Erst fang’ se janz dunkel an, aber dann, aber dann…





Sehr weit ist diese Nacht. Und Wolkenschein
Zerreißet vor des Mondes Untergang.
Und tausend Fenster stehn die Nacht entlang
Und blinzeln mit den Lidern, rot und klein.

Wie Aderwerk gehn Straßen durch die Stadt,
Unzählig Menschen schwemmen aus und ein.
Und ewig stumpfer Ton von stumpfem Sein
Eintönig kommt heraus in Stille matt.



Betulich gleitend brechen Maskierungen das Licht, verdecken es horizontal, dann vertikal, versuchen es auf vielfältige Weise auszusperren. Eine Theaterbühne, Stimmen aus dem Off. Bühnenprobe. Wieder und wieder brechen sich die Strahlen an neuen Stellen Bahn, bis die Maskierungen schließlich aufgeben. Ein Lichtquadrat auf der Bühne, zwei Schauspieler treten aus ihm hervor. Hinter ihnen ein distinktiver schwarzer Strich in der Landschaft, zwischen Bühnenboden und -hintergrund, eine Trennungslinie. Wir sind bei einer Theaterprobe, wichtiger als der Text ist jedoch die Inszenierung im Raum. Nicht Sprache, sondern Bewegung. Die Welt als Bühne, das Leben als Inszenierung, und die Menschen als Statisten. In Eva Hillers faszinierend direktem, filmischem Essay geht es um das Funktionieren des Systems, um die technischen Errungenschaften unserer Zivilisation. Um die Geister, die wir riefen, die Dunkelheit zu bannen. Um unsichtbare Tage.

Als düsterer Zwilling von Chris Markers Sans Soleil (1983), irgendwo zwischen Nikolaus Geyrhalters Unser täglich Brot (2005) und Jürgen Böttchers Rangierer (1984) angesiedelt, changiert der Kamerablick in Unsichtbare Tage (1991) immer wieder zwischen Präzision der Kadrierung und Authentizität des Augenblicks, zwischen Traveling shot und Momentaufnahme, um vor allem die materielle Präsenz der Dinge hervorzuheben, die Gewalt der Oberfläche. Brutal könnte man Kamera und Montage nennen, unbarmherzig, gnadenlos, denn die Härte des Gezeigten wird durch die Inszenierung nicht aufgehoben. Formal werden die Prozesse teilweise nachvollzogen, jedoch ohne ihnen einen konkreten Raum zuzuweisen. Unmittelbarkeit, Gleichzeitigkeit, Virtualität. Es gibt nichts zu entdecken, alles liegt offen zutage, und gerade dadurch überfordern uns die Zeichen und Informationen, die von Maschinen in einer Geschwindigkeit produziert und decodiert werden, die den Vorgang menschlicher Bewusstwerdung um ein Vielfaches übersteigt: Die Dinge denken nicht, sie handeln.

Fear and Desire hieß der erste Spielfilm Stanley Kubricks. Die Angst und das Begehren, Furcht und die Erlangung der Macht über die Furcht. Wer die Nacht beherrscht, beherrscht den Tag. Die Welt von Unsichtbare Tage ist, ähnlich wie die Filmwelten Stanley Kubricks, ein Kino der Nacht. Seine Bilder spiegeln das Schweigen der Menschen. Systemzwang, strukturelle Gewalt, die Flucht vor dem Ich, der Wunsch nach Herrschaft über etwas, das sich nicht beherrschen lässt, das Faszinosum, das Paradox der Kontrolle: In den Auftaktminuten von Eva Hillers Film steckt in komprimierter Form bereits alles, was von nun an in einem stetig schneller werdenden, nie versiegenden Schwall auf den Zuschauer einprasseln wird. Bilder, die immer neue Formen annehmen werden, wild springen von Ort zu Ort und doch eine eigene Geschichte erzählen, wie sie eindringlicher, konzentrierter kaum ausfallen könnte. Die Bühne des Theaters wird zu jener des Lebens, zur großen Kinoleinwand, zum Blickfenster in die Existenzen einer deutschen Großstadt. So wie illuminierte Zugfenster oder die Schutzscheibe eines Verbrennungsofens (Vierecke, wie das mysteriöse Ursprungslicht der Bühne) der Kamera ohne Rücksicht auf Intimität Einblick gewähren müssen, tut es ihnen unser eigenes Zugangsfenster (das Rechteck einer Leinwand oder eines Fernsehers) dem Auge der Kamera gleich. Auch der Kamera werden keine Geheimnisse gestattet: Die Filmaufnahme und die Filmprojektion sind ebenfalls maschinelle Anordnungen.


