1976)



„Der Samt, auf dem die Lust und die Laster der Menschheit liegen, ist so schwarz wie die Nacht.“




Die einzeln verstreuten Bewohner eines ägyptischen Dorfes am Nilufer ragen schweigend in einem Beinahe-Halbkreis der Kamera entgegen, in unterschiedlichen Entfernungen. Fast scheint es, als starrten sie, wissend, geradewegs in die Kamera. Einer von ihnen löst sich aus der Reihe, geht zu auf eine maurisch gebaute Burg, auf einem Hügel, der sich hinter dieser Versammlung erhebt. Im Bild ist das streng arrangiert, gewinnt dem Szenario den maximalen unwirklichen Effekt einer geheimnisvollen Zeremonie ab, weckt Reminiszenzen ans Monumentalkino, an Alejandro Jodorowskys MONTANA SACRA, natürlich den Italowestern oder auch, wie anderorts einmal von irgendjemandem behauptet, 2001: A SPACE ODYSSEE. Der Film verirrt sich später nie wieder zurück zu der Transparenz, zu dem Konkreten dieser Anordnung: Sie ist nur ein hinterlistiges und vielleicht auch generisches Prelude für die kommende Geschichte der neokolonialistischen geistigen Ausbeutung eines Landes durch die sexuelle Selbstausbeutung der Besatzer. Anders: Dieses Prelude verurteilt von vornherein alles Kommende zu einer Farce in seinem bis zur Grenze des Surrealismus überhöhten Exotismus. Ein erotisches Orientmärchen, das ist es nicht, was Brunello Rondi, der undurchsichtige und mysteriöse Schöpfer dieser riskanten Bilder möchte. Die Melodie klingt schließlich mit einem dissonanten Akkord aus: Wir stehen ganz plötzlich im Badezimmer der britischen Filmdiva Crystal, die in dieser Burg lebt, so, wie man es von einem Star im Exil erwartet. Das Klirren ihrer abgesetzten Teetasse beendet das Prelude. Was nun beginnt ist – ja, was ist es eigentlich? Vielleicht ein ins Legato und Melodische weiterpervertiertes Streicher-Arrangement von Görgy Ligetis „L’escalier du diable“? Nein, das wäre überhaupt nicht möglich. Eher vielleicht eine quälend langsam gespielte Fuge von Bach? Nein. Nein, es funktioniert nicht. Merkt ihr das? Klassische Musikstücke herbeizuzitieren in einem Filmtext. Das geht doch nicht.


Diesen möglicherweise enervierenden Absatz habe ich soeben nervös in größter Eile getippt, weil sich, etwas mehr als Woche nach der Sichtung dieser zu beschreibenden Ultrakunst, in meinem Kopf einige potenzielle Kernsätze formten. Kernsätze, die ganz danach klangen, als wäre ich für einen kurzen Moment auf dem besten Wege, endlich einmal, ausnahms- und überrraschenderweise meines babylonischen Gedankenwirrwarrs Herr zu werden und es in fassbarer Form ins Schriftliche zu übertragen. Aber das funktioniert bei mir, leider, seit Jahren beinahe überhaupt nicht mehr, meine Texte scheinen mir hinterher im besten Fall als der matte, trübe, gelegentlich auch dümmliche Hauch einer Idee von vielen, ungeordneten und erschöpfend inspirierenden und berührenden, die mich während eines Films in so freudige Unruhe versetzten. Und damit bleiben eben jene Ideen, die mich überhaupt erst zum Schreiben drängen, auf der Straße der Worte liegen.


