Die Kunst der Filmkritik

Das Wesen der liebenswerten, deutschen Filmkritik – deutsch und brilliant auf den Punkt gebracht von Loriot:

Ich bin auf der Seite des Herrn mit dem krausen Haar – solche Oberflächlichkeit, solch triviales Verlangen nach Unterhaltung muss mit harten Worten abgestraft werden!

Das Arrangement (1969)

Elia Kazan-Reihe, 9. Film – Ein knapper und konfuser Versuch, THE ARRANGEMENT zu (er)fassen.

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An einem Wochentag wie jeder andere verlässt der erfolgreiche Werbefachmann Eddie Anderson (Kirk Douglas) seine Frau Florence (Deborah Kerr) und sein Luxus-Anwesen um sich auf den Weg zur Arbeit zu machen. Weniger als eine Stunde später liegt er im Krankenhaus. Ein Selbstmordversuch. Kollegen, Familie und Freunde sind schockiert. Warum sollte ausgerechnet Eddie, der doch „alles“ hatte im Leben, Selbstmord begehen? Nach Eddies Genesung wird er nachts von Alpträumen gequält und verfällt in einen merkwürdig apathischen Zustand. Florence nimmt ihn ins Kreuzverhör. Und entfesselt nach und nach eine Flut von Erinnerungen in Eddie, an seine Affäre mit der attraktiven und eigenwilligen Gwen (Faye Dunaway). Er spürt, dass er zu jenem bürgerlichen Bilderbuch-Leben voller Verlogenheiten ebensowenig zurückkehren kann wie daraus völlig ausbrechen…

Existenzialistische Engpässe sind für uns gemeines Publikum ja tendenziell um ein vielfaches faszinierender, wenn sie sich in der elusiven Welt des Glamours, der Reichen, Berühmten, der zweibeinigen Wirtschaftswunder entladen. Da entfaltet sich dann das meiste dramatische Potenzial deshalb, weil man sich nicht an die eigenen, schäbigen existenziellen Konflikte erinnert fühlt, die sich in dieser Scheinwelt deshalb so unwirklich anfühlen, weil die Licht- und Schattenseite von Öffentlichkeit und Privatem so durchsetzt ist mit einer Profanität, die Normalsterbliche niemals verstehen werden können, weil sie weder Millionäre mit Luxus-Villa, Pool und Privatflieger sein werden und waren, und weil sie stets nur die Schattenseite, nämlich das Private, gekannt haben.

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Verbunden mit dieser simplen Skizze, die für das Image von Hollywood immer besonders prägend war und immer bleiben wird – nur vielleicht auf nicht mehr gar so mythische Weise wie einst – speisen sich aus THE ARRANGEMENT, dem Film des vom anfänglichen Hollywood-Wunderkind zum späteren Hollywood-Außenseiter avancierten Elia Kazan, eine Menge obskurer Diskurse. Als Produkt der Traumfabrik ist THE ARRANGEMENT, im Erscheinungsbild einer von Kazans teuersten und glamourösesten Filmen [Kazan gab später in Interviews an, dass er es, retrospektiv gesehen, vorgezogen hätte, den Film als kleine Independent-Produktion zu drehen anstatt als großen Hollywood-Film], in prachtvollen Technicolor-Scope-Bildern von BEN HUR-Kameramann Robert Surtees eingefangen, zunächst keine befriedigende Erfahrung. Als Sicht auf die Traumfabrik ist er befremdlich, weil er durch Kazans freie Vermischung von Biographischem und Fiktionalem in der Figur von Eddie Anderson (Kirk Douglas), einem Werbefachmann, sich der Traumfabrik nur abstrakt annähert und sich bewusst von dieser mythisch verklärten, monströsen Industrie distanzieren möchte. Als kritische Sicht auf die Übel einer bürgerlichen Existenz und deren mögliche Potenzierung mit wachsendem Wohlstand funktioniert THE ARRANGEMENT schon gar nicht. Denn gerade die äußerlich perfekt mechanisch arbeitende Maschinerie eines solchen Wohlstandes zwingt Eddie so unbarmherzig wie anders unvorstellbar zur Konfrontation. In Eddie steckt nicht nur Kazan selbst, in ihm ist auch der Kazan-typische, im Kern jugendliche und / oder unreife Sturm-und-Drang-Charakter enthalten, wie er in EAST OF EDEN (1955) von James Dean, in SPLENDOR IN THE GRASS (1961) von Warren Beatty und in AMERICA, AMERICA (1963) von Stathis Giallelis verkörpert wird. Und Eddie ist hier und da auch ein umgekehrtes, ent-dämonisiertes Spiegelbild von Andy Griffiths manisch-lustvollem und gedankenlos-zerstörerischen „Lonesome Rhodes“ aus A FACE IN THE CROWD (1957).