You’re too far offstage, Ann-Christin!


Eine Schauspielerin verliert sich im Dunkel des Bühnenrandes. Dann ein Schnitt auf Wolkenkratzer, im wahrsten Sinne des Wortes. Angeschnitten aus dem Riefenstahlschen Unten, laufen ihre Dächer wie dunkle Begrenzungsstreifen horizontal am blauen Himmel entlang, das Bild in Hell und Dunkel teilend, halb Schutz vor dem Sonnenlicht bietend, halb nicht. Innen: Fahrstühle die vertikal nach oben schießen, rote Leuchten nicht mensurabler Großrechner. Plötzlich ein erneuter Schnitt. Bunte Diskolichter drängen aus einer präzise in der Bildmitte verschraubten Laser Bar, zappeln wild herum, fräsen sich ohne Zwischenstopp in die Seele.

Schau in die Sonne. Welche Sonne? Na, die Sonne. Ach, das gelbe Ding da oben. Siehst du sie? Aber ja doch, ist doch immer da, seh‘ ich doch immer. Aber schau mal hin, schau mal rein. Wenn wir zu lange in die Sonne blicken, erblinden wir. Die Realität, die immer vor uns liegt, übersehen wir daher bewusst. Das Licht ist eine ständige Präsenz, die immer schon ist, und die uns inzwischen regelmäßig überfordert. Technik ist bei Hiller wie bei Kubrick fahler Ersatz, vergebliche Flucht. Und die Menschheit dadurch ein System, das sich selbst auslöscht. Das Offensichtliche als Offensichtliches präsentieren. Der Leerlauf der Bewegung und die Unmöglichkeit der Ausdehnung des menschlichen Geistes ohne gleichzeitige Ausdehnung des Bewusstseins. Also dehnen wir unsere Körper.

Architektur ist für den Menschen, gegen ihn, ist bei ihm, um ihn. Ist etwas anderes als der Mensch. Wie die Stadt. Wege, gebaut, um begangen zu werden. Straßen, die befahren werden müssen. Gebäude, die bewohnt werden sollen. Beständigkeit, Stabilität, Unvergänglichkeit. Zweck. Der Mensch hat keinen Zweck, aber viele Zwänge. Den Zwang zu kreieren, zu imaginieren. Aber in festen, vorgegebenen Bahnen. Vorherbestimmt. Beinahe wie fremdgesteuert. Sich einer Ordnung überlassend, die nicht mehr die Seinige ist.

„Bei den Blackouts von New York kam auf einen Schlag das ganze städtische Leben zum Erliegen. Aufzüge funktionierten nicht mehr, U-Bahnen standen dunkel im Niemandsland zwischen den Stationen, Informationsketten waren zusammengebrochen und die Lebensmittel tauten in den Kühltruhen.“ Ein Zusammenbruch wird zwar in greifbare Nähe gerückt – jeden Moment, so meint man, müsse er hereinbrechen, wenn sich ein Elektriker zu diesen Worten am Verteiler zu schaffen macht – dennoch bleibt er aus. Frankfurt, das selbst für Einheimische kaum wiederzuerkennen sein dürfte, bestenfalls eine Stadt wie jede andere sein darf, schlimmstenfalls ein Höllenloch, ruht niemals. Sich wie durch eigenen Willen öffnende, schließende, wieder öffnende Kaufhaustüren in der Nacht, die Lichtermeere sich in ihren Wohnungen Fürchtender, ein Zug, der durch die Nacht rast, die Kamera zur Seite weglockt, fort von den tiefrot glänzenden Weichen, hin zu einer Hauptverkehrsstraße, die im Geflimmer zu ertrinken droht. Beleuchtete Bars und Bahnhöfe, Fabriken, deren exaltiertes Gedröhne uns an nächtliche Arbeit glauben lässt, Thomas Mauch, der zwischen diesen Orten hin und her pendelnde Schattengestalten aus einem horizontal vorbeifahrenden Auto festzuhalten versucht. Flüchtige Impressionen einer rastlosen Gesellschaft.