Dem obigen Absatz wären idealerweise noch viele weitere gefolgt, einer der einst, während meiner frühen cinemenschlichen Entwicklungsphase berüchtigten „Monstertexte“ – denn dieser Absatz hätte nur ungefähr die Hälfte der obligatorischen „Einleitung“ gestellt. Aber jetzt kann ich nicht mehr zurückgehen und es ein zweites Mal versuchen, der Faden ist gerissen, ganz, eben gerade. Auf dem Weg vom Kopf zu den Fingerspitzen ist der erfüllende Fluss meiner Gedanken verebbt, von einem Damm aufgehalten worden und das Tippen selbst hat die Konzentration beschädigt, kläglich. Wie immer, egal in welcher vertrackten oder befreiten Stimmung ich schreibe, über welchen Film, ob negativ oder positiv, ob mit nennenswertem Selbstvertrauen innerhalb eines geläufigen Metiers oder eines mir fremden, ob selbstironisch-reißerisch-fahrig wie so oft in meinem Sehtagebuch, oder, wie leider besonders häufig, ergriffen von heiligem Ehrgeiz und mütterlicher Angst um den verehrten, kostbaren Gegenstand der Rezension. Statt euch aber nun lediglich mit dieser Antäuschung, einer Attrappe des geplanten Gedankenwasserfalls aus diesem Text zu entlassen, öffne ich zumindest die Schleuse des Staudamms ein wenig und präsentiere euch, gewissermaßen als benetzend tröpfelndes Rinnsal, den meines Erachtens schamvollen Versuch einer „konventionellen“ Rezension dieses bis in die Haarwurzeln eigenartigen, mir zumindest völlig unerklärlichen und herzzerreißend diffusen Films. Dieser nun folgende Text entstand vor einer Woche, noch im Dunstnebel eben jenes Films, bei klarem Herzen und verwirrtem Kopf. Führt euch also, solltet ihr denn tatsächlich noch wohl gesonnen sein, den imaginären Vortrag der folgenden Worte – oder vielmehr ihrer bloßen inhaltlichen Struktur – symbolisch gesprochen, folgendermaßen vor: Morgens um 5 Uhr, nach einer exzessiven Party, zwischen Rauchschwaden, unter dem Äther von Erschöpfung, Alkohol und sanfter Rauschmittel, langsam und sehr sorglos sowie von gelegentlichem kindischen Gekicher, ungeduldigem, halbbrünftigem Seufzen und wohligem Ächzen unterbrochen, halbwegs debil in liegender Position hervorgebrabbelt. Nur natürlich nicht so interessant, wie sich das anhört. Buon appetito.



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„Der Samt, auf dem die Lust und die Laster der Menschheit liegen, ist so schwarz wie die Nacht.“




Mit diesem Film, dem zweiten, den ich von ihm bisher gesehen habe, katapultiert sich Brunello Rondi mit einem grazilen Sprung an die Spitze meiner Liste besonders interessanter italienischer Filmemacher zwischen den Welten. Bei Tag Stammautor von Federico Fellini und Zeitgenosse der späten Neorealisten, bei Nacht weitgehend unterschlagener Regisseur gesellschaftskritischer und fiebrig delirierender Genre- und Exploitationfilme, wird am Beispiel des rastlos nach Ausdruck im vermeintlich Ausdruckslosen suchenden Rondi deutlich, was mich stets so ganz besonders fasziniert hat an der unberechenbaren italienischen Filmindustrie (das setzt hier freilich die Annahme voraus, dass selbige in den 80igern verschieden und seither nicht wiedererstanden ist). Um euch den manisch-depressiven, flirrenden Liebreiz des Rondischen Oeuvres näher zu bringen, werde ich euch weiterhin nächstens in den Genuss einer bereits lange vorrätigen Liebeserklärung an sein freudianisches Giallodram LE TUE MANI SUL MIO CORPO (Deine Hände auf meinem Körper, 1970) bringen. Harrt also freudig der obskuren Dinge, die da kommen!




VELLUTO NERO, irgendwo im Netz einmal von irgendjemandem reizvollerweise als „2001 of Emmanuelle films“ bezeichnet, ist eine somnambule Ballade von der Hässlichkeit neurotischer Selbstinszenierung und den Enttäuschungen einer Filmindustrie wie derjenigen, in der Rondi noch arbeitete, als er diesen Film machte – und der er danach zunehmend den Rücken kehren sollte – warum auch immer.
In einer ägyptischen Postkartenlandschaft am Ufer des Nils lässt Rondi eine Gruppe erschöpfter unterhaltungsindustrieller Archetypen italienischen Beispiels aufeinandertreffen und sticht mit der sanften Grausamkeit einer Hornisse im Cocktailkleid in diesen verhärmten Haufen Mensch.

Ein Haufen, bestehend aus der in dieser Wüste zurückgezogen lebenden, alternden britischen Diva Crystal (Susan Scott), dem von ihr als Liebhaber ausgehaltenen falschen Hippie-Guru Antonio (Al Cliver), dem Topmodel Emmanuelle (Laura Gemser) mit ihrem ausbeuterischen Freund und Fotografen Carlo (Gabriele Tinti), dem ergreisten homosexuellen amerikanischen B-Schauspieler Hal Burns (Feodor Chaliapin) und Crystals bisexueller Tochter Laure (Annie Belle), die ihnen allen frisch-frech-frei den Spiegel vorhält.



In diesem vor unbestechlich und aufrichtig mitleidiger Langeweile glänzenden Spiegel sehen wir (Jess) Francoesk schleierhafte Visionen mechanischer Liebesakte zwischen den berühmten Gästen und dem als Sexsklaven gehaltenen ägyptischen Diener Ali.

