„Es war alles Autodidaktik“ Dominik Graf im Interview mit Eskalierende Träume
Rückblende, April 2011: Das Nürnberger Filmhaus widmet Dominik Graf eine ausführliche Werkschau. Zum Auftakt läuft als double feature seine hypnotische FAHNDER-Episode NACHTWACHE (1993) mit Maja Maranow und natürlich Klaus Wennemann, sowie DER SCHARLACHROTE ENGEL (2005) aus der Reihe POLIZEIRUF 110. Zu diesem Doppelprogramm ist auch Graf selbst in Nürnberg anwesend. Im Anschluss an NACHTWACHE gelingt es vier eskalierten und noch völlig von dieser Wahnsinnsepisode berauschten Träumern, den inoffiziellen ET-Lieblingsregisseur ins Kommkino-Büro zu locken und auszufragen. Aber lesen Sie selbst:
SANO: Was ich gerne wissen würde: Sie haben gesagt, dass Sie am Anfang eine Art von französischen Autorenfilmen gedreht und sich dann davon abgewandt haben. Wie kam das? Sie wollten anscheinend am Anfang diese Art von Filmen machen, oder was hat sie daran interessiert und wieso hat sich das geändert?
DOMINIK GRAF: Also, ich komme ja aus einer Familie, die sich sehr stark mit Theater und Kino beschäftigt hat und das Kino hatte bei uns zu Hause immer so ein bisschen einen anrüchigen Stellenwert. Die Filme, in denen mein Vater in den Fünfzigern mitgespielt hat, waren meistens Filme, über die sich meine Schwester und meine Eltern, wenn sie von einer Premiere nach Hause kamen, lustig gemacht haben. Halt typisch deutsches Fünfziger-Jahre-Kino, und Kino hatte für mich ein bisschen was Albernes, was Lächerliches, auch Triviales in gewissem Sinne. Und dann habe ich irgendwann nach dem Abitur die Franzosen entdeckt, vor allem Truffaut und Rohmer, auch Eustache, und das wollte ich dann eigentlich machen, als ich auf die Filmhochschule gegangen bin – 1974 war das – und dachte, ich möchte auch Filme machen, in denen die Leute immer viel rumsitzen, reden, trinken und ihre Beziehungen diskutieren. Denn das hat mich gepackt, das war irgendwie auch meine Realität, das konnte ich in jeder Hinsicht nachvollziehen. Dann habe ich das versucht, zwei, drei, vier Filme lang, in verschiedenen Ausformungen – also auch DAS ZWEITE GESICHT gehört da noch dazu, auch wenn das schon ein Genrefilm ist, aber in einer gewissen Beziehung sitzen auch da die Leute rum und disktutieren ihre Beziehungen, zumindest auf Münchner Art. Dann wurden mir diese Filme aber… ich habe es einfach nicht geschafft, diese Filme so interessant zu gestalten, wie ich mir das eigentlich gewünscht hatte. Ich war selber mit den Filmen so unzufrieden, dass ich mir dachte: Dann kommst du eben von deinem hohen Ross runter und versuchst das schlimmste denkbar Mögliche, nämlich normale Vorabendserien-Konzeptionsware zu machen. Und man kann sagen, dass ich da mich dann sozusagen, aufgrund des Niveaus, das nicht so hoch gedacht war, und dem Niveau konnte ich mich in gewisser Weise auch anpassen, und hab da dann auch meine ersten Momente gehabt, wo ich den Eindruck hatte, naja, vielleicht schaffst du es ja doch, du musst eben etwas mehr Gas geben insgesamt, und mehr Energie reinstecken und nicht ganz so französisch-sensibel daher kommen. Nicht, dass ich mir das nicht immer noch ersehnen würde; ich mache ja zwischendurch auch immer mal solche Filme, die irgendwie von ferne an die alten Träume erinnern.
SANO: Zum Beispiel DER FELSEN?
GRAF: DER FELSEN auch, klar. Der SPIELER, der hier auch lief, dann der Film aus der DREILEBEN-Trilogie, der kommt dem auch relativ nahe, was ich mir mal erträumt hatte. Ich hatte nur das Gefühl, das was ich will, kann ich nicht. Also die Filme werden einfach nichts…
SANO: So wie bei Godard, der dann gemeint hat, irgendwie… er wollte immer amerikanische Genrefilme machen und hat dann gesehen, nach drei, vier Filmen …
GRAF: Bei mir war das umgekehrt, sozusagen, bei mir hat der Genrefilm mit all seinen Gesetzen eigentlich eine relativ heilsame Wirkung gehabt.