Um sich das Warten zu verkürzen, schaltet die Frau den Fernseher ein. ‚Erstmal kann gar nichts passieren‘, sagt sie sich.


Umschmeichelnd umkreist die Kamera einen runden Bürotisch in der Mitte eines Flughafentowers, vorbei an den Monitoren, mal Licht, mal Schatten auffangend, stets jedoch die warnend vor sich hin glühenden Kontrollleuchten. Kreisläufe wie dieser bilden eine weitere geometrische Grundlage der Inszenierung. Zuallererst im Wortsinne: Briefe jagen zahllose Male durch ein Sortiersystem, Pakete werden gestapelt, Flugzeuge und Züge schaffen ständig abzuladenden Nachschub heran. „Mittelbare Information, Durchsichtigkeit, Allgegenwart, heißen die Stichworte der neuen Systeme, die die Nacht aus ihrem Dunkel reißen. Hauptinstrument in ihrem Arsenal ist der synthetische Blick. Mit schimmernden Bildschirmen hellen sie die Nächte auf und setzen die Realität neu zusammen.“

Zyklen sind es, die Thomas Mauch eins zu eins in Kameraarbeit übersetzt, wenn er sein eigenes Arbeitsgerät Rundläufe wie bei den Bundesjugendspielen um ein Ventil im Wasserwerk oder eben obiges Büro absolvieren lässt. Große Maschinenräder, das Sortiersystem der Stadtreinigung, die Sendungsrutsche im Postgebäude bedeuten den Schlusspunkt, die Krönung dieser Methodik: Sie sind auch vor der Kamera nicht auf menschlichen Input angewiesen, bilden vielmehr ein Perpetuum mobile wirtschaftlicher Effizienz. Durch das maschinelle Objektiv des Filmschaffenden, durch diese Maschine, wird gleichsam die Realität neu zusammengesetzt. Ein Vorgang, den Eva Hiller zulässt. Es ist nicht die einzige Ambivalenz in diesem vielschichtigen Werk. „Die Frau schaltet alle Lichter an und beschließt, ihr Leben zu ändern.“, teilt die Erzählerin zu Beginn einmal mit, doch auf der visuellen Ebene geht im selben Augenblick die Beleuchtung eines Supermarktes aus. Ein Bruch, ein Widerspruch gar, die Ebenen des Filmes laufen disparat ab, werden es mindestens in Bezug auf diese Lebensgeschichte fortan immer tun. Die Stille der Wohnung, in der die Betrübte auf ihren Mann wartet, findet keine Entsprechung, scheint im Frankfurt des Filmes gar nicht zu existieren.

„Die Zerstörung der öffentlichen Straßenbeleuchtung während der französischen Revolution war für die Revolutionäre ein Akt, der dem Errichten von Barrikaden gleichgesetzt war und auch dementsprechend wie Majestätsbeleidigung bestraft wurde. Dunkelheit bedeutete Unordnung und Freiheit.“ Einmal eilt Orson Welles in der berühmten Sequenz aus Der dritte Mann (1949) durch unterirdische Tunnel, panisch fliehend, weniger vor der Wiener Polizei, sondern vor dem Licht, das sengend durch den Ausgang hineindrängt, alles zu fluten droht und dorthin, wo es aus eigener Kraft nicht hingelangt, weitergetragen wird durch die eifrig suchenden Lampen der Häscher. Erst versklavten die Menschen das Licht, um sich in dunklen Nächten nicht länger ihren tiefsten Ängsten stellen zu müssen. Im Gegenzug versklavte das Licht sie, indem es seine lumineszierenden Agenten in Horten der Unterjochung, wie Arbeitsämtern, Schulen und Polizeistationen, installierte. In einem weiteren einkopierten Zwischenspiel begegnet uns Gustav Fröhlich, erstmals staunend der Herz-Maschine aus Fritz Langs Metropolis (1926) ins scheußliche Antlitz starrend. An ihren klauenartigen Kolben baumeln Männer wie Christbaumkugeln im Windzug des offenen Fensters auf und ab. Nominell wird sie durch die Arbeiter bewegt. Fröhlich erkennt, dass es umgekehrt ist.

