Eugenie und das An- und Absinken der Begierde – Die Jungfrau und die Peitsche (1970)





So manches Mal bedarf es im Leben wie der Kunst gar nicht vieler Erläuterungen, Worte oder gar Rückversicherungen. Aus dem Bildzwischenraum, der einige ausgiebigst von Manuel Merinos Kamera vermessene Hochhäuser und die irgendwo in einem dieser Horte im Bett lesende Maria Rohm voneinander trennt, ergibt sich ganz mühelos die gedankliche Ausrichtung des den Zuschauenden neckisch vorenthaltenen Buchtitels. So sinnlich das Kameraauge die gewaltigen, frei in die Lüfte ragenden Türme umgarnt, wie mit einer genießenden Zunge versehen betulich an ihnen emporgleitet, so züchtig nimmt sich das Geschehen im Schlafzimmer selbst abseits eines wissend-genussreichen Lächelns über die Seiten hinweg aus und doch, man weiß genau, was sie liest, muss es wissen. Es ist gerade das Ausgelassene, die Leerstelle – weniger jene an kinematografischen Standards, das ausbleibende Vorlesen aus dem Off, der nicht im Detail erfasste Buchdeckel oder -rücken – sondern die zwischen direktem Eindringen von außen nach innen klaffende, das Aneinanderlöten zweier gegensätzlicher Eindrücke, von lüsterner Architektur und friedfertigem Gedankenabenteuer in suggestiver Verbindung, die Klarheit verschafft. Idiosynkratische Perfektion der Montage, des rechten Augenblickes, Erzählen aus den Fugen und Nähten des Filmens, wie es symptomatisch ist für das Fieber in Jesús Francos Kino. Ein Erzählen, das weder klassisch narrativ noch das herausgebildet strukturelle des klassisch avantgardistischen Kinos ist, vielmehr rein sinnlich und dementsprechend von Haus aus erhöhter Gefahr des Übersehenwerdens ausgesetzt. Jesús Franco erzählt über zwischen den Schnittstellen austretende Gefühle, die wir entweder annehmen oder frei der Resonanz verhallen lassen.

Unmittelbar im Anschluss an diese Andeutungen wird Franco konkret und lässt zu einer, zumindest die Leerstelle von Rohms Fantasien ausfüllenden, schwarzen Messe schneiden. Visuelles Edging wie dieses entlädt sich zumeist auf die gleiche Weise, in einem Ausleben der nicht bloß von Figurenseite zugrundeliegenden Triebe. Später wird Rohm Paul Muller verführen, um ihm seine geliebte Tochter für ein Wochenende fernab der zivilisatorischen Grenzen abzuschwatzen. Auf- und abgleitend an ihrem noch in der Vertikalen die Komposition einnehmenden Körper imitiert die Kamera Wogen der Erregung, während Muller vor den verlockenden Beinen theatralisch auf die Knie herabsinkt. Der sich entspinnende Verkaufsdialog mag noch so sehr hilflos zu dem nun hinters Kopfende des gusseisernen Bettes versetzten Auf-und-Nieder herumrudern, das Ergebnis steht fest: er wird seine Tochter verkaufen, schlicht libidonös prädeterminiert ist das, mehr nicht. Ganzheitlich verspinnt sich die unnachgiebige Triebphilosophie des Marquis de Sade mit der Inszenierung Francos, präzise bis in die Fasern. Richtungsgewandter Bewegung, vorwärts, rückwärts wie die Ausprägung einer schwellenden Erektion, unterliegen viele Prozesse, die letztlich in Handlungen resultieren. Mit dem Vorbeiröhren von Mullers sexwärts durch Hitzelandschaften preschenden Auto hebt die Kamera vom Straßenbelag ab, um sich wieder niederzulassen, als er den Weg erfragen muss. Wieder und wieder wird Jack Taylor die Vertikallamellen der Jalusien rotieren lassen, Ausgangsposition zu Öffnung, auf, zu, erneut von vorn, die Zuschauenden in den minutenlagen Farb- wie Lichtzauber einlullen, der sich flackernd aus den Spalten ergießt, bevor er die unter Drogen gesetzte Marie Liljedahl erstmals vergewaltigt.