SANO: Hmm… wenn das also erstmal für Sie so eine Art positives Gegengift war, um vom Perfektionismus oder bestimmten Vorstellungen runter zu kommen, wann haben Sie dann entdeckt, dass Ihnen diese Art von Kino vielleicht mehr zusagt oder besser gefällt? War das im Prozess des Filmemachens?
GRAF: Es ist oft viel mehr von Äußerlichkeiten diktiert. Ich war gezwungen, bei den frühen FAHNDERn und bei den anderen Sachen, die ich so 83/84 gemacht habe, ein ungeheures Tempo beim Drehen vorzulegen. Nicht nur die Schauspieler sollten schnell sein, und der Film sollte schnell sein, sondern ich musste auch wahnsinnig schnell arbeiten. Und dieses schnelle Arbeiten hat mich dazu gezwungen, Lösungen zu suchen, die, glaube ich, dann eigentlich meinem Stil, den ich halbwegs beherrschen konnte, entgegen kamen. Also es waren sehr viele lange Einstellungen, was ich vorhin schon mal gesagt habe, Dialoginszenierungen, wo allein dadurch, dass die Dialoge durcheinander gesprochen wurden, aus fünf Seiten plötzlich de facto drei Seiten wurden; lauter aus der Not erzwungene Mittel, die letzten Endes dann zumindest zur, sagen wir mal: Lebendigkeit der Filme beigetragen haben. Der Zwang, also der Produktionszwang, hat bei mir dann heilsame Folgen gehabt.
SANO: Könnte man sagen, dass das also, nachdem Sie ja sowieso bereits einen bestimmten Geschmack, bestimmte filmische Vorstellungen von dem, was Sie machen wollten, hatten, die jedoch nicht funktioniert haben, dass das dann sozusagen eine zweite Phase war, in der Sie parallel zum Filmen, zu dem was Sie aus der Arbeit gelernt hatten, vielleicht auch andere Filmemacher entdeckt haben, die das auch machten, und vielleicht eine neue Art von Film versuchten?
GRAF: Nein. Nein, die gab es eben nicht, es gab keine Vorbilder in Deutschland. Du hast an der Filmhochschule nicht gelernt, wie du das hinkriegst, wenn es fünf Uhr nachmittags ist, um halb sechs geht die Sonne unter und du hast noch zwei Seiten Text mit den Schauspielern.
SANO: Also war das praktisch eine zweite, autodidaktische Phase?
GRAF: Ja, genau, es war alles Autodidaktik. Da war auch kein Vorbild mehr – klar, DIE STRASSEN VON SAN FRANCISCO vielleicht am Ehesten, aber das war ja auch utopisch – also hat man einfach versucht, sich den Produktionsgegebenheiten anzupassen: Und aus dieser Anpassung heraus erwuchs ein Stil. Das war ein sehr einfacher, sehr überschaubarer Stil, kann man sagen, aber er hat mir die Chance gegeben, langsam das Handwerk wirklich zu lernen. Nicht nur aus Ambitionen sozusagen mein Handwerk zusammen zu setzen und Kamerafahrten zu machen, wie da oder dort oder hier oder da, sondern letzten Endes nur auf das zu reagieren, was jetzt noch gemacht werden musste. Das hat genug Zeit und Denkschmalz in Anspruch genommen, um sich damit zu beschäftigen, und hat dann tatsächlich, würde ich sagen, wenn man diese Filme von 83 bis zu dem, den ihr jetzt gesehen habt anschaut – der war im Grunde fast der letzte aus dieser Reihe (gemeint ist die Folge NACHTWACHE aus der 5. Staffel des FAHNDER, Anm. der Redaktion) – dazu geführt, dass da wirklich ein einheitlicher Stil erkennbar ist. Es ist ein Stil der Produktionsnot, sozusagen.
SANO: Der dann aber auch diese Lebendigkeit, von der Sie gesprochen haben, noch reinbringt.