Wohin soll man ausweichen? Eine weitere visuelle Metapher liefert die Antwort: Hoch oben über den Dingen schwebend, machen wir eine vertikale, auf uns zulaufende Straße aus. Sie gabelt sich, dazwischen Dunkelheit. Mehr denn je führen unsere Lebenswege in der Moderne auseinander, doch wohin führen sie? In die U-Bahnhöfe zwischen Obdachlose und Punks, die vom Sicherheitspersonal vertrieben werden, bevor ein Rollgatter herunterfährt zwischen sie und die Außenwelt? Der U-Bahnhof ist leer, anonyme, schwarz befensterte Züge fahren durch, niemand steigt ein, niemand aus. Frappierend erinnert die Aufnahme eines haltenden Zuges an eine nahezu identische Einstellung in Lucio Fulcis zutiefst pessimistischer Großtstadtballade Der New York Ripper (1982). Befänden wir uns nun in New York, würden wir es merken? Würde es überhaupt einen Unterschied machen? Auf einem Computerbildschirm verläuft die Simulation des U-Bahnverkehrs exakt so ereignislos wie in der Realität. Auch hier folgt längst alles technischen Erwägungen.


Helligkeit scheint menschengewollte Ordnung zu garantieren. Mit der Erfindung künstlicher Beleuchtung fängt eine neue Zeit an. Licht ist Macht gegen die wüste Natur.


Licht, ob in sich ruhend oder wild herumflackernd, wird stets mit Unruhe assoziiert. Wo es ist, steht die Stadt nie still, ist kein Raum für Überlegung, für ein Leben fernab fest verlegter Schienenstränge. Züge, Autos oder gesichtslose Menschen irren fortwährend von einem Rand der Kadrierung zum anderen, als würden sie an einer Richtschnur entlanggezogen. Ein prüfender Blick und plötzlich wird es augenscheinlich: Zieht man eine imaginäre horizontale Linie durch die Mitte der Kompositionen – gelegentlich ein klein wenig höher oder tiefer – zwischen den mannigfaltigen, vordergründig zusammenhanglosen Eindrücken der Stadt, offenbart sich ein strenger Ordnung unterliegendes, inszenatorisches Muster.

Die Kamera vermisst Räume, ganze Straßenkreuzungen, das Leben in wie auf ihnen penibel einer horizontalen Linie folgend, oben wie unten immer wieder hervortretend, durch nichts zu bremsen:
Blinkleuchten, Computerbildschirme, Straßenlampen, kurz, Lichteinfälle jedweder Art. Dabei nimmt die Bildmitte zumeist die dunkelste Stelle der Komposition ein: eisig weißes Briefpapier in der Bewegung geteilt durch die metallene Halterung einer Schreibmaschine, den Blick auf eine durchleuchtete Wohnung blockierende Treppenstufen, das Dunkel zwischen Fracht und Boden eines abfahrbereiten Güterzuges – all dies trennt die Bilder immer in drei hervorstechende Glieder. Am Frankfurter Flughafen stößt Bewegung hinzu: Während im Hintergrund ein weißer Flieger ausrollt, erstrahlt der Vordergrund im Schein der Terminal-Beleuchtung. Die im gedimmten Streifen dazwischen wie von Geisterhand gesteuerten Lotsen, von einer Seite zur anderen wuselnd, sind für den Zuschauer kaum auszumachen. Sie geraten zu Sklaven der Technik, die hier längst die Hauptrolle übernommen hat.

