100 Deutsche Lieblingsfilme #27: Babylon (1992)



„Ich mach dir Flügel und fick’ ich dich in den Himmel, Schwester Maria.
Ich kann dich auch in die Hölle ficken.
Mein Schwanz kann alles!“

– Lothar, August, Beelzebub

Babylon – Im Bett mit Ralf Huettner

Ein Film in den Wehen. BABYLON, die große Hure Babylon, windet sich im Neonlicht des Kreißsaals und gebiert konvulsivisch Einstellung um Einstellung, jede ihrerseits Wirtin einer neuen. Jeder Schnitt ist eine Entbindung. Das Kino wird zum Mutterleib, die Leinwand zum sich zur Welt öffnenden Spalt, zum Lichttunnel.
Am Ende der Nacht liegt dieser Lichttunnel, am Ende einer flackernden Spirale, in der die Nacht gleißender aussieht und Krankenschwesternuniformen pinker sind als je wieder in einem deutschen Filmerzeugnis. Ach! Das deutsche Kino, sein klinisches Bürofensterlicht… Huettner aber träumt sein Kino dahin, wo Träume zuhause sind – in die Nacht. In seine schlaflose Nacht, in der blinde Tumorpatientinnen in Krankenhäusern unter dem Ächzen von Tennisspielern im Fernsehen lustvoll verglühen, in der Apothekerinnen ihren Nachtdienst absitzen, wartend in der Hoffnung auf einen hilfsbedürftigen Patienten, dem sie die Salbe einreiben können, den sie lebendig mumifizieren können, eine Nacht, in der eine Verständnis versprechende, körperlose Stimme raunt und die Tore zur Ewigkeit sich auf der Müllhalde des Seins auftun.

Der Vertreter Lothar (Dominic Raacke) liebt die Kranken, die Trauernden, die Verlorenen. Sie sind ein gutes Geschäft, ihnen kann man das elektronische Glück verkaufen. Hinter der Unbegreiflichkeit ihrer Schicksalsschläge wittern sie eine böse Macht, inständig hoffend, diese möge sich als etwas Fassbares erweisen, etwas dass man bekämpfen kann, Erdstrahlen zum Beispiel, Wasseradern, Asbest in den Wänden… Gut, dass es Lothar gibt, den geschniegelten Heiland im Anzug mit den heilenden Geräten (sanitas ex machina!) und dem heilen Gerät, mit dem er die Frauen liebt. Auch sie werden von ihm geheilt – von der schrecklichsten Plage, die Gott über Babylon, die Welt, verhängt hat: Dem Dasein. Denn von Lothar schwanger zu sein bedeutet, selbst abgetrieben zu werden. Zuerst platzen die Kondome, später die Frauen. Blutbesudelt wäscht sich die Hebamme rein in einem See vor Pagoden, beobachtet von einem ältlichen weißgrauen Pärchen, das omnipräsente greisenhafte Double Gottes des allsehenden Zuschauers.

Voyeurismus und Exhibitionismus. Als Voyeuristen dürfen wir, zum ersten und einzigen Mal, über Grande Dame Veronica Ferres staunen, die kichernd ihren Busen aus einer Opernloge baumeln lässt. Exhibitionistisch dürfen sich die wurzellos im schwarz gluckernden Ozean der infernalischen Dämmerung treibenden Emotionen präsentieren, die Emotionen der blinden Lesbe, deren Finger den Kehlkopf und die ausladende mama der probenden Opernsängerin ertasten. Ihre Stimme sei, so die Blinde später, als hätte sie irgend etwas im Hals. Vielleicht ist es ja auch ein Tumor, wie er sich im Kopf der Blinden breit macht, eine perverse Wucherung, ein unerwünschter Zellklumpen, ein wiedergängerischer Fötus, der nicht tot zu kriegen ist, vorwitzig aus der Nierenschale glitschend, vielleicht sein Glück in der Welt suchend.

Gierige Hände greifen aus dem Hades nach allem Stetigen in diesem Film. Tragik ist ein Luxus, den frau hier nicht bezahlen kann, weder Maria, noch die kleine blonde banale Krankenschwester Bibi oder die perverse Apothekerin. Wir machen alles schlimmer und das ist gut so, meint Lothar.
In BABYLON drängt alles zum Sturz. Hausmeister müssen die Scherben der zerbrochenen Menschen zusammenkehren, aus denen sie die Verzweiflung anblickt. Babys stürzen durch flammenlodernde Kanäle ins Leben, verwahren sich entschieden gegen ihre provisorische Abtötung zum Schutz vor jenem, den Verrat des Fährmanns im weißen Kittel. Niemand kann sich dem Sog der Tiefe entziehen, auch Maria (Natja Brunckhorst) kann nicht fliegen, obwohl ihr Kleid mit chinesischen Drachen bestickt ist und Lothar ihr Flügel versprochen hatte. Die androgyne Krankenschwester muss den Weg gehen, den wir alle einmal gehen müssen, mit nuttigen Siebenmeilenstiefeln gerüstet für die Flucht ins Embryonale.

