Die vierte Wand (1969)





Zurück nach vier Jahren Studium in England, wo alles noch so mondän poppig, friedlich und ace war, findet sich Marco (Paolo Turco), Sohn eines Kunststoff-Fabrikanten, im heimatlichen Italien aufgelöst zwischen ziellosem Studentenaufstand und zielloser Großbürger-Tristesse, „wie ein anachronistischer Candide“. Seine letzte Nacht in England verbrachte er noch auf einem Polizeirevier – wir erfahren nicht warum – zwischen Säufern, Hippies und reisenden Musikern, die den blassen Morgen streichen. Italien ist nach vier 60iger-Jahren jedenfalls nicht minder mondän, kann es sein.
Motorräder, Kameras, Mode, kalter Sex, phlegmatische Gemeinheiten, Phrasen-Tennis, Verbilligung der Gefühle, Austreibung der Gefühle, Manufaktur der Gefühle, moralistische Unmoral, Kunstgewerbe, Kapitalismus, Chic, Lesben, Schwule, Pop-Art, Prinzipien der Lüge, Nagellack, Lachen, Plastics, inszenierter Dreck, Retorten-Ideologien, im Kreis fahren mit Auto und Motorrad, schwedische Sekräterinnen, Marketing, Prediger im Park, bankrotte Kleinunternehmer, bedröhnte Engel des Verfalls auf düsteren Parties, Obst klauende Herumtreiberinnen, Fotografinnen, Shareholding, Raserei im Regen, libidinöse Gärtner, Radio, reisende Hippie-Antiquare, Gewitter, Wald, Schrottplätze, Inzest, Kinder die vor einem Güterzug voller Rinder im Matsch spielen. Schein oder Täuschung vor, Wut oder Angst hinter der Kamera?



Weil er nicht weiß, was er fühlen soll und klar genug ist, um genau das zu erspüren, entscheidet sich Marco für passiven Affekt. Er strahlt Aufmerksamkeit und Sensibilität aus, auch Wärme, die ihn vor unsinniger moralischer Paranoia beschützen könnte, zumal er doch unberührt bleibt von den politischen Wirrungen seiner Zeit. Aber sein Instinkt ist verpestet von den Verschachtelungen eines bürgerlichen Bewusstseins, seine Seele ist heimatlos. Nach vielem inneren Hin- und Her und ertränkt er seine Schwester im familiären Pool, um etwas Richtiges zu fühlen. Im Luftbläschenumquirlten Todeskampf wird sie zur physischen Replik von Marco, der mit ihr ertrinkt, im Trockenen. Danach ist der Film zuende, einfach so. Das klingt logisch, aber im Film ist es eine Überraschung. Man erwartet eine Konsequenz. Die Eltern nippen in ihrer kubistischen Villa weiter ihren Scotch und betrachten im Spiegel verwundert ihre Falten, alles wie gehabt, ein gewöhnlicher italienischer Schlager bedudelt als fades Requiem aus einem gelben Picknick-Radio am Rand des Pools den abermals blassen Morgen, Fine.



Ich weiß nicht – ob das nun einer der anarchistischsten oder einer der reaktionärsten italienischen Filme war, die ich bisher gesehen habe. Was auch immer er sonst war, mit Sicherheit war er für mich einer der allerseltsamsten, der nirgendwo so recht hinzugehören scheint. Vielleicht will ich mich auch nicht entscheiden, weil ich den Film so behalten will, als Zierde: Unbehagen in Pastell. Nicht einmal wirklich ins italienische Kino dieser Zeit – dass ich inzwischen ganz gut zu kennen meine – passt er. Und irgendwie ist er auch wirklich ein ziemlicher incubo, ein stöhnender Alptraum, eine Chronik unfreiwilligen Nihilismus, auch wenn ich das erst im Abgang zu spüren glaubte.



Spüren, glauben, spüren. Verbilligung der Gefühle. „What does it all mean!“ resümiert ein gleichfalls verwirrter IMDB-User (Ich zitiere mich gerne IMDB-Rezensionen. Sie sind so unverbraucht.)
Ich wüsste wirklich gerne, aus welchem Antrieb heraus Adriano Bolzoni, sonst überwiegend als Drehbuchautor (u. a. SELLA D’ARGENTO von Lucio Fulci) tätig, diesen Film gedreht hat. Meine Spekulationen führten ins Nichts. Der Film an sich ist übrigens wahrscheinlich nicht ganz so exzentrisch, wie er sich unter meinen Fingern vielleicht anhört. Vielleicht aber doch. Wahrscheinlich ist er nicht einmal so sehr ideologisch, möglicherweise eine Art italienisches 68iger-Pendant zur bundesdeutschen Post-68iger-Hysterie von ENGEL, DIE IHRE FLÜGEL VERBRENNEN (1970), deren Regisseur Zbynek Brynych ich auch gerne in Gedanken mit meinem imaginären Term „Verbilligung der Gefühle“ assoziiere, im Positiven. Auch wie ein adoleszentes Gegenstück zu Roland Klicks BÜBCHEN (1968), dessen Protagonist Achim beinahe ein zehnjähriger Marco sein könnte. Ich weiß es nicht, ich weiß es nicht. Im Film ziehen mehrere Geister an verschiedenen Tauenden. Sein Effekt auf mich hatte etwas Spektuläres. Ich wusste nicht, was ich für den Film fühlen soll. Ich konnte mir darauf keinen Reim machen. Ein maximal kongenialer Effekt, wenn das für mich wirklich stimmt, was ich in den ersten beiden Absätzen geschrieben habe.

Anmerkung: Leider musste ich eine (immerhin hochwertig) englisch synchronisierte, niederländische VHS-Fassung akzeptieren, deren Bildformat vom originalen Scope (1:2,35) auf knapp 1:1,66 beschnitten war. Auf eine DVD-Veröffentlichung zu hoffen, dürfte illusorisch sein.



QUARTA PARETE – Italien 1969 – 88 Minuten – Farbe, Colorscope
Regie: Adriano Bolzoni – Buch: Adriano Bolzoni und Guy Pérol, nach einer Idee von Giustino Caporale und Marco Masi, Produktion: Prodi Cinematografica, Radius Productions – Kamera: Romolo Garroni – Schnitt: Renato Cinquini – Musik: Don Backy (Songs), Detto Mariano
Darsteller: Paolo Turco, Don Backy, Tery Hare, Françoise Prévost, Peter Lawford, Corinne Fontaine, Carla Romanelli, Bernard Blier, Paolo Carlini




















Dieser Beitrag wurde am Montag, Dezember 12th, 2011 in den Kategorien Ältere Texte, Blog, Blogautoren, Christoph, Filmbesprechungen veröffentlicht. Sie können alle Kommentare zu diesem Beitrag über den RSS 2.0 Feed verfolgen. Sie können diesen Beitrag kommentieren, oder einen Trackback von ihrer eigenen Seite setzen.

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