Später wird das Flugzeug wenden, auf uns zukommen, sich direkt in Richtung Kamera bohren. Eine Verlagerung des Vertikalen ins Horizontale. An der Rolle der Lotsen vermag dies nichts mehr zu ändern. Es gibt einen weiteren sehr interessanten Bruch, eine Ambivalenz in der Inszenierung von Horizontalen: die Aufnahme einer Tankstelle – oben tiefschwarzer Himmel, als mittlerer Trennungsbalken die durch die Nacht strahlende Tankstelle, unten gedimmter Asphalt. Plötzlich durchbricht ein vorbeifahrendes Auto die Komposition.

Vertikal ragen oft jene Schattenstifter hervor, die sich der Mensch zum Schutze vor dem Licht geschaffen hat: Riesige verspiegelte Wolkenkratzer, ein Funkturm, ein Aufzug, der sich aus dem Boden schiebt, während Thomas Mauch den Kamerablick langsam gen Boden wandern lässt. So lange, bis der Aufzug eine die Nacht hell durchflutende Schaufensterfront, also die eine Technik die andere, nahezu vollständig verdeckt. Auch dieses Phänomen ermöglicht die Imagination einer virtuellen Linie, dieses Mal vertikal in der Mitte der Bilder verlaufend. Lagert man beide Striche übereinander, ergibt sich schließlich ein ebenes kartesisches Koordinatensystem, auf dessen Achsen sich die Dunkelheit breitmachen darf. Eine höchst treffende visuelle Stringenz, möchte man meinen, die vortrefflich zu einem Film passt, der die Übermacht technischer Errungenschaften thematisiert.

Ein Radio-DJ heizt sein Publikum an: „Wir wär’s mit Oldies bis zwei?“ Ein nie enden wollendes Einlullen. Wer abends das Licht ausmacht, kann sich immer noch anderweitig vor dem Nachdenken schützen. Wo Dunkelheit ist, droht auch Reflexion, dann Schlaf, am Ende Rekreation. „Was haltet ihr davon, wenn wir mal so richtig alte Sachen spielen?“ – „Oh no!“, krächzt eine Computerstimme in dutzendfacher Variation. Der DJ stößt ein drohendes: „Doch!“ hervor. Sein Publikum kommt nie zu Wort. Es ist egal. Im Radio ist die aufgezwungene Entscheidung für das Alte oder das Neue ein und dasselbe, sie gehen eine Synthese ein. Die Flucht in die Zukunft, die Flucht in die Vergangenheit, zwei Seiten einer Medaille.


Die Frau schaltet alle Lichter an und beschließt, ihr Leben zu ändern. Der Mann, auf den sie wartet, ist nicht der Mann, mit dem sie seit kurzem verheiratet ist. Alles ist so verwirrend.


Die einzige individuell menschliche Geschichte, die Eva Hiller erzählt – möglicherweise ist sie autobiografisch, möglicherweise nicht, auch das lässt ihr Film offen – berichtet sachlich von einer im Zerbrechen begriffenen Frau. Zu Gesicht bekommt man sie nie, einzig auf der tonalen Ebene wird ihre Geschichte verhandelt. Der Off-Kommentar streut zwischen die abstrakten Bilder, in unregelmäßigen Abständen, ordnende Betrachtungen, Anekdoten, urbane Legenden ein. Wie die von den weißen Krokodilen, die sich in der New Yorker Kanalisation tummeln sollen, nachdem ihre menschlichen Besitzer sie, dem Baby-Alter entwachsen und lästig geworden, die Toilette hinuntergespült haben. „Daran seien sie jedoch nicht eingegangen, sondern hätten sich ganz im Gegenteil gut an die neue Umgebung gewöhnt. Als ausgestoßene Mutanten des Systems, das sie selbst hervorgebracht hat, von der Dunkelheit blind und pigmentlos, ohne natürliche Feinde, aber nicht weniger gefährlich, treiben sie durch die unsichtbaren Netze unter der Stadt.“ Erzählungen wie diese schieben sich gelegentlich in die Bilderflut, verirren sich in sie, und werden dadurch quasi verifiziert. Ist die Geschichte dieser verzweifelten jungen Frau nicht letztlich auch nur eine Metapher für die existenziellen Nöte des Stadtlebens, wie die Krokodile eine sind, für die Flucht aus dem System, das Leben des Aussteigers, das Leben in Dunkelheit?