BABYLON ist ein oneironautischer Trip, ein cinemanischer Wunschtraum und eine psychosexuelle Welt-Traum-Oper, in der ständig Fassade um Fassade einer urbanen deutschen Halbwelt abbröckelt, Trümmer eines babylonischen Turmes, den Zuschauer erschlagend, Blatt um Blatt eines unendlichen Kartenhauses. Meta-Sleazik des Werdens: Himmel oder Hölle – BABYLON kann alles.

BABYLON – Deutschland 1992 – 85 Minuten – ThanatoColor
Regie: Ralf Huettner – Buch: Andi T. Hoetzel, Ralf Huettner – Produktion: Ralf Huettner, Andi T. Hoetzel, Dominic Raacke – Kamera: Diethard Prengel – Schnitt: Margarete Rose – Musik: One Tongue
Darsteller: Natja Brunckhorst, Dominic Raacke, Michael Greiling, Veronica Ferres, Ditte Schupp, Ina Siefert, Ilse Zielstorff

Dieser Beitrag wurde am Donnerstag, Juni 23rd, 2011 in den Kategorien Alexander Schmidt, Blogautoren, Christoph, Deutsche Lieblingsfilme veröffentlicht. Sie können alle Kommentare zu diesem Beitrag über den RSS 2.0 Feed verfolgen. Sie können diesen Beitrag kommentieren, oder einen Trackback von ihrer eigenen Seite setzen.

3 Antworten zu “100 Deutsche Lieblingsfilme #27: Babylon (1992)”

  1. vannorden on November 9th, 2011 at 01:11

    Gerade geschaut … oder vielmehr erlebt, gefühlt, ausgehalten … Unwohlsein, verzauberndes, faszinierendes Unwohlsein. Immer wieder wunderbar wie körperlich gewisse Filme erlebt werden können. Ich spüre ihn immer noch in der Bauchgegend. Sowas wie der miese Zwilling von „Flugzeuge im Bauch“. Großartig. Die Gemüttlichkeit von Kannibalen.(Ich weiß nicht ob es rüberkommt, aber das sind alles Lobpreisungen, irgendwie) … bis zu dem … sagen ich mal „Brazil“-Ende, dass war gruselig … wie jede Figur in der Realität vorgeführt wird, dieses übergiessen mit ekelerregenden rationellen Erklärungen …

  2. vannorden on November 9th, 2011 at 01:15

    oder das Ende ist die Zuflucht im Irrationalen … eine nette, saubere Erklärung für das Abartige, das was nicht sein darf. Der Moment wo es klick macht und das, was ist, nicht mehr ertragen werden kann.
    Fieber, das alles.

  3. Christoph on November 11th, 2011 at 22:29

    Schöne Worte, die du da findest – „Fieber, das alles“… „wie jede Figur in der Realität vorgeführt wird, dieses übergiessen mit ekelerregenden rationellen Erklärungen …“
    Der Film vertrasht in gewissem Sinne die Vorwürfe, die er an sich erwartet und greift ihnen glitschig-schleimig vor.

    Es freut mich sehr, dass sich dir der Film so durchstoßend offenbart hat. Deiner Anmerkung zur Körperlichkeit des Erlebnisses kann ich nur zurückwerfen – auch Alex und ich durchlitten heftigste Spasmen, panisches Röcheln und äußerste Anspannungen unter diesem infernalischen Filmgericht (ganz zu schweigen von mindestens zwei Dutzend geplatzter Hosen. Das Adjektiv „oneironautisch“ hielt im Übrigen bezeichnenderweise in jener denkwürdigen Nacht Einzug in den Kanon der ET-Ultrawörter). Ein rassiger Wunscherfüllungsfilm. Im Grunde ist es eine der großen Tragödien der deutschen Filmlandschaft der letzten 20 Jahre, dass Huettners Versuchen eines originären, mystischen deutschen Horrorfilms / Neo-Exploitationfilms keinerlei Erfolg beschieden war. Wer weiß, was er noch alles vollbracht hätte, wenn… Vor allem muss man sich – bzw. muss in erster Linie ich selber mir – immer wieder ins Gedächtnis rufen, dass BABYLON nicht nur eine exzessive Unfassbarkeit ohne Beispiel ist, sondern durchaus auch mit einer gewissen, hm, Kunstfertigkeit sein absurdes dramaturgisches Geflecht spinnt – wenn ich an all die verschiedenen Verästelungen denke, scheint es mir die ganze Angelegenheit noch weniger fassbar.

    Ohne jeden Zweifel eine meiner intensivsten Cine-Erfahrungen des Jahres.

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