Night Train to Venice (1996)



Venedig ist keine gewöhnliche Kulisse für einen Film. Gerade was die dunklen Seiten der Menschen angeht, scheint die Stadt mehr als geeignet, diese offenzulegen. Vielleicht liegt es an der verwirrenden Infrastruktur oder an dem ganzen Wasser, aber Filme wie „Don’t look now“ oder „The Comfort of Strangers“ suggerieren das Bild einer Traumstadt, die niemals wirklich ist, niemals greifbar. Menschen verschwinden im Nebel. Menschen tauchen unter in der Postkartenidylle, der sie ja doch nicht trauen. Tauchen unter in den historischen Stätten, die ihre eigenen Geheimnisse verschlingen.
Die meisten Venedig-Filme haben die Gemeinsamkeit, das Irreale und den Wahnsinn spürbar zu machen. Und der Wahnsinn hallt nach. Vor allem bei „Night Train to Venice“, ein Film wie ein schlechter Traum.

„Carnival in Venice is another form of reality. A view into another dimension of loneliness.“

Ein Zug auf dem Weg nach Venedig. An Bord: Hugh Grant, der so tut, als wäre er ein Journalist. Malcolm McDowell, dessen bizarre Blicke den Begriff Overacting neu definieren. Die „Old Lady“ (laut den Vorspann-Credits) Kristina Söderbaum, Veit Harlans Ehefrau und Muse in ihrer letzten Rolle. In den Abspann-Credits jedoch: „Old Woman (Eufemia)“. Und dann noch eine alternde Tanzdiva, eine lebende Aphorismusmaschine: „Youth – it’s like a nightmare“. Oder: „I’m not afraid of death but of living too long.“ Und dann: die Neo-Nazis. Und dann: der Transvestit, der sich als Edith Piaf verkleidet, und einen Playbackauftritt im Nachtexpress hinlegt.

„Why are they so brutal? Didn’t they remember what happened years ago?“

Die Nazis mischen den Zug auf, die Diva erinnert sich an eine barbarische Zeit, und Hugh Grant, der, das wurde nie so deutlich wie hier, immer nur Hugh Grant spielen kann und muss, versteckt eine Diskette. Wird aus dem Film ein Spionagekrimi? Die Diskette als McGuffin? Grant als unbedarfter Hitchcock-Held, dem Unerhörtes widerfährt? McDowell als finster gestimmter, sardonischer Gegenspieler? Mitnichten. Der Film etabliert Handlung, die er nur halbherzig verfolgt. Wichtiger sind die inflationären Parallelmontagen, die suggestiven Schnitte, die bizarren Traumsequenzen, das Feuerwerk der Blicke. Geschwafel über Venedig, Liebe, Tod. Orgienszenen. Verrückte Symbolik. Metaphernwust.

„They say, Venice is full of surprises.“

Irgendwann kommt der Zug in Venedig an. Dann dominiert die entfesselte Kamera, die scheinbar den POV eines geflügelten Monstrums annimmt, das durch die unheilvolle Stadt zieht.
Die Nazis halten ein Treffen ab. Und verbrennen Bücher. „Fatherland“ von Robert Harris. Günter Grass. Susan Sontag.
Hugh Grant verliert sein Gedächtnis.
Der Zuschauer seinen Verstand.

„It’s only in your dreams.“

„Night Train to Venice“ ist wie jemand, der sich dermaßen auf einer Party gehen lässt, dass man unfassbar peinlich berührt ist, aber dennoch nicht aufhören kann, denjenigen anzustarren, aus einer Faszination heraus, auf die man nicht wirklich stolz ist. Ein einzigartiger Kunst-Trash, aber auch ein zerrissenes Stück Zelluloid, das im Grunde aus zwei Filmen besteht: der eine Film beschäftigt sich mit der schicksalshaften Begegnung in Venedig. Der andere behandelt auf essayistische und flexible Art und Weise die Deutsche Vergangenheitsbewältigung. Das lässt auf Querelen hinter den Kulissen schließen. Und tatsächlich: Regisseur ist ein gewisser Carlo U. Quinterio, sehr umtriebig im Filmgeschäft, vor allem als Second Unit Director. Sein erster Spielfilm als Regisseur heißt „Sindrome Veneziana“ (in dem David Hess und David Brandon mitspielen; vermutlich ein Giallo). Doch den Credit „A Film by“ bekommt stattdessen Produzent, Ko-Autor und Second Unit-Director Toni Hirtreiter. Der andere Ko-Autor Leo Tichat hat mit Herbert Vesely gearbeitet, und „Die Verwundbaren“ gedreht, einen Film, der zur österreichischen Nouvelle Vague gezählt wird.
Als hätte man den Regisseur nur aufgrund seiner Venedig-Erfahrungen ausgewählt, und (wahrscheinlich gegen seinen Willen) versucht, die Aufarbeitung des Nationalsozialismus in den Film einzuweben.
Ein Venedigexperte. Ein Produzent aus dem Nichts. Ein ambitionierter Drehbuchautor. Ein filmisches Durcheinander.
Die einzige Info, die das Internet über den Film ausspuckt, ist, dass Hugh Grant gesagt haben soll, dies wäre der schlechteste Film, an dem er je mitgewirkt habe. Dann hat er wohl seine jüngsten Filme nicht gesehen.

„Night Train to Venice“. Ein Schnittdesaster, das leider nur im falschen Bildformat erhältlich ist. Eine teils bildgewaltige Phantasmagorie deutscher Reue. Ein verstecktes Remake von „Don’t look now“. Eine zweifelhafte Liebeserklärung an Venedig(-filme). Vielleicht auch nur der Fiebertraum eines Zugschaffners. Definitiv ein gescheitertes Projekt. Aber interessant gescheitert.

 

Einige Momente des Wahnsinns:

Dieser Beitrag wurde am Donnerstag, November 22nd, 2012 in den Kategorien Ältere Texte, Blog, Blogautoren, Filmbesprechungen, Sven Safarow veröffentlicht. Sie können alle Kommentare zu diesem Beitrag über den RSS 2.0 Feed verfolgen. Sie können diesen Beitrag kommentieren, oder einen Trackback von ihrer eigenen Seite setzen.

Eine Antwort zu “Night Train to Venice (1996)”

  1. Daniel B. on November 22nd, 2012 at 22:53

    Diesen Film habe ich vor Jahren einmal zufällig gesehen. „Interessant gescheitert“, in der Tat. Auf jeden Fall eine einzigartige Seh-Erfahrung. Ich kann mich hauptsächlich noch an unendlich viele Außenaufnahmen des Zuges erinnern und daran, dass Hugh Grant gegen Ende durch eine Glasscheibe hechtet, die just im ungünstigsten Augenblick durch die Gegend getragen wird.

Kommentar hinzufügen