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THE ARRANGEMENT ist Kazans Experimental-Film – und sein filmischster. Nie hat er seine Ambition, Wirklichkeitsnähe, wenn nicht sogar puren Realismus zu erzeugen, kaschiert zugunsten eines illustren, „cinephileren“ Profils. Und die Vorwürfe, man würde seinen Filmen stets seine Bühnenherkunft negativ anmerken, scheint er meist gelassen genommen zu haben. Nach dem kruden und unmittelbaren, stellenweise beinahe dokumentarischen Straßen-Realismus von AMERICA, AMERICA zeigt THE ARRANGEMENT Kazan mit einem Maximum an Stilwillen, bzw. Willen zur Stilisierung. Von völlig grotesken, satirischen Einzelszenen über poetisch verschleierte Traumbilder bis hin zu Comic-artigen, dezidiert surrealen Einschüben und subjektiver Kamera reichen die formalen Instrumente, mit denen Kazan seinen Roman, eine Sammlung persönlicher Anekdoten, Betrachtungen und Zwischenbilanzen seines Lebens, in zwei Stunden purstes Kino einzufassen versucht. Wo AMERICA, AMERICA unter der extremen Eigenverantwortung, die Kazan sich aus Respekt vor dieser Quasi-Mini-Chronik seiner Familie aufbürdete, litt, profitiert die freimütig konfuse Erzählstruktur und sinnliche Gestaltung von THE ARRANGEMENT enorm von Selbstzerfleischung und -bemitleidung seines Autors. In dem atemlosen Changieren von Eddie zwischen rücksichtslosem Selbstverwirklungstrieb und weinerlicher Orientierungslosigkeit ist eine der vielleicht unzugänglichsten subjektiven Erzählperspektiven im semibiographischen US-Mainstream-Kino zu finden – Die Frage, ob und inwiefern THE ARRANGEMENT Aufschluss geben kann über die Persönlichkeit seines Schöpfers, wäre hinderlich.