GRAF: Ja, das wurde mir dann irgendwann klar, dass das ganz gut funktioniert und dann habe ich versucht, den zu perfektionieren, gewissermaßen. Ich glaube überhaupt, dass man sehr oft, wenn man über Filmstile, auch in der Filmgeschichte, spricht, man immer die Produktionsverhältnisse und die Kameramöglichkeiten berücksichtigen muss: Wieviel Geld hatte der eigentlich, wieviel Zeit hatte er, welches Material hatte er in der Hand, was für eine Kamera, konnte sich sein Kameramann überhaupt eine Fahrt leisten oder ein Auto oder einen Grip oder sonst was? Daraus sind Stilentscheidungen geworden, wo der Regisseur im Nachhinein dann sagen kann: Ja, ich wollte das so schlicht. Von wegen! Ich hatte mir vielleicht auch irgendwann eine Kranfahrt vorgestellt, aber daran war überhaupt nicht zu denken.
SANO: Das habe ich über Godard gelesen letztens, dass er gesagt hat, bei AUSSER ATEM, diese ganzen Schnitte, das war nicht geplant. Er hatte keine Zeit, er musste was rausschneiden, und dann hat er gemeint, er hat zum Beispiel Aufnahmen vom einen und vom anderen (also Schuss-Gegenschuss, Anmerkung des Autors), na gut dann schmeißen wir den einen eben wieder raus. Er meinte, das war völliger Zufall.
GRAF: Jaja. Manchmal passieren ja im Schneideraum auch Sachen aus Zufall, aus Fehlern, und manchmal gibt es Fehler, bei denen man sagt, diesen Fehler bitte nicht korrigieren, der ist nämlich super und bringt mich überhaupt auf die Idee, wie ich den Schlüssel zu einem Problem finde. Wie eben bei AUSSER ATEM, wo er den Schlüssel dazu findet, den Film zeitlich passend zu machen, weil er wahrscheinlich irgendwie 180 Minuten gedreht hat.
SANO: Ja, der musste eben kürzen und hatte keine Ahnung.
GRAF: Sehr praktische Dinge führen dann eben zu guten Folgen.
SANO: Ja, genau… Hatten Sie das Gefühl, da gab es dann Mitstreiter in der Phase als Sie diese Art des Filmemachens für sich entdeckten? Gab es irgendwie verwandte Leute, die vielleicht was Ähnliches gemacht haben, in der Fernsehlandschaft, in der deutschen Filmlandschaft, oder haben Sie sich wirklich mehr oder weniger allein gefühlt oder war Ihnen das auch gar nicht wichtig?
GRAF: Hm… Es gab sicher Peter Bringmann mit THEO GEGEN DEN REST DER WELT – also die Generation direkt nach dem Autorenfilm. Es sollte alles nicht mehr so lahmarschig sein, wie im Autorenfilm, die Tiefe der Handlung war uns auch weniger wichtig, wichtig war die Schnelligkeit und der Witz der Dialoge. Und naja, den Weg vorausgegangen sagen wir mal, in diesem Zusammenwirken von Kino und Fernsehen sind dann schon so Leute wie Wolfgang Petersen oder so. Ganz egal was man dann von seinen Filmen in Amerika halten mag, als Figur, die Fernsehen mit genau derselben Leidenschaft gemacht hat, mit der er dann auch in die Kinofilme, zumindest bis zum BOOT, hineingegangen ist, war der schon wichtig, also ich fand den schon einen, der quasi diese neue Generation verkörperte, die auch nicht diesen ständigen elitären Unterschied zwischen Kino und Fernsehen machte, wie ihn die Autorenfilmer schon fast fetischisiert haben. Fassbinder war auch immer anders. Fassbinder war auch einer, der den Weg auf seine Weise voraus gegangen ist, dem es auch egal war, ob er jetzt mit einem Produzenten zusammenarbeitet, der seit den Fünfziger Jahren die schrecklichsten Heimatfilme gemacht hat, dem es egal war, ob er einen 20-Teiler im Fernsehen macht oder einen Kinofilm. Der hatte, glaube ich, so den richtigen Spirit. Allerdings aus extremster Radikalität, und ich eigentlich mehr so aus Hilflosigkeit, gewissermaßen.
SANO: War Ihnen dann damals bewusst, dass es aber auch so Leute gab wie beispielsweise Jürgen Roland oder Wolfgang Staudte, die ja TATORTe gemacht haben oder jemanden wie Zbynek Brynych, über den sie auch geschrieben haben? Diese ganzen „Alten“ sozusagen.