Der endgültige Bruch der Bahnen, er hatte sich bereits lange angekündigt. Als wir Taylor kennenlernten saß er in einem Schaukelstuhl, den er in beständige, gleichmäßige Bewegung versetzte, unterbrochen nur von einem marginal-euphorischen Anstieg des knarzenden Tempos beim Anblick und akustischen Genuss, den eine schallende Ohrfeige Rohms für die stumme Dienerin des Hauses ihm gewährt. Latenz des Verdorbenen, von ihr erzählt Franco, wird vielmehr sein ganzer Film fremderzählt, Bildgestaltung und Charaktere scheinen sich gegenseitig aufeinander auszuwirken. Eine interessante Umdeutung des de Sadeschen Loses von der völlig Ergebenheit, Auslieferung schon in den Trieb; anschaukeln, jedoch auch angeschaukelt werden. Francos Mise en Scène gibt Eskalationen vor und wirkt doch eigentümlich abhängig von ihren Akteuren. Gegen Ende irrt Marie Liljedahl eine Weile durch die beachtliche Leere des enormen Anwesen, mit einer von ihr geflickten Puppe in den Armen, die allein durch Jack Taylors finalen Auftritt als Boogeyman abermals den Kopf einbüßt. Puppenspiele, Puppenenthauptungen – das ist in Ermangelung einer klaren, einheitlichen Stoßrichtung vielleicht, was sich auf der Leinwand abspielt, sorgfältige Orchestrationen gleich dem gesamten Ablauf des Narrativ. Vom Kleinen der Geschichte um mannigfachen Verrat und Vertrauensmissbrauch zwischen sexuell Verpartnerten bis zum Großen ihrer filmischen Ausgestaltung, immerzu schält sich eine weitere manipulierende Entität hervor, selbst der Regisseur ist allein eine weitere unter vielen. Mehr als seine vielfachen Variationen vergleichbarer oder direkt durch die gleichen Schriften inspirierter Geschichten liegt hier das Eingeständnis vergraben, dass solcherlei in uns allen steckt.

„Die Jungfrau und die Peitsche“ ist ein bemerkenswert kalter, pompöser Film der kleinen exaltierten Gesten, weltanschaulich so nah an den Werken Stanley Kubricks, wie Franco ihnen wohl zu kommen vermochte. Alles folgt einer strengen Mechanik der Abläufe, vor der es kein Entkommen gibt und doch – in kleinen Dingen, der Träne, die sich behutsamen Glanzes aus der Strumpfmaske eines Orgienteilnehmers schält, dem einschmeichelnd bestimmten Tonfalle des aufmüpfigen Bootjungen, im Aufbegehren der filigran-selbstbestimmten Kamera, steckt eine leise Sinnlichkeit, die unentwegt vor sich hin brodelt. So ist es abermals das Innenleben der Bilderfuge, der reizvolle Widerspruch zwischen berechnender Narration und visueller Sinnlichkeit, aus dem das lächelnde Twistende längst seine schelmischen Züge reckt, bevor es abschließend aufschlägt. Ganz zuletzt schleichen sie sich wieder aus, so wie sie zu Beginn kamen, die Hormonlevel. Exakte Spiegelung der Eröffnungssequenz – runter an den Fassaden, ein Erschlaffen, ferner, immerzu ferner, zurück mit der Ursuppe ins Meer, dessen betörende Ruhe alpha wie omega dieser Welt darstellt, den Nullpunkt der Kopfgeburten. Auch ein zutiefst unmoralisch-ambivalenter Film ist „Die Jungfrau und die Peitsche“, der sich auf einer deutlich tiefer als üblich liegenden Ebene mit den Ausschweifungen seiner Protagonisten gemein macht und doch im letzten Moment diebisch Einhalt gebietet … denn bloß in der menschlichen Fantasie wird allem Rausdrängenden stattgegeben. Sieg des Mitgefühls über den Abstieg in die Hölle vertierten Triebes – zarte Geste in einem kaltschnäuzigen Film. Jesús Franco, der als notorischer Schlamper Verlachte, war eigentlich ein ungemein präzis arbeitender Regisseur, der das dem Filmemachen selbst bei unbedarftester Herangehensweise inhärente Technokratische unterjochte und in den Dienst des Mitmenschlichen stellte.


Die Jungfrau und die Peitsche – BRD, Spanien 1970 – 87 Minuten – Regie: Jesús „Jess“ Franco – Produktion: Harry Alan Towers (als „Peter Welbeck“) – Drehbuch: Harry Alan Towers (als „Peter Welbeck“), nach „La philosophie dans le boudoir“ des Marquis de Sade – Kamera: Manuel Merino – Schnitt: ? – Musik: Bruno Nicolai, Hans Günther Leonhardt – Darsteller: Marie Liljedahl, Maria Rohm, Jack Taylor, Christopher Lee, Anney Kablan (als „Kaplan“) u.v.a.

Dieser Beitrag wurde am Dienstag, Mai 12th, 2020 in den Kategorien Ältere Texte, André Malberg, Blog, Blogautoren, Essays, Filmbesprechungen, Filmschaffende, Filmtheorie veröffentlicht. Sie können alle Kommentare zu diesem Beitrag über den RSS 2.0 Feed verfolgen. Sie können diesen Beitrag kommentieren, oder einen Trackback von ihrer eigenen Seite setzen.

Kommentar hinzufügen