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Eine klare Linie zwischen Selbstironie, übergeordneter Wahrnehmung einer Kunstfigur durch ihren Erfinder und sentimentaler Leutseligkeit lässt sich kaum ausmachen. Trotz aller vermeintlich banalen und melodramatischen Entwicklungen, die sich aus Eddies Sehnsucht nach einer Auflösung des „Arrangements“ und seiner gleichzeitigen Unschlüssigkeit ergeben, lässt Kazan ihm eine autarke, eigene Mystik – wie auch diesem um ihn gescharten Gruselkabinett schleimiger „Saubermänner“. Sich selbst lässt er gehen. In Interviews hat sich der gebürtige Grieche, der im Film der Melange der Kulturen eine eigene, komplizierte und für die spezifisch audiovisuelle Gestaltung maßgebliche Rolle zukommen lässt, oft selbstkritisch über jene Filme, bzw. Film-Abschnitte geäußert, in denen er sich „gehen ließ“. Unter der Vorbedingung, sein geschriebenes Wort, seine eigenen Erlebnisse zu visualisieren, ist ihm, vielleicht nur teilweise bewusst, die Kontrolle entglitten. Man kann sich nur schwer vorstellen, dass dieser zwischen erzählerischer Gegenwart und Vergangenheit sowie verschiedenen Stilrichtungen wie ein Tennisball hin- und herhüpfende Film mit seiner fragmentarischen Struktur – die in jedem Abschnitt auf die Unmittelbarkeit des dramaturgischen, einzelnen Tableaus hinarbeitet – überhaupt auf einem Roman basiert. Wenn Kazan den Film mit einem alltäglichen Morgen im Hause Anderson beginnt und die Morgentoilette und das Familien-Frühstück am Pool in säuberlich symmetrischen und pastellfarbenen Bildern inszeniert wie einen von Eddies Zigaretten-Werbespots, wenn er unvermittelt den imaginären Gewaltausbruch, denn Eddie sich erträumt angesichts von Gwens neuem Liebhaber mit grellbunten Schrifttafeln, die in typischem Comic-Jargon Schlaggeräusche beschreiben, versetzt, wenn er mit langen Zooms Eddie aus seiner Realitäts-Flucht herausholt – dann sieht man einen Hollywood-Veteranen, der seine grenzenlose Neugier auf die suggestiven visuellen Möglichkeiten des Kinos, spät, aber doch in die Tat umsetzt. Und das genau in Verbindung mit diesem Stoff, weil er es zuvor kaum gewagt hatte, dass gewichtige, nicht selten kritische Material, dass er zusammen mit Autoren wie Tennesse Williams, Budd Schulberg oder John Steinbeck in freundschaftlicher Kollegialität bearbeitete. Auf sich allein gestellt mit einzig und allein seiner eigenen künstlerischen Identität, wildert Kazan sich durch den Katalog der großen Hollywood-Bilder – mit einem zugegebenermaßen vielleicht unbeabsichtigten, aber unbestreitbar spürbaren Ansatz von dem, was man inzwischen mit wegwerfender Beiläufigkeit als Postmoderne bezeichnet.

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THE ARRANGEMENT ist mit seinen zahllosen zusammengeworfenen Ideen, seinem zerfahrenen Aufbau [gemessen am Maßstab klassischer Filmdramaturgie], seinen perspektivischen Wechseln, seinem willkürlich anmutendem Pendeln zwischen Sarkasmus und Melancholie, komplizierten Charakteren und ständig wechselnden dramaturgischen Strategien sowie stilistischen Experimenten, ein Koloss von Film, dem man zunächst eher Verwirrung und Erstaunen entgegenbringen kann – besonders in Kenntnis von Kazans vorherigem Schaffen – denn Begeisterung oder reine Faszination. Aber nachdem man die Reizüberflutung und Vielfalt der Einfälle, Polemiken und Fragen verdaut hat, bleibt das Gefühl, einen zuvor stets rastlosen Filmemacher in einem seltenen und produktiven Moment der Harmonie mit sich selbst erlebt zu haben. Einen kurzen Moment, in dem Ego und Selbstverachtung zueinander finden, in dem die ewig miteinander ringenden Erzählmedien und Kunstformen Theater und Kino einen Waffenstillstand einlegen [und zwar nebeneinander und nicht, wie früher bei Kazan, miteinander] und in dem ein Hollywood-Dramatiker der alten Schulde den Bogen über seine Zeit hinaus spannt, mit altmodischen und fortschrittlichen Stilmitteln einen zeitgenössischen Konflikt zu einem gleichermaßen modernen wie klassischen Film verarbeitet. Das moralische Chaos, in das Kazans Charaktere in der Regel durch ihre diffuse Selbstwahrnehmung gestürzt werden, war selten so extrem, aussichtslos und monströs. Dass Kazan dabei auf eine beispiellos treffende und kongeniale Besetzung bauen kann und deren Potential bis zur bekannten Grenze ausreizt, muss dabei gar nicht mehr erwähnt werden. Vielleicht nur indirekt, wie mit letzterem Satz mehr oder minder geschehen. Nur nicht so indirekt, wie so vieles in diesem erstaunlichen Film unvermittelt zu uns durchsickert – oder auch verweigert, ausgespart oder minimalisiert wird.

