100 Deutsche Lieblingsfilme #44: Großstadtmelodie (1943)



Am Anfang sind wir gleich in Bayern, mitten auf dem Land, in einer Kleinstadt. Trachten, Feste, Volksmusik, und ein Familienessen, wie es im Heimatfilm der 50er Jahre hundertfach zu sehen sein wird. Großstadtmelodie ist ein Heimatfilm. Doch die Heimat liegt in der Fremde. Dem Zuhause, dem Ort wo man geboren, wo man aufgewachsen ist, wollen viele entfliehen. Er kann einengen, verhindern etwas zu sein, das zu sein, was man ist, oder das man werden möchte, werden könnte. Jeder kennt einen, jeder beobachtet einen, jeder kommentiert einen. Und bevor man sich versieht, glaubt man vielleicht selbst an das Bild das die Anderen von einem haben. Man passt sich an, man fügt sich ein.

Renate Heilberg ist so jemand, der hinaus will, um die Heimat zu finden. Sie geht nach Berlin. Zunächst aber erklärt sie noch ihrem Freund, dass das mit Ihnen beiden nichts wird, und dass er doch lieber ihre Schwester heiraten soll. Ganz ehrlich sagt sie das, ganz mitfühlend. In Berlin ist sie dann natürlich ein Niemand. Sie weiß aber, was sie will: Fotografieren. Im Gegensatz zu vielen anderen Geschichten von Menschen die Ausziehen das Leben zu lernen, muss Renate aber nichts mehr lernen. Sie weiß im Grunde schon alles, kann auch alles. Nur die Anderen wissen es noch nicht. Am zwischenzeitlichen Höhepunkt des Films ist sie im Auftrag der Presse bei einem Radrennen, soll fotografieren, ist zunächst mit der Vorgabe ein wenig überfordert, die vielen Eindrücke, die Menschenmassen, die an ihr vorbeiflirrenden Radfahrer. Doch dann fängt sie sich, als sie erkennt, was sie gesucht hat: In der Menschenmenge wird sie eine von uns, und schaut durch ihre Kamera den Zuschauern beim Zuschauen zu.

Impressionen, kurze prägnante Eindrücke. Der halbe Film besteht daraus. Die zweite Hälfte dreht sich um Renates Innenleben, um ihr Verarbeiten dieser Eindrücke. Mein liebster Moment kommt, als sie in der Mitte des Films aus Geldnot ein Angebot an einer Revue als Statistin mitzuarbeiten annimmt. In ein Bonbonkleid eingewickelt, wird sie in der Probe sofort auf die Bühne geschoben. Während Sie allein dort steht, im Blitzlichtgewitter von zwei Dutzend Pressefotografen, fängt sie an zu weinen. „Die dürfen alle“ sagt sie, „und ich…“.

Zu Hause ist da, wo man sein will. Wo es einen hinzieht. Für Renate ist das die Arbeit, ist das die Fotografie. Verlieben tut sie sich zwar auch, in einen berühmten Fotografen. Dem muss sie aber auch alles beibringen. Überhaupt trifft man im Film kaum Berliner. Alle sind sie irgendwann dorthin gekommen um ihr Glück zu machen. Die Stadt wird von Außen betrachtet, und ist eine Hymne an ihre vielfältigen Bewohner. Ein Großstadtfilm. Ein Liebesfilm über die Großstadt, in dem die Straßen und Häuser die Wiesen und Berge ersetzen.

Eigentlich ist der Film ganz banal. Er fordert Selbstverständliches und zeigt einen idealisierten und geglückten Lebenslauf. Selbstverwirklichung und Selbstbestimmung als erstes Gut. Danach kommt der Rest. Inszeniert ist das wie eine Alltagsutopie, wie ein Erweckungserlebnis das sich im Kopf der Protagonistin vollzieht. Eben ein Heimatfilm. Aber keine Rückkehr, sondern ein Aufbruch. Freiheit weht durch Berlin, 1943, man mag es kaum glauben: Die Stadt der unbegrenzten Möglichkeiten. Ich mache mir die Welt, so wie sie mir gefällt. Wenn Großstadtmelodie ein Propagandafilm ist, dann ist er einer der perfidesten.

Für mich ist es ein Film über das Kino, die Träume und die Hoffnungen, verwirklicht durch das Kino. Der Glaube an das Bild. Die Entdeckung und Umgestaltung der Welt durch das Bild. Oder um mit einer anderen Beobachtung von Bazin zu schließen: „Alle Künste beruhen auf der Gegenwart des Menschen, nur die Fotografie zieht Nutzen aus seiner Abwesenheit.“

Großstadtmelodie – Deutschland 1943 – 108 Minuten – Regie, Drehbuch: Wolfgang Liebeneiner – Produktion: Heinrich Jonen – Kamera: Richard Angst, Walter Pindter, Leo de Laforgue – Schnitt: Marte Rau – Musik: Werner Bochmann, Michael Jary, Rudolf Perak – Darsteller: Hilde Krahl, Werner Hinz, Karl John, Viola Zarell, Hilde Weissner, Will Dohm, Otto Graf, Paul Henckels, Marlies Bieneck

Dieser Beitrag wurde am Donnerstag, November 15th, 2012 in den Kategorien Blog, Blogautoren, Deutsche Lieblingsfilme, Filmbesprechungen, Sano veröffentlicht. Sie können alle Kommentare zu diesem Beitrag über den RSS 2.0 Feed verfolgen. Sie können diesen Beitrag kommentieren, oder einen Trackback von ihrer eigenen Seite setzen.

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