„Der Samt, auf dem die Lust und die Laster der Menschheit liegen, ist so schwarz wie die Nacht.“

Wir sehen in diesem Spiegel Carlo, der wütend schreiend und unnachgiebig fordernd enorme Lust daraus zu ziehen scheint, Emmanuelle mit Tierkadavern, zwischen Leichen ermordeter Beduinen und auf Dunghaufen zu fotografieren. Ein Shooting mit verwesenden Koyoten erregt ihn so sehr, dass er Emmanuelle vor den Augen von Laure zwischen den Wüstenklippen vergewaltigt.
Wir sehen Hal inmitten seiner ägyptischen Lustknabenschar, wie er sich als paternaler Zar dieser traurigen Gemeinde inszeniert, die Schmach einer zweitklassigen Karriere in klassische Glorie verwandelnd. Und wir sehen immer wieder in pausierenden, wortentsättigten Fragmenten, in den Strömungen zwischen Sonnenlicht und Wind, den Abgrund, der diese frustrierten westlichen Furien und ihre einst makellosen, nun unter der Marter der Selbstverachtung erodierenden Körper, trennt von der stoischen Wüstenlandschaft, ihrer unausweichlichen Ruhe und ihren der Erosion widerstehenden Körpern, die vielleicht ein wenig für das Archaische stehen könnten, das Pier Paolo Pasolini (dessen Roman „Una vita violenta“ Rondi 1962 mit Paolo Heusch verfilmt hatte) für sein IL VANGELO SECONDO MATTEO gesucht hat.

„Der Samt, auf dem die Lust und die Laster der Menschheit liegen, ist so schwarz wie die Nacht.“


Das jedoch behauptet Rondi glücklicherweise nie, so wie er sich überhaupt weder zu Behauptungen noch zur exploitativen Ausschlachtung des möglicherweise Behaupteten oder zum konkreten Exotismus hinreißen lässt. Ich werde an dieser Stelle nichts über die faszinierenden Figuren schreiben, denen Rondi zwischen all seinen suggestiven Attacken noch ein so unendlich würdevolles Profil verleiht. Über so etwas zu schreiben, das langweilt mich schrecklich. Rondi, der Drehbuchautor, beispielsweise, macht darum auch kein großes Aufhebens. Er, der Filmemacher, kreiert für seine gefallenen Sternchen einen in schützendes Dämmerlicht getauchten Planeten der Melancholie mit Namen Psyche-delos. Namensgebend allerdings die Figuren selbst, nicht ihre zahlreichen Wahnzustände.
Ihre gesamte Situation und ihr Verhalten selbst ist für Rondi ein Wahn, ein verführerisch-verzweifelter Sinnenrausch aus passiver Ohnmacht und der kühlen Luft, die, abgeschottet von der Hitze der Wüste, zwischen den Säulen der maurischen Paläste stillsteht. Kein Ärger, kein Triumph und auch kein wirkliches Mitleid – aber so etwas wie unabdingbare Empathie. Rondi kennt diese Typen zu gut, vielleicht von den Produzentenparties in Rom, vielleicht von den Dreharbeiten seiner teilweise starbesetzte(re)n früheren Filme.
Er sieht, im Sitzen, diesem irrealen Treiben geduldig zu und lässt seine Fantasie kreisen.
Ein bischen LA DOLCE VITA (einer der Fellini-Filme, an denen Rondi geschrieben hat) liegt in diesem kleinlauten Hedonismus. Ein Schatten grausamer Höflichkeit aus CHINESISCHES ROULETTE. Und eine wellenförmige Linie der Verschmelzung nach dem Vorbild der beiden großen Wiener Meister des erotischen Exotischen: Fritz Lang und Josef von Sternberg.




Die schwer vermeßbare, im Schatten des abendlichen Dämmerlichts verborgene Transparenz der kaum jemals tatsächlich sexuell motivierten Vorgänge in diesem Film, diese Transparenz und Melancholie, die erst durch die Aussparung von Tragik provoziert werden kann, das ist: Oneironautisch.
Der zwischen postklassischer Kino-Elegie und modernem Ethnokitsch oszilierende Score des italienischen Popmusikers Dario Baldan Bembo: Camp an der Grenze zum Genie.

„Der Samt, auf dem die Lust und die Laster der Menschheit liegen, ist so schwarz wie die Nacht.“

Die bis in die Venen und Sehnen vollzogene Kopulation von Kitsch, Karikatur, Poesie, Politik, magischem und psychologischem Realismus ist: Eine Dreistigkeit, die größenwahnsinnig ein vertrauliches Zwiegespräch mit dem Zuschauer führt. Ob Er denn nicht gerne dieses erlogene Lied hören möchte?
Die aquarellen-gläsernen Scope-Bilder von Gastone di Giovanni, die die schönen Menschen in ihnen immer noch hässlicher und schmächtiger, aber auch wahrhaftig erscheinen lassen: Das ist ganz und gar von irdischer Scham und kunsthandwerklich vergifteter Milde befreite Kraft des Schangels.
Dieser Schangel ist: Das Werkzeug, das ein sinnliches Band knüpft zwischen der seidigen Kunstwelt, die die Figuren um sich errichtet haben, und dem sandigen, ausgepressten Land, in dem sie diese Welt errichtet haben.