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Am Rand noch der Hinweis auf die US-DVD von Warner. Im Gegensatz zu der deutschen Scheibe, die schon aufgrund des falschen Bildformates 1:1,85 indiskutabel und ohnehin schon out of print ist, kann man THE ARRANGEMENT hier im Original-Format in wirklich atemberaubender Bild- und Farbqualität erleben (der Ton ist, warum auch immer, nur in 1.0 Mono, ansonsten aber makellos, englische Untertitel lassen sich zuschalten), die umso überraschender ist angesichts der Tatsache, dass sich die Popularität und Bekanntheit des Films in Grenzen hält und man in Veröffentlichungen solcher Titel bei den Majors ja gerne etwas weniger Sorgfalt investiert. An Extras gibt es immerhin eine jener Original-Kurzdokumentationen, wie sie damals im Fernsehen in zeitgenössischen Äquivalenten zu zweifelhaften Formaten wie „Kino, Kino“ u. ä. gezeigt wurden. 6 viel zu kurze Minuten lang werden Interview-Schnipsel mit Kazan, Kirk Douglas, Deborah Kerr, Faye Dunaway, Richard Boone und Hume Cronyn von 16mm-Impressionen der Dreharbeiten illustriert (oder umgekehrt, je nach Betrachtungsweise). Und natürlich den sehr reißerischen und sehr schönen Kinotrailer (leider in Pan & Scan), der mir während meiner ersten Annäherungen an Kazan seinerzeit bei einer kleinen Recherche in der IMDb sofort klar machte, dass es sich bei diesem Film wohl um etwas ganz besonders interessantes handeln dürfte. Eine sehr empfehlenswerte DVD, die den außergewöhnlichen Reizen und Werten des Films voll und ganz Genüge tut.

THE ARRANGEMENT – USA 1969 – 126 Minuten – Regie, Produktion und Drehbuch: Elia Kazan, Kamera: Robert Surtees, Musik: David Amram, Schnitt: Stefan Arnstein, Darsteller: Kirk Douglas, Faye Dunaway, Deborah Kerr, Richard Boone, Hume Cronyn, John Randolph Jones

Quellen: „Kazan on Kazan“ von Michel Ciment, Secker & Warburg Ltd.

Die Arbeiterklasse kommt ins Paradies (1971)

Zeitgenössische Kritiken des Films, in denen von einer allzu starken Emotionalisierung des bedeutenden Themas, von peinlichem Overacting des in der Tat geradezu unmenschlich aufspielenden Gian Maria Volontè und unsachlichem Fatalismus die Rede ist, sind zu ärgerlich, um sie ohne weiteres wegzuwischen. In einer Schlüsselszene, deren Vorgänge Lulù (Volontè) dazu bewegen werden, sich den Studenten anzuschließen und die Rebellion der Arbeiter anzutreiben und -führen, ist er immer noch unsicher und verärgert über diese von ihm als lächerlich empfundene Eigenmächtigkeit der lautstarken „Muttersöhnchen“ – „Geh nach Hause zu deinem Papa!“ brummt er und fährt davon. Das gleiche möchte man denn auch jenen Kritikern wünschen, die sich seinerzeit in eben jenen prätentiös-zynischen Elfenbeinturm zurückzogen, den Elio Petri hier bewusst, demonstrativ verlassen hat. Er wollte nicht [nur] einen intellektuellen Aufklärungsfilm drehen, eine verstandesgemäße Aufarbeitung des Themenkomplexes, er wollte viel mehr, er wollte die Wut der Betroffenen filmisch umsetzen, wollte einen Film, in dem die Monotonie der Maschinenarbeit genauso erdrückend wirkt wie die explodierende Energie ihres Aufstandes und des dafür stellvertretenden Lulù ansteckend. Ein Film von einem der führenden linken Regisseure Italiens, nicht für ein ebensolches Publikum sondern auch für die Arbeiterklasse selbst. Die gebündelte Energie, die dieser Film ausstrahlt, der Instinkt und zugleich die trockene Berechnung, mit der er stets die richtigen Extreme wählt, die bestechende Milieu-Schilderung  und die völlig vereinnahmende, unwiderstehliche Unmittelbar- und Aufrichtigkeit, mit der er all das fühlbar macht – mal mit wildem Realismus, mal mit unbehaglicher, surreal anmutender Stilisierung – sollte etwaige Kritik an dieser zweifelsohne auch partiell manipulativen und „entintellektualisierten“ Vorgehensweise eigentlich erübrigen. Denn so zieht der Film direkt an der Wurzel, der ewige Zwiespalt der Arbeiter und des sie bevormundenden Systems wird offensichtlicher als offensichtlich (Zitat RECLAMS FILMLEXIKON: „Manches ist hier doch allzu laut, zu deutlich…“) und die Gewinne wie die Verluste dieser Rebellion bei allem Geschrei, aller Raserei und allem Chaos, stets so formuliert, dass Undifferenziertheit als Vorwurf gegen Petris Idee eines sozialpolitischen Manifests eigentlich nur mit vorsätzlichem Mutwillen und einer ordentlichen Dosis Arroganz aufrecht erhalten werden kann. LA CLASSE OPERAIA VA IN PARADISO ist der absolute Glücksfall eines solchen Films, eines Appells, der sich eben jener einfachen, nahe liegend(st)en Mittel bedient, deren vom bildungsbürgerlichen Konsens angetriebene Verpönung ihre Wirksamkeit und Integrität nur noch indirekt unterstreicht. Einen so couragierten, unverfrorenen und dabei im Kontext beinahe unparteiischen Appell-Film wie diesen bekommt man nur selten zu Gesicht. Kapitalismus-Kritik als melodramatischer Horrorfilm, sozusagen. Die Minorität profitiert von einer biederen und manierlich sachlichen Faktensammlung wie zuletzt unter anderem Volker Schlöndorffs fernsehspielartigem STRAJK, einem beispielhaften Reflexionspräservativ. Jeder kann von einem puren, reinen, echten und rohen Film wie LA CLASSE OPERAIA VA IN PARADISO profitieren und schon alleine der geizige, aber markerschütternde Einsatz von Ennio Morricones frostig-brutal stampfendem, minimalistischen Score sagt hier mehr Essentielles aus als es den meisten entsprechenden filmischen Meta-Diskussionen überhaupt gelingt.