GRAF: Nein, die ganzen Alten – DERRICK und DER KOMMISSAR und sowas – waren für uns zunächst einmal der absolute Klassenfeind. Das waren die Art von deutschen Serien, die jetzt auf jeden Fall vorbei sein sollten, da musste man ein neues Kapitel aufschlagen. Dass hinterher dann, von 1990, von 2000, von 2010 jetzt betrachtet, manche Dinge, die Herr Brynych gemacht hat, einem näher sind als Dinge, die Zeitgenossen gemacht haben, das konnte ich damals aber noch nicht einschätzen. Also erstmal war diese Art und Weise, wie da Derrick in Regenmänteln auftrat, auch in Grünwalder Villen – in denen wir ja auch gedreht haben, letzten Endes – und nach Alibis fragte, absolut furchtbar, das war der Alptraum. So wollte man auf keinen Fall enden. Denn das waren ja auch alles Regisseure, die bei Ringelmann beschäftigt waren (gemeint ist TV-Produzent Helmut Ringelmann, Anmerkung des Autors), in vorgerücktem Alter, von Staudte wusste man, dass es ihm nicht so gut ging, dass seine Karriere quasi langsam dem Ende zuging; und von heute aus kann man das alles ein bißchen besser beurteilen, also es kann sein, dass der Staudte-Tatort DIE KUGEL IM LEIB – ich weiß nicht ob den jemand kennt? [Christoph: Ich kenn den.] – einer der besten Filme ist, die der je gemacht hat. Das ist auch eine völlig wahnsinnige Geschichte, kommt auch aus der Bavaria, von Georg Feil – Feil war der Chef dieser Serienabteilung der Bavaria, und auch der Produzent von der KATZE übrigens, innerhalb der Bavaria – und der hat eine Geschichte geschrieben, wo ein Steilwandfahrer, gespielt von Klaus Löwitsch, einen Banküberfall begeht und dabei eine Kugel abbekommt. Und der Kommissar Felmy folgt ihm jetzt so lange, bis er sozusagen zusammen bricht und zum Arzt muss und dann wartet er auf die Kugel. Das ist schon ein cooler B-Picture-Plot, ja, und solche Dinge haben die da gemacht. Das haben wir aber in unserer Verblendetheit, im Sinne von „Jetzt müssen wir alles ändern, jetzt müssen nicht nur die Büros anders werden, sondern komplett Krimi-Deutschland muss gesäubert werden“, das haben wir dann damals nicht gesehen. Inzwischen sehe ich es.
Noch Fragen?
CHRISTOPH: Bei NACHTWACHE war ich besonders hypnotisiert von der meiner Empfindung nach surrealen Rauminszenierung, die ich auch in der KATZE kürzlich wiedergesehen und in DAS ZWEITE GESICHT – den ich übrigens auch für einen Ihrer besten Filme halte – ähnlich empfunden habe und das mache ich in Ihren neueren Filmen nicht mehr so deutlich aus. Dieses Ineinanderfließen von Raum und Figur, aber oft aus der Distanz. Mich würde interessieren, warum das in Ihren späteren Filmen ein wenig zurückgegangen ist, bzw. ob ihr Interesse daran nachgelassen hat?
GRAF: Ich glaube schon, dass ich das immer noch mache. In DER SCHARLACHROTE ENGEL zum Beispiel, wenn die Kommissare zum ersten Mal in die Wohnung von Nina Kunzendorf reinkommen, da ist das ähnlich. Wie da diese seltsame Wohnung gezeigt wird, mit dieser Mauer draußen. Da muss ich Ihnen leider widersprechen. Dieses Olympiazentrum, diese ganze Olympiaarchitektur ist ja auch die geheime Sache, die die beiden Filme verbindet (Anmerkung: gemeint sind NACHTWACHE und DER SCHARLACHROTE ENGEL). Beides, sowohl die Hypobank als auch das BMW-Dach, auf dem Maja Maranow tanzt, haben direkt was zu tun mit dem Olympiadorf, in dem dann fünfzehn Jahre später Nina Kunzendorf angegriffen wird. Der Raum, das Gefühl für Raum ist da schon ähnlich. Das Einzige was ich mir vorstellen kann ist, dass die Standardlängen der Neunzigminüter, die Schnittfrequenzen, sich so zusammengezogen haben, dass es nicht mehr so lange Einstellungen durch einen Raum durch gibt. So wie Wennemann in NACHTWACHE in den Raum kommt und diese schräge Wand mit den Abdrücken von diesem Basketball sieht, das ist tatsächlich mit sehr kurzen Brennweiten und relativ surreal, wie Sie sagen, gefilmt, das stimmt. Heute hätte man da wesentlich mehr an Erklärung innerhalb des Films zu liefern, man müsste noch mehr reden und dann würden solche Fahrten im Endeffekt abgeschnitten, damit man wieder auf 47 Minuten kommt.