Dieses Land bricht immer wieder mit unvermittelter Ungeduld in die Kunstwelt ein, dort, wo ihre Haut besonders dünn ist. Besonders dünn ist diese Haut dort, wo diesen auf dem Weg zu einem befriedigenden Exhibitionismus Ausgehungerten die Wahrheit des Triebes ins Schlingern geraten ist. Emmanuelle, der sadistischen Spiele von Carlo überdrüssig, kommt schließlich als ausschließliche Kunstfigur erst dann zu sich, natürlich nur beinahe, als sie inmitten einer von toten Beduinen übersäten Oase in Pose steht. Laura Gemsers knochiger Körper, so, wie man ihn bei Joe D’Amato nie gesehen hat. Trotzdem: Rondi ist, wie man in diesem im Grunde doch behutsamen Film pausenlos bestaunen kann, weder ein Moralist, noch ein Polemiker. Die Haut mag zwar dünn und empfindlich sein, aber die Präsenz des Todes wird sie bestimmt nicht reißen lassen. Nur tiefer schlafen in der Mittagshitze und in der Abenddämmerung noch müder aufwachen.
Ein melancholironischer Triumph reueloser Sexploitation – Sexistenzialismus? – und ein vollseidener Film über halbseidene Menschen. Sowie, ich erwähnte es bereits und erwähne es nun nochmals für meine Fans, oneironautische Ultrakunst von enigmatischer Größe.


VELLUTO NERO – Italien 1976 – 95 Minuten – Farbe, Scope
Regie und Produktion: Brunello Rondi – Drehbuch: Brunello Rondi, nach einer Idee von Ferdinando Baldi – Kamera: Gastone Di Giovanni – Schnitt: Bruno Mattei – Musik: Dario Baldan Bembo
Darsteller: Nieves Navarro (als Susan Scott), Laura Gemser, Gabriele Tinti, Annie Belle, Pierluigi Conti (als Al Cliver), Feodor Chaliapin jr., Tarik Alí, Sigrid Zanger (als Ziggy Zanger), Mario Lenzi, Wallaa Leila



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11 Antworten zu “Schwarzer Samt (1976)”

  1. Alexander S. on Mai 20th, 2011 at 14:42

    Ja, ja, Schreibblockade, nä… 😉

  2. Whoknows' Best on Mai 20th, 2011 at 15:49

    Deine Texte sind ein Genuss. 🙂 Wären es die Fime, über die du schreibst, doch nur auch…

  3. Christoph on Mai 21st, 2011 at 21:06

    @ Whoknows:

    Wenn ich deinen Kommentar ernstnehme, ist es einer der deprimierendsten, den ich bisher unter einem meiner Texte vorfinden durfte, trotz des eingeschlossenen Lobes.
    Bitte straf mich Lügen und sag mir, dass dahinter mehr als bloße Vorurteile stecken. Sag mir, dass du diesen Film gesehen hast, es sich daher um ein harmloses, persönliches „Geschmacksurteil“ handelt oder du dir zumindest in Kenntnis anderer, deiner Auffassung nach vergleichbarer Filme zutraust, VELLUTO NERO filmhistorisch einordnen zu können.
    Eigentlich habe ich ein Stück weit sogar eigens für Leser wie dich mehrmals im Text auf Brunello Rondis Arbeit mit Regisseuren wie Rossellini, Pasolini und Fellini verwiesen. Und eigentlich dachte ich auch, zumindest vage angedeutet zu haben, dass in diesem Film eine mit der Arbeit dieser Regisseure eng verwandte Haltung über die Leinwand wandert.