LA CLASSE OPERAIA VA IN PARADISO – Italien 1971 / Regie: Elio Petri / Drehbuch: Elio Petri, Ugo Pirro / Kamera: Luigi Kuveiller / Musik: Ennio Morricone / Schnitt: Ruggero Mastroianni

Darsteller: Gian Maria Volontè, Mariangela Melato, Gino Pernice, Renata Zamengo, Ezio Marano,  Luigi Diberti

Zodiac vs. the Evil Gump

Oder: Der deprimierende Fall der heiligen Oscar-Kuh 2009

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Warum fühlt man sich außerstande, dem strahlenden Lächeln dieses Films – zumindest sieht es danach aus – mit einem ebensolchen zu antworten? Wen kann man dafür verantwortlich machen, dass THE CURIOUS CASE OF BENJAMIN BUTTON, die Adaption eines an sich so vielversprechenden, theoretisch inspirierenden Stoffes, verfilmt von einem der interessantesten Hollywood-Regisseure unserer Zeit, künstlerisch so haushoch gescheitert ist? Eine kurze Überlegung zu der Veränderung des amerikanischen Studiosystems könnte der Beantwortung dieser Frage dienlich sein.

 

Wie es aussieht, wenn ein Film in seinem Produktionskontext von wirtschaftlichen Kalkulationen zermahlen und zu einem unförmigen Klumpen einzelner Fetzen zerknetet wird, hat die Filmgeschichte uns in enzyklopädischem Umfang in so ziemlich jeder möglichen Spielart gezeigt. Nicht nur der berüchtigte Fall eines nach Fertigstellung drastisch gekürzten und veränderten, ausladenden Werkes sondern auch der weit weniger berüchtigtere, ungleich brutalere Fall des noch während der Dreharbeiten abge- und ersetzten Regisseurs. Denn handelte es sich um eine nachträgliche Kastration, bestand immer noch die Chance auf eine spätere Transplantation des Entfernten, eine Restauration des zerkratzten Gemäldes.

