goEast 2017 Teil 2 – Ein ferner Traum vom Kino



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Es geschah während der Aufführung des Omnibusfilms Rossiya kak son / Russia as a Phantasma. Hinter mir klingelte ein Handy. Das hört man schon mal öfter im Kino. Nicht so oft hingegen hört man daraufhin: „Да? (Pause) В Kино! (Pause) В Висба́дене!“
Die weißhaarige alte Frau hinter mir begann einfach zu telefonieren. Sie sprach Russisch und erzählte der Person am anderen Ende der Leitung wo sie sich gerade befand und von dem Film, den sie sich gerade ansah. Zur gleichen Zeit erzählte eine ähnlich alte Frau in einer der vielen Episoden des Films von einem familiären Todesfall. Hinter ihr befand sich eine Pinnwand. Eine der Anzeigen darauf las sich folgendermaßen: „Wir kaufen Haare an!“
Das war mehr, als ich in diesem Moment verarbeiten konnte. Aber so ist das manchmal im Kino.

Der nachfolgende Film, Ivan Ramljaks Kino Otok / Islands of forgotten Cinemas zeigte verlassene kroatische Kinos und was aus den Sälen geworden ist, die sie beheimateten (zum Beispiel: Yogastudios, Übungsräume für Blasmusikkapellen und Männerchöre). Dazu erzählten steinalte Kinovorführer von ihrer damaligen Arbeit. Einer redete davon, dass das Screening von zwei schwedischen Sexfilmen (Bedroom Mazurka und Bedside Dentist) zwei tschechischen Kinobesuchern das Leben kostete. Die Aufregung hätte sie umgebracht. Es waren eben bleierne Zeiten. Heute nur noch ein ferner Traum.

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Am Tag davor sah ich Vitalij Maskijs neue Dokumentation Rodnye / Close Relations, die die schwierigen Familienverhältnisse des Regisseurs nach Beginn des Ukrainekonflikts beleuchtet. Beinahe mühelos zeichnet Manskij großartige Porträts seiner Verwandten, zerrissen von geopolitischen Ränkespielen und vagen Zugehörigkeitsgefühlen. Ein Film, der, trotz seinem erzählerischen Drive und seinem hintergründigen Humor, dieselbe Melancholie ausstrahlt wie eine Elegie von Alexander Sokurow.
Auch bei dieser Sichtung saß eine ältere russische Frau hinter mir (nicht dieselbe). Sie war wohl eine Hobbymalerin, die einer jüngeren Frau von ihrer Kunst erzählte: „Mein Lehrer sagt, das sind Formen, die hätte er noch nie im Leben gesehen. Verstehen Sie, ich komme ja eigentlich aus der Physik. Die Kunst, die ich mache, sei absolut singulär, sagt er!“ So oder so ähnlich erzählte sie es und zeigte der jungen Frau die Bilder auf ihrem Smartphone. Heute bereue ich es, nicht selbst einen Blick riskiert zu haben. Was wir brauchen, sind Formen, die wir noch nie gesehen haben. Filmregisseure sind ihr Leben lang auf der Suche danach.
Zurück zu Manskijs Film, der nochmal verdeutlicht, wie leicht es ist, aus einer Gruppe von Menschen zwei zu machen. So einfach und natürlich wie Zellteilung. (Wie in der Schule, wo, wie durch Zauberei, aus einer Klasse zwei gegnerische Mannschaften werden, nur weil Fußball gespielt wird.) Und die Vergangenheit zählt plötzlich nicht mehr. Gefühle wie Freundschaft und Loyalität, eine gemeinsame Geschichte, all das wird zersetzt durch kryptische autoritäre Richtungsangaben. Zurück bleibt Verwirrung. Zersplitterung. Entfremdung. Die Sowjetunion, ein ferner Traum.