    @ Alex S.:

    Wenn ich alle zwei Monate einen Text schreibe, so zeugt das in meinem Fall von einer akuten Schreibblockade. Und wenn dann noch jeder zweite dieser wenigen Texte zur Hälfte aus schriftlichem Haareraufen über das Geschriebene besteht…!
    Ich habe früher, in meiner Eiszeit, phasenweise bis zu 10 Texte im Monat rausgehauen. Dagegen ist mein derzeitiger Output wirklich beklagenswert dürr.
    Ich hoffe, du hast dir auch den ultraschangeligen Trailer unter dem Text zu Gemüte geführt?;-)

  4. Whoknows' Best on Mai 22nd, 2011 at 15:47

    Du hast eine dem Schweizer in die Wiege gelegte Schwachstelle aufgedeckt: Wenn er zum vornherein davon „überzeugt“ ist, mit einem bestimmten Film sei nichts anzufangen, unterstellt er diese Haltung auch anderen und liest in ihre Hymnen jene Gabe hinein, um die er sie so beneidet: die der Ironie. Ähnliches ist mir neulich auch mit meinem Co-Admin, der sich wahlweise Manfred Polak oder Nostradamus nennt, passiert, als ich ihm einfach die Krimi-Serie, die er in seine DÖS-Top-Ten aufnahm, nicht glauben wollte. Seine Rache ist bitter und wird ihren Höhepunkt darin finden, dass ich mir allabendlich eine Folge des „Kommissars“ anschauen muss. Bitte verzeih wenigstens du mir. Ich bin doch nur ein Schweizer.

    @Schreibblockade

    Der Held in einem Film, den ich in drei, vier Wochen besprechen möchte, hatte auch eine – und holte sich dennoch das leidenschaftlichste Wesen, das man sich vorstellen kann (auch wenn sie am Ende dem Wahnsinn verfiel).

  5. Christoph on Mai 28th, 2011 at 13:49

    Immerhin, du bist geständig. Ob dich das wirklich augenblicklich, äh, entnazifiziert ist zwar fraglich, denn natürlich besteht nach wie vor der beunruhigende Eindruck von geschmäcklerischer Kanontümelei. Aber Ehrlichkeit ist eine der erotischsten Tugenden überhaupt – weswegen VELLUTO NERO beispielsweise ein ziemlich unerotischer Film ist, da er so ehrlich bleibt und Ehrlichkeit sich bekanntlich kaum je materialisiert – wenn auch besonders oft in Form von nackten Frauenkörpern, nehme ich an.

    Ich kann mir jedenfalls Rondis neorealisierende Hexenjagd IL DEMONIO (1963) sehr schön als schriftlich liebevoll ausdekoriertes Gebäckstück in der filmgeschichtlich vorbildlich am „Reclams Filmlexikon“ entlangarbeitenden Keksdose des Whoknows-Blogs vorstellen. 😀

    Und die mannigfaltigen, fast immer ausschließlich im tiefen Tal der nationalunheiligen Ambivalenz voll zu genießenden Qualitäten von DER KOMMISSAR, über den bloßen, aber dafür in dekadenten Mengen auf den heutigen Zuschauer herniederprasselnden Zeitkolorit hinaus, können aufgrund der Mitwirkung zahlreicher enorm aufregender Schauspieler-Unikate, sinkender Beinahe-Meisterregisseure (und teilweise auch wahrer Meisterregisseure, z. B. Zbynek Brynych und Helmut Käutner) und eines Jahrhundert-Komponisten wie Peter Thomas kaum ernstzunehmend angezweifelt werden. Dominik Graf sagte vor Kurzem, er habe sich als junger Regisseur immer davor gefürchtet, einmal als Regisseur bei einer von Helmut Ringelmanns Krimiserien zu landen – und dass eben diese Ringelmann-Serien heute aber immer besser würden. Er hat recht! Der Mief ist tot*, es lebe sein Irrsinn!
    Ich lasse mich derzeit ebenfalls von ihm besudeln, allerdings nur sehr vorsichtig vom sicheren Ufer in Form der künstlerisch besonders hervorstechenden DERRICK- und DER ALTE-Episoden von Brynych und Alfred Vohrer.

    @ Schreibblockade:
    Während der letzten zwei Monate habe ich wohl schlicht zuwenige postmoderne Filmtexte gelesen, um mich ausreichend zu inspirieren. Daher verschlinge ich gerade wieder einiges, vorzugsweise von Autoren, die ich als ähnlich übertrieben, fragwürdig und maßlos empfinde wie mich selbst.
    Du gehörst leider nicht dazu, aber das wäre in diesem Fall beinahe so etwas ein Kompliment. 😉

    * Natürlich nicht – schön wär’s.

  6. Whoknows' Best on Mai 29th, 2011 at 22:06

    Wer weiss: Vielleicht war es einer der grossen Irrtümer der 70er Jahre, in denen ich vom Bubi zum Jungmann degenerierte, das für künstlerisch wertlos zu halten, was euch heute packt? Es waren neben dem „Kommissar“ eben zum Beispiel diese italienischen Filme, die man in einem Double Feature-Kino auf dem Land als Vorfilm „über sich ergehen lassen musste“, bevor man in den Genuss von „Les valseues“ kam – und die per definitionem schlecht waren. Eigentlich angenehm, einfach seinen Geschmack ausschalten zu können und einen Film gar nicht hinterfragen zu müssen.