CHRISTOPH: Ich bezog mich etwa auch auf zahlreiche Sequenzen in DIE KATZE, die sich außerhalb der Bank abspielen. Dass der Suspense vor allem dadurch erzeugt wird, dass man sich an den Gebäuden und Wänden entlang bewegt und gar nicht weiß, wo im, bzw. am Gebäude man sich eigentlich befindet.
SANO: Also, vielleicht meinst du das so: Ich habe auch das Gefühl, dass die Räume in Ihren früheren Filmen eher nicht ihre konkreten Grenzen haben, sondern dass das fließt, so als ob da ein bisschen Nebel wäre, wo dann vielleicht der nächste Raum kommt – dass sie im wörtlichen Sinn nicht so konkret sind.
CHRISTOPH: Die Aufschachtelung der Räume in DAS ZWEITE GESICHT gleicht einem Labyrinth. Diese Wohnung, es ist eigentlich nur eine Wohnung, aber man hat das Gefühl, es sind zehn Wohnungen, das endet eigentlich überhaupt nicht.
GRAF: Ich werds mir merken. An sich fühle ich mich in Räumen, wenn ich inszeniere, immer noch sehr wohl. Räume zu etablieren, das ist immer noch so eine Art Inszenierungs-Steckenpferd. Wenn das nicht mehr dem Niveau von damals entspricht, dann muss ich da was tun. Solche Sachen wie IM ANGESICHT DES VERBRECHENS, solche Standardgeschichten haben natürlich eine andere Geschwindigkeit heute, eine andere Erzählgeschwindigkeit, eine andere Pace, die grundsätzlich die Etablierer vernachlässigt oder auf unglaubliches Tempo verkürzt. Das macht ja CSI auch, da nähern die sich auch einem Tatort und es macht Pft – Pft – Pft – Pft – so. Das ist auch surreal, aber auf eine vollkommen andere Weise, das ist einfach nur wie Google Earth. Und so ähnlich ist man manchmal gezwungen, zu inszenieren. Das hängt auch mit der Undiszipliniertheit der Autoren zusammen, die inzwischen Bücher abliefern, die viel zu lang sind. Das war damals beim FAHNDER nicht so, da konnte man sich darauf verlassen, dass man am Ende nur drei Minuten rauszuschneiden hatte, inzwischen hat man Rohschnitte auf 90 Minuten von 130 Minuten. Das dann um vierzig Minuten runterzukriegen, das hat immer auch Einfluss auf die Etablierung der Räume. Die Atmosphäre nimmt schon Schaden, weil das immer kürzer geschnitten wird. Obwohl ich ja darauf stehe, dass völlig unnütze Szenen drin bleiben – wie ich vorhin schon sagte – aber trotzdem geht da etwas verloren. Zum Beispiel diese alten Tatorte. Lief hier schon SCHWARZES WOCHENENDE mit Götz George? Der einzige Schimanski, den ich je gemacht habe. Der profitiert auch davon. Der ist gar nicht so viel länger als die Tatorte heute, der läuft 95 statt 88 Minuten und trotzdem hast du das Gefühl während des Schnittes – den übrigens Basedow, der spätere Autor gemacht hat – wenn das jetzt am Ende 97 Minuten werden, ist es auch nicht schlimm. Und diese Freiheit gibt natürlich dem Etablieren von Räumen ein anderes Grundgefühl.
ALEX P.: Hat die veränderte Raumwahrnehmung vielleicht auch etwas damit zu tun, dass es die Architektur, wie man sie zum Beispiel in der FAHNDER-Folge sehen konnte, so eigentlich gar nicht mehr gibt? Gerade die Innenräume sehen heute komplett anders aus, dieses extravagant Moderne, die Neonröhren zum Beispiel oder diese Rolltreppe, das gibt es heute in dieser Form eigentlich nicht mehr.