Gewaltakte dieses Ausmaßes finden heute in Hollywood nur noch selten statt, das Kontrollsystem der Studios funktioniert perfekter denn je und lässt allzu arge Entgleisungen künstlerisch in den Wolken schwebender Regisseure nicht mehr so ohne weiteres zu. Oder aber, es wird unter den Tisch gekehrt um das Gesicht vor der Presse zu wahren. Die Filmgeschichte hat uns da schließlich zu aufgeklärten Menschen gemacht, die es außerordentlich gemein und niederträchtig finden, wenn einem armen Regisseur von rohen Produzenten sein Werk und seine Vision entrissen wird um des profanen Wettbewerbs willen. Diese Banausen.

Im Wesentlichen aber scheint man in der Traumfabrik heute schon im Vorfeld mögliche Risiken dieser Art soweit wie möglich auszumerzen, auf diplomatischer Ebene. Mach den Film so oder gar nicht. Wenn er überhaupt gemacht wird, dann so und nicht anders, sonst wird es ein Flop. Akzeptiere den Kompromiss, er ist besser als nichts.  Wenn du dies, das und jenes sowie sonstiges tust, darfst du ansonsten machen was du willst.

 

Genau diese Zersetzung, dieses ordinäre Gegenteil von Risikobereitschaft und couragierter Publikumsdressur, ist letztlich für die verheerende Situation des aktuellen amerikanischen Mainstream-Kinos verantwortlich und sorgt für Unbefriedigendes, Enttäuschendes, Ärgerliches, Banales, Charakterloses, vornehmlich, sobald das Budget eine gewisse rote Marke übersprungen hat.

THE CURIOUS CASE OF BENJAMIN BUTTON hat diese Marke mit 150 Millionen $ ganz eindeutig weit hinter sich gelassen. Und auf die Diskussion, inwiefern die krumm, ungesund und verzerrt gewachsene Wirbelsäule dieses künstlerisch völlig windschiefen Films nicht die „Schuld“ von David Fincher, immerhin – ob verdientermaßen oder nicht sei dahingestellt – das Wunderkind der postmodernen Schwingungen im amerikanischen Mainstream der 90iger, ist, möchte ich mich keinesfalls einlassen. Die Schuld trägt hier jeder und niemand, eher noch das soeben grob umrissene Phänomen der diplomatischen Sterilisierungs-Strategien denn eine bestimmte personifizierbare Institution.

 

Jedenfalls ist THE CURIOUS CASE OF BENJAMIN BUTTON als Film eben dem grausamen Schicksal seines Protagonisten gleich mit erlegen: Ebenso wie Benjamin Button keine Ausbildung einer Persönlichkeit, kein Reife-Prozess im irdischen Sinn oder schlicht und ergreifend eine mentale Unabhängigkeit von seiner Umwelt vergönnt ist [eher noch wird ihm all das mit völliger Beiläufigkeit vorenthalten], so bleibt all das auch dem von ihm erzählenden Film versagt. Ganz genauso wie Benjamin mit Erfahrungswerten – die er aber stets nur in abstrahierter Form erhält, behandelt und angesehen als Kind im Körper eines Greises und als Greis im Körper eines Teenagers – jongliert, ohne daraus ein wirklich pragmatisch verwertbares Resümee zu ziehen, so spielt auch der um seinen redundanten Prozess des Heranwachsens modellierte Film Ping Pong mit den Anforderungen, die an ihn gestellt werden, und zahllosen brillanten Einfällen seines Regisseurs, die dieser, aus welchen bei ihm liegenden Gründen auch immer, nicht in Einklang bringen kann mit den Anforderungen, von denen man nicht glauben möchte – wohl aber könnte – dass er sie auch an sich selbst stellt.

 