    Jetzt, im unwürdigen Alter von 53 Jahren, ist es natürlich schwer, noch masslos zu sein. Man ist verdammt froh, überhaupt noch halbwegs vor sich hin zu vegetieren (mein unwürdiges Blog liefert mir gelegentlich Indizien dafür, dass ich es noch tue). Das Alter hat zumindest zu einer Einsicht geführt: Das, was ihr heute als „postmodern“ empfindet, wird vermutlich später auch nur als Anhang, als Zipfelchen der Moderne betrachtet, die sich so sehr bemühte, mit immer neuen „Methoden“ zu glänzen, denen sie etwa so schöne Namen wie „Dekonstruktion“ verpasste – die sich aber im Grunde in ihrer Zielsetzung immer ähnelten („immanente“ Vorgehen boten sich etwa den „Schuldigen“ prinzipiell als Inseln an, auf denen sie ihre „Schuld“ verbergen und vergessen konnten – weshalb ich eben langweilig und für den heutigen Leser scheinbar altmodisch den auch nicht unschuldigen Kontext miteinzubeziehen versuche).

    Ach ja: Warum ich mich als verspäteter 68er jedem orgiastiscnen Irrsinn zu entziehen versuche: Er wird in der Schweiz seit Jahren zelebriert – und zwar nicht mit nackten Frauenkörpern, die mich ohnehin nur auf der Leinwand „interessierten“, eigentlich überhaupt nicht mit Werken, denen man etwas Künstlerisches abgewinnen könnte (es sei denn, man wäre dekadent genug, einen Christoph Mörgeli zum neuen Schönheitsideal zu erheben). Der Irrsinn ist nämlich, falls er das nicht schon immer war, zum Privileg der Reaktionären geworden, der Berlusconis der Schweiz, deren herausragender ein Christoph Blocher, Milliardär und von seinen Anhängern als „Führer“ bezeichnet, ist (ich beneide dich also nicht um deinen Vornamen). – Es kommt mir also gerade so vor, als würde ich mich, lieferte ich mich in diesen Tagen dem Masslosen aus, Bewegungen anschliessen, die —

    Nun ja, auch dies sind vermutlich nur die Befürchtungen eines alten Mannes, der nicht mehr anders kann – was den Keksdosencharakter seines Blogs erklärt. 🙁

  7. CSK on Juni 18th, 2011 at 11:25

    Unglaublich, was Ihr immer wieder ausgrabt. Mal wieder ein Film, von dem ich noch nie gehört hatte.

    Wenn die OFDB nicht irrt, hat es der Steifen ja überhaupt nicht nach Deutschland geschafft. Was ich nicht so ganz verstehe, denn zu jener Zeit hat der Name „Laura Gemser“ allein schon gute Einspielergebnisse in den Bahnhofskinos garantiert. Und in Verbindung mit dem Etikett „Emanuelle“ erst recht.

  8. vannorden on August 4th, 2011 at 18:59

    Habe es endlich am letzten Mittwoch geschafft mir Velluto Nero anzugucken und bin hin und weg. War Erotik im Beruf ein Meer aus Ödnis, in dem ich hilflos unterging und das glücklicher weise keine schwereren Schäden hinterlies (während des Films war ich mir nicht so sicher, welch ein Erlebnis), und Elvira Madigan zu schön, zu körperlos, zu vergeistert, (San Babila hab ich immer noch nicht auftreiben können), … aber endlich zur Sache, Velluto Nero war zum dahin schmelzen schwül und unschlagbar in seinem manischen Schwelgen. So wie Pasolini in den siebzigern hätte sein sollen.

    Habe eine größtenteils englische Synchronisation gesehen, mit den englischen Untertiteln zur italienischen Synchronisation. Was interessant war, weil die englisch Spur deutlich verkommener war, als das was drunter stand. Nur mal so.

  9. Christoph on August 6th, 2011 at 05:09

    Du hast dir den Film doch nicht etwa wirklich angesehen, weil du meinen Text gelesen hast, oder? Wenn dem so ist, freut mich das natürlich sehr.;-) Um es mit einem verfremdeten Stefan George-Zitat zu sagen: „Es muss doch das Ziel eines jeden Filmschreiberlings sein, seine Zeitgenossen zu inspirieren und zu interessieren, sei es am Film oder an seinen Ausschüttungen.“

    Ich hoffe, dass der liebe Whoknows (über dessen letztem Kommentar mir die Hutschnur einige Male im Stakkato gerissen ist – so sehr, dass ich eigentlich beschlossen hatte, darauf nicht weiter einzugehen, da ich auf diesem Niveau – bei allem Respekt – schlicht nicht diskutieren will, geschweige denn kann) deine Worte zur Kenntnis genommen und angefangen hat, seine vorurteilsschwangeren Ausführungen auf ihre Beständigkeit hin abzuklopfen. VELLUTO NERO ist selbstverständlich alles andere als ein Schmuddelfilm (es sei denn, man will es um jeden Preis…) und der Sex, den er zeigt, vermutlich größtenteils recht weit von den Vorstellungen begieriger, einsamer Männer entfernt.

