Filmfest München 2011: Kurzkommentare (1)



Hiermit also doch bereits während des Festivals der Versuch, zwischendurch zumindest ein paar kurze Kommentare und Notizen zu ein paar Filmen festzuhalten.

LE HAVRE (Aki Kaurismäki)
Dieser etwas unorthodoxe Einstieg war dann doch ein schöner Vorab-Start ins Festival. Kaurismäki zieht unbeeindruckt sein ganz eigenes Ding durch, immer nur leicht, aber signifikant genug neben den Erwartungen, die mit seinem Thema verbunden sind, um nicht in die nächstgelegenen Fallen zu treten. Die „traurigen braunen Knopfaugen“ (©) sind hier daher auch kaum als direkte Realismusbehauptung zu verstehen, sondern ein lakonisch moduliertes Versatzstück. Wie auch der Film selbst einer ausgenüchterten Version eines Melodramas klassischer hollywoodscher Prägung näher steht als einem Arthouse-Sozialdrama im gängigen zeitgenössischen Gewand. Das signalisiert schon die artifizielle Gestaltung, dessen Farben manchmal einen Hauch der Erinnerung an Technicolor verbreiten. Es ist vielleicht kein ganz großer Wurf, und gelegentlich gibt es auch ein paar etwas unnötige skurrile Anflüge, aber insgesamt ist es doch ein sehr überzeugender und ein sehr sympathischer, wunderbar altmodischer Film, den man sich am besten in einem sympathischen, altmodischen Kino ansehen sollte. Da ist es nur konsequent und macht sich denkbar positiv bemerkbar, dass der Film sogar noch analog geschnitten wurde (und im Abspann sogar Filmmaterial und Schneidetisch ausweist, was zweifellos zu begrüßen ist, hat es doch allein mehr Einfluss auf das Erscheinungsbild eines Films, als die allermeisten Positionen, die sonst im Abspann ausgewiesen werden). Schon das nimmt für ihn ein.

CONFESSIONS (Tetsuya Nakashima)
Tetsuya Nakashimas KAMIKAZE GIRLS mochte ich zumindest bei seinem damaligen Start ziemlich gerne, umso größer meine Ernüchterung über seinen Versuch einer verschachtelten Rachegeschichte. Die erste halbe Stunde rollt in Form eines bebilderten Hörspiels die Prämissen aus, was danach folgt, ist eine auf die eigene konstruierte Komplexität abhebende Entblätterung weiterer Verästelungen aus unterschiedlichen Blickwinkeln, in nicht enden wollenden Off-Kommentaren immer wieder bis ins Kleinste ausbuchstabiert und von überstilisiertem Zeitlupen-Hochglanz, zukleisterndem Soundtrack und bedeutungsschwangeren Kitsch-Bildern überlagert. Obendrein werden immer wieder pathetisch überhöhte Allgemeinplatz-Botschaften mit dem Vorschlaghammer eingedroschen. Man möchte es irgendwann kaum noch für möglich halten. Ein irrwitzig aufgebauschtes Machwerk von schier unglaublicher Redundanz und Penetranz. Damit wäre zumindest für mich persönlich der mutmaßliche Tiefpunkt immerhin gleich am Anfang überstanden. Die Auszeichnungen in Japan und die Einreichung als Oscar-Kandidat signalisieren hingegen, dass das viele offenbar anders sehen.

POST MORTEM (Pablo Larraín)
BONSÁI (Cristián Jiménez)
PORFIRIO (Alejandro Landes)

Drei latainamerikanische Filme, die eigentlich ein paar ausführlichere Worte verdient hätten, zu denen es meinerseits aber wohl nicht reichen wird. POST MORTEM hat ein paar bestechende Momente, sperrt mir seine Figuren aber insgesamt zu sehr in seine oft recht starren Kompositionen und gedehnten Einstellungslängen ein, um nachhaltiger zu beeindrucken. Das gelingt PORFIRIO deutlich besser, der aus seinen Körper-, Blick- und Raum-Studien über weite Strecken trotz aller Direktheit eine sehr würdevolle, intensive physische Präsenz gewinnt, die in der Materialität seiner allen Widrigkeiten zum Trotz kompromisslos auf Film gedrehten Scope-Bildern einen Resonanzboden findet, der dank exzellenter Kopie in sehr guter Projektion besonders eindrucksvoll zur Geltung kam. Vielleicht noch erfreulicher BONSÁI, vor allem weil es ihm gelingt, aus hinlänglich bekannten Versatzstücken der tragischen Romantikkomödie und einem auf dem Papier eher schrecklich klingenden Plot ganz trocken eine Frische abzuringen, die tatsächlich überrascht. Ein kurzweiliger, lässiger, bittersüßer Film, der sich unangestrengt und mit präzisem Timing zwischen und mit seinen Zeitebenen und Figuren bewegt.