GRAF: Ich vermute da auch ein bißchen euren Blick. Ihr guckt da von heute aus da drauf, da wart ihr gerade erst geboren, für euch sind das exotische Wohnlandschaften.
ALEX P.: Es geht aber auch um die Art, wie Sie diese Räume zeigen, das sieht man in anderen Filmen so nicht. Ich habe oft das Gefühl bei deutschen Filmen aus der Zeit, dass jede Form von Nachkriegsarchitektur einfach ausgeblendet wird.
GRAF: Ja, das sind aber Details. Da ist dann die Wahl der Brennweite bis zu einem bestimmten Punkt schon entscheidend. Als ich sieben Jahre vorher die ersten FAHNDER gemacht habe, ging es eigentlich immer nur darum zu kaschieren, dass wir in einem Land leben, das eigentlich nicht fotografierbar ist. Wir haben dauernd nur lange Brennweiten benutzt, damit alles möglichst günstig zusammen geschoben wird und man zumindest so ein bißchen das Gefühl hatte, dass das auch in IN DEN STRASSEN VON SAN FRANCISCO spielen konnte. An sich konnte man das Deutschland, in dem man da rumgelaufen ist, nicht fotografieren. Diese Halteverbotsschilder, diese Verkehrsschilder, man hatte das Gefühl, das sieht aus wie ein Übungspark. Und dann hat sich so nach vier, fünf Jahren bei mir ein Gefühl der Souveränität eingestellt, mit dem was wir haben, umgehen zu können. Bis zur Wende hatte sich ja nicht so furchtbar viel geändert, erst danach kamen die ersten großen Einschnitte. Also, warum es nicht so zeigen, wie es ist. Und dann kam wahrscheinlich mit kürzeren Brennweiten das Gefühl, das ihr jetzt habt bei den Filmen, dass man das dann plötzlich in Ruhe angucken kann. Das kann sein.
Anmerkung: Zwei Wochen nach diesem Gespräch führten Christoph, Andreas und Alex P. ein weiteres, deutlich ausführlicheres Interview mit Dominik Graf. Leider ist dieses Interview aufgrund eines technischen Defekts des Aufnahmegerätes wohl für immer verschollen.
Toll! Toll! Graf redet ja fast schon so, wie er in SCHLÄFT EIN LIED IN ALLEN DINGEN schreibt (das ist jetzt nicht sooo verwunderlich, aber ich glaube bei den meisten, die ich kenne, liegt da noch ein riesiger Unterschied. Wahrscheinlich ist er irgendwie relaxter oder souveräner darin geworden, über (seine) Filme zu reden, vielleicht ist es auch einfach die Situation des Interviews, aber im Grunde auch egal) und da ärger ich mich auch etwas, dass ich ihn Montag nicht angesprochen habe (aber wann, wenn er arbeitet oder mal Pause macht und schnell was isst. Da zu stören, wäre irgendwie furchtbar). Auf jeden Fall ist das Gespräch sehr inspirierend. Diese kleinen Dinge, wie: „Obwohl ich ja darauf stehe, dass völlig unnütze Szenen drin bleiben […]“, da denke ich nur jaaa, genau. Da muss doch mit Herzchen geworfen werden 🙂
@Robert
Du hast den Nagel auf den Kopf getroffen!
Sehr toll ja und sehr symptahisch, wenn er so erzählt, wie die quasi aus der Not geborenen Inszenierungslösungen seinen Stil geprägt haben und er dann gemerkt hat „hey, das funktioniert ja richtig gut“ und sich nach und nach seine Souveränität und schließlich Meisterschaft erarbeitet hat.
Neulich beim Q& A in Berlin und der anschließenden persönlichen Begegnung sagte er allerdings auch, dass leider heutigen Filmemachern niemals so viele Chancen sich auszuprobieren gelassen werden bzw. soviel Zeit, sich zu entwickeln, dass also heute der erste Film gleich sitzen muss, sonst sei man wieder weg vom Fenster. Das ist schon sehr traurig, vor allem für diejenigen unter uns (wie mich) die noch davon träumen selber Filme zu machen. Aber wer nicht kämpft hat schon verloren…