    Dein Pasolini-Vergleich (der sich direkt zu meinem indirekten hinzugesellt) trifft nicht so sehr aufgrund der frühen Zusammenarbeit zwischen ihm und Rondi ins Schwarze, er scheint mir vor allem schlüssig, wenn ich mich an das verzweifelte filmische Frustfressen erinnere, als die ich vor einigen Jahren EROTISCHE GESCHICHTEN AUS 1001 NACHT (der einzige Pasolini, der mir gar nichts gegeben hat) empfunden habe. Nach diesem so händeringend gewollten, letzten Versuch seiner Beschwörung der „reinen und sinnenfreudigen“ Sexualität als Ideal (an das er, dieses Eindrucks konnte ich mich in keinem Moment erwehren, zum Zeitpunkt der Dreharbeiten offenbar längst nicht mehr so recht glauben konnte, so sehr er auch wollte) passierte dann einigermaßen plötzlich SALÒ, der allerdings die Ernüchterung, die der kompostierende EROTISCHE GESCHICHTEN schon ausdünstete, nur noch aussprechen, aber nicht mehr herleiten musste.
    Aber um wieder zu Rondi zurückzukehren: Was ich bei ihm, bzw. in seinen beiden mir bekannten Filmen, so aufregend finde ist, dass er sich angesichts dieser haarsträubenden, drastisch und äußerlich verquer existenzialistischen Motive völlig in der Schwebe und / oder auf Distanz hält. Es ist mir im Text nicht geglückt, dafür die „richtigen“, mysteriösen Worte zu finden, um diese Schwebe einzufassen – wie zärtlich oder grausam ist der Film eigentlich, wo endet sein flüchtigter Humor und wo beginnt sein Zynismus, wie nah lässt Rondi diese Figuren an sich heran, beobachtet er sie vielleicht doch nur durch einen Feldstecher, ist der Film vielleicht nur eine trippige Farce oder gar ein Vielfaches mehr dessen, was ich in meinem Text zu skizzieren versucht habe? Widersprüchliche Impulse, soweit das Auge reicht, die man aber eigentlich gar nicht recht durchstoßen mag. So, wie sie ihn ummanteln, ist der Film noch soviel spannender. Aber auch ein undankbares Rezensionsobjekt, wie ich beim Schreiben dieses Kommentars noch einmal schmerzhaft spüre… Ich muss endlich mal meinen seit beinahe einem Jahr brachliegenden Text zu LE TUE MANI SUL MIO CORPO veröffentlichen. Irgendwie – wenn ich nur wüsste, wie! – habe ich es dort geschafft, diese Widersprüchlichkeiten in eine kohärentere Form zu pressen, ohne sie aufzulösen. Coming soon, hoffe ich.

    Ich habe ihn übrigens auch italienisch mit Untertiteln gesehen, für mich auch die einzige gänzlich zufriedenstellende Variante – die englischen Synchronfassungen italienischer Filme sind meist nicht nur wesentlich gröber und teilweise bis zur Unkenntlichkeit vom Original – als das die italienische Fassung letztlich doch gelten muss, ist doch von allen Fassungen meist die zuverlässigste und / oder einzige vom Regisseur abgenommene – abweichend sondern in der Regel auch steril, mechanisch, selbst für das synchronisationsgewöhnte Ohr des Deutschen eher unerquicklich. Ich leide inzwischen meist sehr, wenn ich aufgrund von Seltenheit oder Geiz eines DVD-Labels gezwungen bin, eine englische Fassung zu ertragen, vorrausgesetzt dass nicht ein überwiegend amerikanischer Cast sich selbst synchronisiert hat (was sehr selten der Fall ist.)

    Und was hat nun nicht gestimmt mit ELVIRA MADIGAN? Oder habe ich da was missverstanden?
    Die Hofbauer-Verstimmung scheint mir nun wiederum im Wortlaut vertraut, daher möchte ich da nicht weiter nachbohren. Das Hofbauer-Kommando weiß, wie verschlungen, verzweigt und glitschig der weite Weg zur gefühl- und verständnisvollen Erleuchtung ist. Hofbauer muss man fühlen!-)
    (Gestern habe ich zusammen mit Andreas noch einmal COMIZI D’AMORE gesehen, der bezeugt, dass Pasolini der leibliche Vater des sozialschmierigen Reportfilms war und sich die Wahl seiner Mittel, mögen sie auch inszenatorischer sein, durchaus zur linksintellektuellen italienischen Wurzel zurückverfolgen lässt. Der Hofbauer-Diskurs bleibt also spannungsreich und dringt nunmehr auch in filmhistorisches Terrain vor.)