BLUE BIRD (Gust van den Berghe)
Gust van den Berghe greift auch im zweiten Film auf sein offenbar mit Willen zum Markenzeichen selbst kreiertes extrem breites Format zurück, das vermutlich das 2,76:1-Seitenverhältnis von Ultra Panavision in der Breite noch etwas übertreffen dürfte (oder daran orientiert ist?). Wie schon beim Vorgänger LITTLE BABY JESUS OF FLANDR ist der Gesamteindruck nicht restlos überzeugend, wenngleich vielleicht einen Tick positiver. Nach starkem Auftakt verläuft sich der Film jedoch zusammen mit den beiden zentralen Kinderfiguren ein wenig in seinem konsequent blau gefilterten Kosmos, dem neben einer mitunter hypnotischen Wirkung und einzigen reizvollen Einzelepisoden dann immerhin auch ein sehr eigener, distinktiver Stilwillen kaum abzusprechen ist.

THE CASTLE (Martina Parenti , Massimo D’Anolfi)
PLAY (Ruben Östlund)

Ersterer las sich auf dem Papier dann doch interessanter, als in der Umsetzung. Es gelingen immer wieder einzelne pointierte Momente, aber insgesamt wäre ein stärkerer Fokus auf die strukturalistische, technizistische und architektonische Seite seines Portraits des Raumes (Flughafen) und seiner Wechselwirkung zu sich darin abspielenden Macht- und Kontrollverhältnissen spannender gewesen. Der Gedanke an diesen Stoff unter der Regie von Frederick Wiseman oder Eva Hiller ist doch einigermaßen reizvoll. Faszinierend dann, wie PLAY wiederum gerade in seiner teilweise brillanten ersten Hälfte genau das gelingt. Die Fokusverschiebungen, das Nebeneinander verschiedener Kommunikations- und Handlungsebenen, auch die räumliche Strukturierung von Bewegungsradien verdichtet zu einem komplexen soziologischen Diskursentwurf, der gerade in seinen Widerborstigkeiten inspiriert. Überzeugend zudem als Studie von gruppendynamischen Prozessen und als packender subtiler Terrorfilm, wobei die Fokusverengung auf diese Aspekte in der zweiten Hälfte den Gesamteindruck etwas schwächen. Auch einige etwas platte Metaphern (die Wiege im Zug) sind eher unnötig, während ich das zweifellos etwas zerfahrene und angehängt wirkende Ende dann in seiner Rückkehr zur Fokusöffnung der ersten Hälfte nicht uninteressant fand, auch wenn es dem Film leider etwas von seiner Präzision raubt.

DAD – OCA (Vlado Škafar)
Bislang der überragende Film des Festivals. Mit der Beobachtungsgabe des Dokumentarfilmers entfaltet sich (nicht nur und auch gar nicht so direkt) eine Studie einer Vater-Sohn-Beziehung, deren sanfte Überblendungen und Abblenden, deren kunstvoll ungekünsteltes Gleiten und Fließen die Überlagerung und das Hineinwirken von Vergangenheit und Gegenwart, von Ich und Du, Hier und Jetzt, von Annäherung und Entgleiten, Erinnerung und Zukunft verstärken und verdoppeln. Ein assoziatives Schweben in Zeit und Raum, Dokumentation und Fiktion, ein sanftes und demütiges Echo von Gewesenem, Gegenwärtigem und Möglichem. Aber es hilft alles nichts: zumindest im Moment bekomme ich den Film und seine lyrische Dimension, die sich so wunderbar unabhängig vom gängigen „poetischen Reservoir“ des Kinos entfaltet, ohnehin nicht zu fassen. Es wäre nebenbei ein perfekter Abschlussfilm gewesen, freilich kein offizieller (selbst einer der kleinsten Säle des Filmfestes war schließlich bei der ersten Vorstellung zur besten Zeit bedauerlicherweise nur halb gefüllt), aber als einer der Filme im letzten Programmslot des letzten Tages würde er einen perfekten Festivalausklang bieten. Ich fühlte mich danach jedenfalls beglückt und bereichert von einem Film, der auf seine ganz eigene Art und in einem nicht ausschließlichen und ausschließenden Sinne verdammt viel von dem zu bieten hat, was zumindest ich mir im Optimalfall vom Kino erhoffe.