Ich musste dabei an Tanz im Regen (1961) denken, einen frühen Film des großen jugoslawischen Meisterregisseurs Boštjan Hladnik. Ein Tanz mit Menschen, die sich lieben und doch zugrunde gehen an dem eingepferchten Leben in der Stadt. Vielleicht kann man ihn als Spiegelung von Hillers Film sehen: Die Menschen haben ein Gesicht, sind präsent, die sie erdrückende Technik nicht. Sie drängt vielmehr als dauerhafte Beschallung ans Ohr, als Klaviatur städtischer Grausamkeiten: Jedes kleinste Geräusch wird bis zum Exzess akzentuiert. Erst unmerklich, dann mit Gewalt, indem sich der Lärm diabolisch festsetzt, bis man sich selbst nicht mehr im Kino oder heimischen Sessel wähnt. Auch in Unsichtbare Tage ist dieses Stilmittel nicht fremd. Distinktiv wird das Geschehen von maschinellen Geräuschkulissen untermalt, verstärkt, konterkariert. Eine Schnittfolge reiht Lärmquellen verschiedensten Ursprungs aneinander, bis man sie nicht mehr zu unterscheiden vermag. Dann ein stiller Waschsalon, ein heller, nächtlicher Rettungsanker innerhalb der Dunkelheit. In ihm zwei Männer, voneinander abgewandt, an den entgegengesetzten Enden der Einstellung. Man schweigt sich an, folgt lieber aufmerksam den Schleuderbewegungen der Waschmaschinen. Auf der Tonebene überlauter Maschinenlärm – ein schmerzend unnatürliches Schweigen.


Oh Xandrine, how long it has taken me to come to you.


Zwischen den wulstigen Pocken im Gesicht eines Schwarzen perlen, eine glänzende Spur hinterlassend, Schweißtropfen hinunter. Schon gleißt das ganze Gesicht und sieht wie eine quellende Schürfwunde aus. An den Henkeln einer großen Einkaufstasche aus Plastik greifen sich kratzend die ausgewaschenen Hände einer alten Frau fest. Die schuppige Hand eines ehemaligen Freundes, die gekrallten Finger, das schorfige, verbeulte Bein, der Mund wie ein Müllschlucker aufgerissen, mit großen gelben Zähnen und roten Fleischlappen.

Phantasmagorien, in gleißendem Schwarzweiß, die sich in Tanz im Regen immer wieder zwischen die triste Handlung schieben, die sanfteren Tagträume konterkarierend, innerhalb des Films als grelle Details und verstörende Geräusche eine Invasion der Dunkelheit vorantreibend, eine allumfassende gesellschaftliche Psychose, welche sich über die schon von Beginn an verlorenen Protagonisten ergießt, in der sie schlussendlich ertrinken und ersticken. Inszeniert wird diese Rückkehr des Verdrängten in Form verführerischer Albdrücke, als audiovisuelle Wiedergänger der expressionistischen Filmästhetiken der Nachkriegsjahre, im Niemandsland zwischen Erstem und Zweitem Weltkrieg, zwischen Kaiserreich und Kapitalismus. Von den Schrecken die sich zwischen Reinerts Nerven (1919) und Orlacs Händen (1924) auf den Leinwänden ausbreiteten auf der einen Seite, und der Konfrontation mit dem Grauen, von Wallbrücks Schleichendem Gift (1946) bis zu Pabsts letztem Akt (1955), auf der anderen: Von Österreichern in Deutschland inszenierte oder von Deutschen in Österreich gedrehte Reflexionen über die existenziellen Wirren und den höhnischen Nachhall beider Kriege. Eine ähnliche Strategie verfolgen auch Mauch und Hiller, wobei sie gleichzeitig den Farbrausch der Stummfilme sowie die abstrakte Kühle der späteren schwarzweißen Tonfilme verstärken.