  10. vannorden on August 7th, 2011 at 15:44

    Natürlich habe ich es wegen dem Text gelesen. Hab von dem Film vorher nie gehört gehabt. Und ich fand vor allem das unfertig, dass nicht gebändigte toll, dass du eben nicht geschafft hast, „diese Widersprüchlichkeiten in eine kohärentere Form zu pressen“. Der Text lies auf Überwältigung schließen und das möchte ich von Filmen, dass sie mich überwältigen.

    Was mich bei Pasolini zum Beispiel bei Salò stört ist einfach, dass er so kalt und uninteressiert geworden ist. Vll lag es auch daran, dass mir kurz vor der Sichtung aus den 120 Tagen von Sodom vorgelesen wurde, vll lag es am Buch/Film-Vergleich, aber bei Medea schien er mir noch viel mitgerissener. Und gerade auch das fand ich bei Velluto Nero wieder. (und ich hab spontan geguckt, ob der Editor mal in der zweiten Hälfte der Sechziger für Pasolini gearbeitet hat, dem war aber nicht so. Diese Art leicht unkontinuierlich zu schneiden, hatte mich eben an Pasolini erinnert und war auch für mich, neben der Musik, einer der Triebfedern dieser unfassbar überspannten Stimmung)

    Was mich an Elvira Madigan gestört hat, wobei ich ihn nicht schlecht fand, bei weitem nicht, war … sagen wir, ein Professor der soziologischen Theorie wollte mal einen Freund von mir dazu überreden, sich weiterhin in eben der Theorie zu engagieren und nutzte dafür die Worte: „Machen sie sich nicht an der Wirklichkeit die Hände schmutzig.“ und so fanatastisch ich diesen Ausspruch in dem Zusammenhang finde, stört er mich bei Elvira Madigan. Widerberg inzeniert großartig und ich werde die Bilder am Anfang wohl nicht so schnell los, weil er beeindruckend schön dieses unfassbare Glück einfängt und dann den Einbruch der Wirklichkeit in immer dunkleren Farben darstellt. Ich sah so nicht nur, dass sie, durch dieses gleisende Glück, die kleinen Widrigkeiten des Lebens nicht mehr ertragen können und sich selbst umbringen mussten, sondern es war geradezu logisch nachzufühlen. Sie können sich nicht mehr an der Wirklichkeit die Hände schmutzig machen. Soweit ist der Film großartig, aber ich kann zu diesem Gefühl keinen Verbindung aufbauen. Zu körperlos und unweltlich erscheint mir dieses Glück. Mir fehlt der Schmutz. Dieses unendlich Glück finde ich unbehaglich. Und die daraus folgende Lösung des Selbstmordes, so nachvollziehbar sie ist, uninteressant. Dann lieber Cioran mit seinem lächerlich überzogenen Hass auf das Leben, das er als Tal des Leidens ansieht. Doch durch den Gedanken des Selbstmord das Leben erträglich findet. Aber egal, so ganz lösen kann ich mich noch nicht von Elvira Madigan und werde ihn bestimmt nochmal gucken. Vll finde ich dann eine mich ansprechendere Perspektive.

    Was Erotik im Beruf schließlich anbelangt, bin ich immer noch fasziniert. Genrell bin ich fasziniert von Faszinationen, weshalb ein Teil von mir befürchtet, dass ich ihn nicht das letztemal sah. Was ich vor allem unfassbar (nicht nachvollziehbar und deshalb spannend finde), dass es gerade der Film ist. Ich kenne ja einige Reports von Hofbauer und die waren alle ok, auch wenn ich da keine Faszination für spürte, aber Erotik im Beruf war wirklich knallhart … den habe ich kaum ausgehalten, aber vll finde ich auch noch den glitschigen Weg. Und wie gesagt, habe ich auch etwas Angst, dass ich ihn suchen werde. 😉

  11. Mr Djax on Dezember 22nd, 2012 at 00:03

    Lieber Christoph,
    Vielen Dank für Deine Worte zu dem Film.
    VELLUTO NERO gehört ins Pflichtprogramm und ist auf italienisch noch weitaus erotischer als in der englischen Fassung.
    Laura Gemser ist und bleibt die Göttin der Exploitation-Filme!

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