Denn THE CURIOUS CASE OF BENJAMIN BUTTON ist zuletzt wegen seiner unfassbar reizvollen und filmisch wahnsinnig herausfordernden Prämisse so kurios, sondern wegen der völligen Fahrig- und Biederkeit, mit der er zerfällt – in erbärmlichen, vulgären Acadamy-Kitsch der übelsten und schleimigsten Sorte und den leidenschaftlichen sowie – wenn er sich denn im Film einmal über einen gewissen Zeitraum und eine gewissen Anzahl von Szenen halten kann, ohne von ersterem unterbrochen zu werden – überzeugenden Versuch, ein episches Kino der Merkwürdigkeiten und Widersprüche im Formalen zu entwerfen. Dieses erinnert zwar  – um im zeitgenössischen Kontext zu bleiben – stets ein wenig an die bemüht artifiziell-skurrile Keksdosen-Ästhetik eines Jean-Pierre Jeunet und an die ungesund-blässlichen, bzw. irritierend schrillen Moritaten eines Tim Burton, scheint sich aber eben dieser Assoziationen bewusst zu sein. Und deswegen unternimmt regelmäßig unterbewusst Versuche, mit schmelzender Geste zu demonstrieren, wie schwierig es ist, einen Stoff wie diesen heute, nach über hundert Jahren Filmgeschichte voll von epischen, ewigen, überlebensgroßen Film-Monumenten, noch so zu verfilmen, das sowohl der künstlerischen Leistung des Filmemachers Souveränität zugestanden werden kann als auch den Schatzmeistern hinter ihm.

 

Nur ein sentimentaler Höhepunkt eines Films, der vielleicht ein sentimentaler Schmachtfetzen höchsten Ranges hätte sein können, wäre er ein Produkt des Studiosystems der 40iger oder 50iger Jahre:

Benjamin trägt seinen sterbenden Vater – der stets unter Wert verkaufte Jason Flemying setzt mit diesem Part einige der wenigen darstellerischen Marksteine des Films – durch den verwucherten, in dekorativ-sinistres Graublau eingebetteten Garten einer alten Villa auf einen Bootsteg, um ihm, seinem jahrelang anonymen Vater, als Abschiedsgeschenk einen bezaubernden Sonnenaufgang über dem Meer zu schenken. Das pastellene Dottergelb des Sonnenstreifens am verhangenen Horizont, selbstredend sorgfältig aus CGI generiert, mischt sich mit den lieblich das Ohr umschmeichelnden und verklebenden Streichern Alexandre Desplats, der seinen Stil offenbar, wie schon sein berühmter Landsmann Maurice Jarre zu seiner Zeit (und wir wollen hier nicht vergessen, dass Jarres Hollywood-Einstand seine majestätische Vertonung des klassischen Über-Epos LAWRENCE OF ARABIA war), zunehmend amerikanisiert und im schlimmsten Fall in einigen Jahren das Niveau des späten John Williams erreicht hat. Und nach einer Totalen der beiden hintereinander sitzenden Männer vor dem Sonnenaufgang, schneidet Fincher abrupt zu einem Close up des Vaters. Hinter dem sich in nur geringer Entfernung, in Unschärfe gehalten und leise raschelnd, Benjamin niederlässt und, immer noch in der Unschärfe, seinen Vater mustert, ganz so, als könnte er dessen ausdrucksloses Gesicht vor sich sehen. Ein ebenso simpler wie virtuoser Kontrast in einem Schnitt, der die Situation überspitzt aber punktgenau erfasst. Und dann filmt Fincher zwischen den beiden Männern hindurch auf die sahnige Retorten -Sonne am Horizont und lässt Pitts Off-Stimme eine neuerliche, schlüpfrige Banalität von sich geben. Aufbau und Zerstörung einer Szene und ihrer Wirkung. Und alle Wirkung, die der Film sporadisch in seinen teils erschlagenden Bildern erzielt, wird stets dann zurück in den Boden der vor Pathos triefenden Konzession an den Massengeschmack zurückgeworfen, eingestampft bevor sie sich zur Gänze entfalten kann. In dieser Sequenz liegt Fluch und Segen des Films, seine Ambition und sein Scheitern.

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Sublime Licht- und Schattenspiele wie in der Episode um Elizabeth (Tilda Swinton), dem vermutlich einzig stimmigen Abschnitt des Films, wechseln sich ab mit „schönen Bildern“ aus der Konserve. Und man blickt plötzlich wieder zurück auf Finchers Erfolgsfilme SE7EN und FIGHT CLUB, in denen der ehemalige Videoclip-Regisseur mit ebenso vereinnahmendem wie flüchtigem visuellen Potenz-Geprotze „seine“ düstere Ästhetik des grünlichen Dämmerlichts, der Neonröhren und der ewigen, feuchtglänzenden Regennächte „erschuf“ – und mit ihr zwei der am vehementesten um Eindruck heischenden Kultobjekte der jüngeren Filmgeschichte, ätherischen Dunkel-Kopfkitsch für nachwachsende Kino-Generationen.