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Andrey Konchalovskys Ray / Paradise war ein Film, der mir Schwierigkeiten machte. Ein Film über den Zweiten Weltkrieg, ein Holocaustfilm, ein Nazifilm, der sein Thema genauso intelligent wie kunstvoll aufgriff – mit zweischneidigem Ergebnis.
Zuallererst sieht der Film, gedreht in schwarzweiß und dem 4:3-Bildformat, aus, als wolle er die visuellen Strategien von Pawel Pawlikowskis oscarprämierten Ida aufgreifen, nur ohne die strengen Dreyer’schen Anwandlungen. Das Ergebnis ist sichtbar schön und doch fragt man sich, wie kalkuliert diese Entscheidung war. Und überhaupt, warum soll dieser Film überhaupt schön aussehen? Ein Film, in dem es um ganz hässliche Dinge geht, um feige Kollaborateure, brutale Kapos, sadistische Nazis (einer davon besitzt einen Schäferhund namens Rex!), zweifelnde Nazis, und eine Moral, die jede Minute neu ausgemessen wird.
Interessant wie problematisch sind in diesem Zusammenhang auch die Szenen mit den deutschen Schauspielern. Der deutsche Dialog klingt ausnahmslos künstlich, geradezu scripted – vielleicht absichtlich? Der beim Screening anwesende Schauspieler Jakob Diehl erzählte, dass Konchalovsky ein „actor’s director“ ist, und dass ihm Performance und Improvisation sehr am Herzen liegen. Und doch ist der sprachliche Duktus der deutschen Schauspieler in diesem Film ein ganz anderer als der naturalistische der Franzosen und Russen. Die Deutschen wirken hier, als stünden sie auf einer Theaterbühne. Als würden sie die Nazis ganz bewusst darstellen, verkünstlichen, zu Musterbeispielen generieren. Um die Verwirrung komplett zu machen, hat man auch noch Obernazi Heinrich Himmler mit dem russischen Charakterdarsteller Viktor Sukhorukov besetzt. Wie passt das alles zusammen?
Die alte Frau, die gerne telefoniert, war übrigens wieder da, wir saßen diesmal sogar in derselben Reihe. Mittlerweile hab ich Gerüchte gehört, dass sie eine alte Filmemacherin aus der Sowjetunion sei. Akkreditiert war sie zumindest. Und dieses Mal trieb sie ihre Telefonexzesse bis zum Äußersten. Drei, vier Mal klingelte das Handy. Immer ging sie ran. Und das bei einem Film mit so delikatem Thema. Wie konnte sie nur? Andererseits half sie mir so einen kühlen Kopf zu bewahren und Distanz zu wahren zu einem Film, dessen Inhalt versuchte aufzuklären und dessen Bilder lieber verklären wollten. Ein Film, der gleichermaßen ein differenziertes wie klischeehaftes Bild der Nazis zeichnet, gleichzeitig um Authentizität und Künstlichkeit bemüht. Ein Film, der dazu einen hoch religiösen Überbau hat, der ihn besonders angreifbar macht (was wiederum mutig ist). Ein Film fürs große wie fürs Festivalpublikum. Effektiv wie effektvoll. Ein Film eines agilen, versierten Filmemachers. Aber wird er seinen eigenen Ansprüchen gerecht? Wenn ich daran denke, dass Paul Verhoeven fast dieselben Themen in Black Book auf brillante wie erschöpfende Art und Weise behandelt hat, muss ich das bezweifeln. Aber bei so einem Thema ist die Banalität des Bösen genauso präsent wie die Banalität der Abbildung des Bösen. Der Zweite Weltkrieg – fern, fast wie ein Traum.

Safarow schreibt

Dieser Beitrag wurde am Donnerstag, Mai 18th, 2017 in den Kategorien Aktuelles Kino, Ältere Texte, Blog, Blogautoren, Essays, Festivals, Sven Safarow veröffentlicht. Sie können alle Kommentare zu diesem Beitrag über den RSS 2.0 Feed verfolgen. Sie können diesen Beitrag kommentieren, oder einen Trackback von ihrer eigenen Seite setzen.

2 Antworten zu “goEast 2017 Teil 2 – Ein ferner Traum vom Kino”

  1. Manfred Polak on Mai 18th, 2017 at 23:12

    Die alte Frau, die gerne telefoniert, war übrigens wieder da, wir saßen diesmal sogar in derselben Reihe. Mittlerweile hab ich Gerüchte gehört, dass sie eine alte Filmemacherin aus der Sowjetunion sei.

    Schon bei deiner ersten Erwähnung der Dame dachte ich mir, das wird wohl Ljudmila Stanukinas sein. David hat in seinem Bericht vom Festival (Teil 1 und Teil 2) über ihren Film und ihre Redeschwälle berichtet (und natürlich auch über andere Dinge).

  2. Sano Cestnik on Mai 20th, 2017 at 06:56

    Sven, was für ein brillanter Text. Ich glaube, der gefällt mir nach mehrmaligem Lesen fast noch besser, als dein erster. Und du beweist dich mal wieder als ETs GoEast Haus- und Hofberichterstatter – so sehr, dass ich mich selbst wohl nicht mehr trauen würde von diesem Festival zu berichten, im Bewusstsein meiner eigenen wahrnehmerischen sowie schriftstellerischen Unzulänglichkeit angesichts deiner beinahe schon monumentalen (aber auch immer erfinderischen, ausgeklügelten, leichtfüßigen spitzzüngigen – teilweise beinahe schon perfektionierten) Skizzen.

    Ich habe gerade einen schönen und langen Dokumentarfilm über Stanley Kubricks Schaffen geguckt, und habe nun den Eindruck, du wärst beinahe eine Art Fred Astaire der improvisierten (und vor allem improvisiert wirkenden) Perfektion der kurzen (geschriebenen) Form. Denn wie wir alle wissen, konnte ja auch Fred Astaire nicht tanzen wie Fred Astaire.

    Interessant, dass viele Leute anscheinend so schockiert von diesem (Natur-)Ereignis der schwatzenden älteren Dame gewesen sein müssen, dass sich die Proteste wohl relativ in Grenzen hielten. Ich hätte vermutlich spätestens beim Telefonieren einen Kinomitarbeiter darum gebeten, die Frau aus dem Saal zu begleiten. Was noch die höflichere Variante gewesen wäre. Ansonsten wäre ich wohl ausfällig und beleidigend geworden, wie ein paar Herrschaften es in Davids Bericht im Murnau Filmtheater wohl geworden sind.

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