Dieser Beitrag wurde am Montag, Juni 27th, 2011 in den Kategorien Aktuelles Kino, Ältere Texte, Andreas, Blog, Blogautoren, Festivals veröffentlicht. Sie können alle Kommentare zu diesem Beitrag über den RSS 2.0 Feed verfolgen. Sie können diesen Beitrag kommentieren, oder einen Trackback von ihrer eigenen Seite setzen.

3 Antworten zu “Filmfest München 2011: Kurzkommentare (1)”

  1. Schwanenmeister on Juni 28th, 2011 at 21:37

    Warum verwundert es mich nur nicht, dass der tollste Festivalfilm bisher noch nicht einmal einen IMDb-Eintrag besitzt. „Bonsaí“ will ich seit Karina Longworths Cannes-Hymne sehen. Umso unkomplizierter, dass er dir auch gefallen hat. Und ich finde, dein „Confessions“-Text klingt so, als ob du doch noch nachträglich Kitanos „Outrage“ verrissen hättest.

    P.S. Schade um die aufreizend nackten Franzosen in deiner Vorschau!

  2. Mr. Vincent Vega on Juni 28th, 2011 at 23:28

    Warum verwundert es mich nur nicht, dass der tollste Festivalfilm bisher noch nicht einmal einen IMDb-Eintrag besitzt.

    😀

    Andi, ist der Schwanenmeister eine verschmähte Flamme von Dir?

    CONFESSIONS ist übrigens super. RASHOMON meets BATTLE ROYALE, und der Zynismus des Films ist wirklich beachtlich. Leider etwas zugekleistert mit abgehangenen Symbolen und verschniekten Bildern. Trotzdem geilo.

  3. Andreas on Juli 3rd, 2011 at 02:31

    😀

    Aber sehe in den durchaus auf Gegenseitigkeit basierenden Sticheleien in der Tat ein Kenzie/Vega-Potenzial, wenn das so weiter geht 😉

    Soo obskur ist DAD aka OCA übrigens auch nicht, beim Crossing Europe im Frühjahr kam er wohl gut an, seither gibt es auch deutsche Texte z.B. bei Cargo und Movienerd. Und dass viele kleinere Festivalfilme oft noch keine Imdb-Einträge haben, ist auch nicht gerade extrem ungewöhnlich. Und was CONFESSIONS-Vergleiche angeht: sehe da schon eher einen endgültig abgestürzten Park Chan-Wook, der zum x-ten Mal eine ausgestellt clevere Rachestory aufzutischen versucht. Habe dann aber beim Filmfest tatsächlich einen noch schlimmeren, wenngleich (wegen partieller unfreiwilliger Komik) weniger quälenden Film gesehen. Ansonsten war es aber eine überwiegend grandiose Ausbeute, in den nächsten Tagen kommt rückblickend hoffentlich noch ein bisschen was dazu. Ist aber vom Sichtungsumfang und Schlafmangel alles wieder so exzessiv geworden, dass an weitere Kommentare während des Festivals nicht zu denken war. Es erscheint mir unter den Bedingungen ohnehin schon wie ein Wunder, dass es überhaupt zumindest einmal mit ein paar läppischen kurzen Zeilen hingehauen hat.

    Und ja, um die nackten Franzosen ist es schade, zumal der zugehörige Film auch noch alle vagen Hoffnungen übertroffen hat und zu den Höhepunkten zählte. Aber nachdem der ET-Bilderupload momentan nicht funktioniert, und der externe Filehoster mir das Bild gelöscht hat (diese bigotte Prüderie ist unfassbar), musste ich es leider austauschen.

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