 

Und eben das ist das letzte, was man von Fincher nach seinem nüchternen Obsessions-Thriller ZODIAC erwartet und erhofft hatte. Wo Fincher dort eine multiperspektivische Studie über die Mechanismen, die Ökonomie und die populären Regeln der Figurenzeichnung im Film vornahm, fährt er in Benjamin Button seinen Charakteren bei jedem Anflug einer Unklarheit über den Mund und erklärt ihre emotionale Verfassung – und nur die – bis ins Detail, ein Gewaltakt, der sich kontinuierlich und blutig mit der angestrebten mystischen Aura, die sie umgeben soll, beißt. Was hier visuell impliziert und schlussendlich erzählerisch produziert wird, findet nie zusammen. Die erdrückende Dunkelheit, die über allem liegt, evoziert kaum die der Geschichte theoretisch innewohnende Tragik sondern scheint vielmehr das hysterische Pathos verschleiern zu wollen, dass ebenso erwünscht wie unliebsam scheint – von Seiten der Verantwortlichen. Es sind eher unbequeme Details, die dem Film seine dramaturgische Würde erhalten. Selten scheinen Benjamins Begegnungen mit Elizabeth und Daisy mehr als purer Sex zu sein – keiner der beiden traut sich zu, eine verbindliche Beziehung mit Benjamin, dem „völlig anderen“ und doch profillosen Mann zu führen und als er und Daisy endlich glücklich vereint sind, fallen sie doch lediglich in einen pragmatischen Genussrausch, trotz des Vorsatzes, sich niemals dem bürgerlichen Lebensrhythmus und Materialismus zu ergeben. Hier parfümiert sich der Film sogar kurzzeitig mit einem Hauch von Selbstironie, bevor er erneut mit seinem schwerfälligen Katz-und-Maus-Spiel zwischen inszenatorischer Passion und scheinheiliger Beschwörung einer scheinpoetischen Individualismus-Fantasie fortfährt.

 

So hantiert Fincher über zweieinhalb Stunden mit einem Füllhorn aufregender Einfälle zwischen sporadischem Ernst und anbiederndem Schwachsinn mit dem Ergebnis, dass man seine in Interviews gelegentlich bekundete Leidenschaft für das klassische Erzählkino verwünscht. Wie viel Scheitern die Produzenten auf sich nehmen müssten und wie viel Fincher selbst, das möchte und sollte man wahrscheinlich auch nicht mit Gewalt beurteilen wollen. Ich würde das insbesondere deswegen nicht tun, weil ich mir, trotz einer gesteigerten Skepsis gegenüber David Fincher, nicht recht sicher bin, ob THE CURIOUS CASE OF BENJAMIN BUTTON eher ein gescheiterter oder nur ein verunglückter Film mit starkem Fundament ist. Warum das nicht? Weil dieser pompöse filmische Kandisklumpen, egal wie peinlich oder großartig er zu welcher Zeit auch immer ist, nie mit sich ins Lot kommt und keine Balance findet – und so mit diversen ärgerlichen wie spannenden Ecken und Kanten aufwartet. Das müsste eigentlich zu dem Schluss führen, dass er, egal ob Schund oder rund, in jedem Fall interessanter und herausfordernder sein sollte als beispielsweise Robert Zemeckis’ FORREST GUMP, ein Musterbeispiel perfekt ausbalancierten und glatten Academy-Kitschs mit dem BENJAMIN BUTTON in Kritiken mit bemerkenswerter Beharrlichkeit und beeindruckender Undifferenziertheit permanent verglichen wird, mit dem überflüssigen, aber stets hämischen Hinweis, dass beide Filme auf das Konto des gleichen Drehbuchautoren gehen. Was wiederum dafür spricht, dass in diesem kuriosen Fall kurioserweise David Fincher nicht einmal mehr halb so ernst genommen wird wie einst. Und das ist wiederum, bei aller Faszination dieser bizarren kinematografischen Mutation, nicht besonders kurios – aber auch sehr schade.