Der als Alternative entworfene jugoslawische Traum vom Sozialismus ist bei Hladnik bereits 1960 endgültig ausgeträumt, bietet für seine an der Gesellschaft erkrankten Gestalten keinen Halt mehr. Die Widersprüche zwischen Schein und Sein, Versprechen und Alltag, sind auch in diesem Versuch schon lange gescheitert. An deren Aufhebung können daher nur noch die realitätsfernsten Träumer festhalten, eine Künstlerin und ein Ausgestoßener, Duša Počkaj als Maruša und Miha Baloh als Peter, die letzten Zwei, die die Apokalypse nicht wahrhaben wollen. Die sie wortwörtlich verschlafen haben, und nun als letzte Menschen auf Erden aus ihren Träumen erwachen müssen. In Hladniks Film haben die Protagonisten dementsprechend auch Tagträume, derer man erst gewahr wird, wenn sie durch einen zarten Übergang ins Bewusstsein dringen. Beispielsweise den Stand der Sonne, wenn Duša Počkaj nach ihrer Kleiderprobe an einer Hauswand lehnt. Bei Eva Hiller ist das anders, alles ist endgültig verschwunden, alles kann oder kann nicht Traum sein, das Verschwimmen zwischen Traum und Realität ist bereits abgeschlossen. Der Abgrund hat zurückgeblickt, die Hölle hat ihre Dämonen entlassen, die Stadt hat die Menschen längst verschluckt. Die Weltkriege sind Geschichte, die Postapokalypse ist zum unhinterfragten Dauerzustand geworden.

Stolperten die Figuren im französischen und amerikanischen Film Noir der 1930er, 1940er und 1950er Jahre noch hilfesuchend durch den Großstadtmoloch, konnte man ihnen dort noch beim händeringenden Aufbäumen und den letzten Zuckungen vor ihrer Auslöschung beiwohnen, so sind die Menschen in Unsichtbare Tage bereits aus den Bildern verschwunden.


Als die Ereignisse beim Abbau der Berliner Mauer für kurze Zeit die Medien überholt hatten, standen die Augenzeugen vor Ort und stammelten immer wieder in die laufenden Kameras: ‚Wahnsinn, einfach Wahnsinn!‘ Als könnten sie der puren Realität eh nicht glauben.


Oben Häuser, in der Mitte ein schummriger Balken – eine Kaimauer – unten die nasskalte Spiegelung. Der Main gibt keinen Einblick frei, die Umrisse der Oberwelt perlen an ihm ab wie an der Beschichtung einer Teflonpfanne, er muss sie verbergen, die Unterwelt der Gefühle. Ein von der Kamera von unten eingefangener Brunnen fließt bedrohlich vor sich hin, erscheint dadurch plötzlich als reißender Wasserfall. Ein nie versiegender Fluss, dem Großstadtleben gleich, allein die Vorzeichen sind andere. Verschiedene Lebenspfade führen zwangsläufig zu unterschiedlichen Schmerzgrenzen. Ein Abflussbecken, sich streng vertikal hindurchziehend Pumpen: Links und rechts strömt das Abwasser in verschiedene und doch von Maschinen diktierte Richtungen. Kamerafahrt über aneinandergrenzende Aufbereitungsanlagen, Biotope andersartiger Lebensentwürfe, wenn man so will. Die Lichtverhältnisse ändern sich, mit ihnen die Farbe, die Transparenz des Inhalts. Es ist zu spät, auch das Wasser folgt nicht mehr seinen eigenen Gesetzmäßigkeiten. Was bleibt?

Die letzten Minuten werden deutlicher: Ein Bruchstück der Berliner Mauer wird von einem Bagger verrückt, zum Vorschein kommt nur Dunkelheit. Der Traum von der Revolution, er lebt für einen kurzen Augenblick unter den Abertausenden von anderen Träumen dieses Essayfilms. Der Blick wird frei für einen friedlich leuchtenden Mond am Himmelszelt. Eine natürliche Lichtquelle, zum ersten Mal. Doch dann: „In einer Befragung nach der ersten Mondlandung sagte ein überraschend großer Teil der Interviewten ganz überzeugt, dass sie das für eine Inszenierung im Fernsehstudio halten. Keinesfalls aber für den echten Mond.“

Unsichtbare Tage ist ein Verschwörungsfilm ohne eigentliche Verschwörung. Ein Film, der vom Aus-der-Zeit-Fallen erzählt, und dabei selbst wie aus der Zeit gefallen wirkt. Er hätte auch gestern gedreht werden können, oder morgen. Um dem Tod zu entfliehen, um die Nacht zu zerstören, müssen wir auch den Tag zerstören, müssen wir letztendlich Maschine werden. Der nächste Schritt in einer Evolution, die die Angst vor der Evolution beseitigen will. Wenn die Sonne eines Tages verglüht ist, glaubt der Mensch weiterleben zu können, indem er die Realität durch die Virtualität ersetzt. Denn wie formuliert es die Sprecherin im Film: „Wenn alles Illusion ist, gibt es die Illusion nicht mehr.“ Und diese Hoffnung scheint es zu sein, welche die Menschen in ihrer Flucht vor der Auseinandersetzung mit sich selbst letztlich antreibt.

Wieder das Laser-Stakkato der Disco, eines dieser separierenden Rollgatter, halb offen, Dunkelheit quillt hervor. Verheißung oder Hoffnung? Ein Krokodil gleitet durchs Wasser, Spiegelungen zersplittern in unkenntliche Fragmente, der Kommentar schließt: „Es muss Nacht sein, damit Tag werden kann.“


Playlist

Georg Heym: Die Stadt (Deutsches Reich, 1911)
Eva Hiller: Berührungsverluste (BRD, 1984)
Paul Schrader: American Gigolo (USA, 1980)
Giorgio Moroder: Call Me (USA, 1980)

    . . .

Bei diesem Versuch einer Hommage an Eva Hillers erschlagend komplexen Essayfilm handelt es sich um eine weniger bearbeitete Variante eines Textes, der sich dieser Tage ebenfalls in der jüngsten Publikation des Filmkollektivs Frankfurt wiederfindet. „Wandelbares Frankfurt“ heißt die umfangreiche Publikation, die zusätzlich mit elf weiteren Aufsätzen zu zahlreichen Dokumentar- und Experimentalfilmen aufwartet, die sich dem filmischen und damit in diesem inbegriffenen realen Frankfurt in Hinblick auf Architektur und Stadtentwicklung anzunähern versuchen. Beziehen lässt sie sich über die Homepage des Kollektivs und leitete eine umfangreiche und sehr empfehlenswerte Retrospektive ein. Dieses Wochenende findet im Zuge dessen nun in Frankfurt am Main auch eine seltene 35mm-Vorführung von UNSICHTBARE TAGE statt – begleitet von einigen experimentellen Kurzfilmen, den Filmschaffenden hinter diesen sowie vor allem Regisseurin Eva Hiller selbst als Gast. Kommt alle!

Samstag, 27. Oktober 2018, 18 Uhr
Studierendenhaus auf dem Campus Bockenheim
Experimentalfilme

Samstag, 27. Oktober 2018, 20.30 Uhr
Studierendenhaus auf dem Campus Bockenheim
Essayfilm UNSICHTBARE TAGE ODER DIE LEGENDE VON DEN WEISSEN KROKODILEN (D 1990/1991)

Dieser Beitrag wurde am Mittwoch, Oktober 24th, 2018 in den Kategorien Ältere Texte, Blog, Blogautoren, Essays, Filmbesprechungen, Sano veröffentlicht. Sie können alle Kommentare zu diesem Beitrag über den RSS 2.0 Feed verfolgen. Sie können diesen Beitrag kommentieren, oder einen Trackback von ihrer eigenen Seite setzen.

Eine Antwort zu “Erst fang’ se janz dunkel an, aber dann, aber dann…”

  1. Filmforum Bremen » Das Bloggen der Anderen (29-10-18) on Oktober 29th, 2018 at 16:37

    […] Zeit für Entdeckungen: Sano Cestnik stellt auf Eskalierende Träume sehr ausführlich den Essayfilm „Unsichtbare Tage oder Die Legende von den weißen Krokodilen“ vor, den Eva Hiller 1999 […]

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