100 Deutsche Lieblingsfilme #33:
Das Schiff der verlorenen Menschen (1929)





Massive Spoiler im letzten Absatz!

Der Anfang nimmt sich zumindest aus heutiger Sicht fast wie ein kleiner, vereinender Brückenschlag aus. Der Franzose Maurice Tourneur, als Regisseur immer wieder in den USA aktiv, inszeniert einen deutschen Film – der damit anfängt, dass ein entflohener Sträfling durch ein impressionistisch im Wind wogendes Getreidefeld in eine deutsche Hafenstadt kommt und dort in einem expressionistisch von steilen Kanten und schiefen Winkeln gezeichneten abgelegenen Haus zur Seefahrt anheuert, und kurz danach gibt es in der Seemannsspelunke auch noch eine Schlägerei wie im Saloon eines Western: torkelnde Gestalten, ausgelassene Stimmung, es rumpelt und rempelt, Bier wird übereinander verschüttet und die Fäuste ausgepackt, bis alles kurz und klein geschlagen ist.

Das Gewaltpotenzial ist damit angedeutet, und von der Spelunke geht es direkt aufs Schmugglerschiff, auf dem ungewollt durch Zufall auch ein junger amerikanischer Doktor landet. Der Sträfling hat sich zunächst dem harten Regiment des Kapitäns zu beugen. Doch wo der Eine mit eiserner Hand regiert, pocht der Andere bald auf das Recht des Stärkeren und zettelt eine Meuterei an, um die Hehlerware unter die eigenen Fittiche zu bekommen.

Spätestens als Marlene Dietrich als Gestrandete an Bord kommt – vom abgestürzten Privatflugzeug direkt aufs Schiff der Verlorenen –, kocht die Stimmung über. Mit der Zurückhaltung ist es nun endgültig vorbei, gibt es in den Augen der wüsten Bande neben der materiellen nun schließlich auch noch eine menschliche Beute. Was sich, nachdem man sich längst des Kapitäns entledigt hat und der Sträfling den Anführer mimt, dabei an inbrünstigen Begehrlichkeiten und vehementer Zudringlichkeit zeigt, in einem sich unerbittlich zuspitzenden Szenario (in markant akzentuierter Lichtsetzung vor fast durchgehend nächtlichem Hintergrund), das nimmt geradewegs die soziale Apokalypse eines Films wie NAKED vorweg. Marlene Dietrich in einer frühen Rolle schlägt sich vor allem in einer hinterlistigen Dinnerszene bravourös, auch wenn ihre Figur ansonsten eher ein Platzhalter für männliches Machtgebaren ist, das sich an und durch sie entlädt.

Die infernalische Steigerung der Eskalation zwischen einer wilden, nach der Entdeckung der Weinvorräte des entmachteten und über Bord geworfenen Kapitäns noch zusätzlich aufgeheizten Meute auf der einen Seite, und auf der anderen Seite dem Doktor und dem Schiffskoch, die sich der Verteidigung der Dietrich angenommen haben, mündet dabei in einen waschechten Belagerungsfilm, in ein paradox weitläufiges Kammerspiel auf hoher See: wenige Figuren auf beengten Raum umzingelt von gierigen Fratzen, wie Jahrzehnte später von den Zombies in NIGHT OF THE LIVING DEAD oder dem Lynchmob in STRAW DOGS. Wie in einem Labyrinth geht es immer tiefer in Katakomben, Gewölbe, Gänge, öffnen sich neue Luken und Kammern, bieten sich dabei weitere Rückzugsräume im verwinkelten Schiffsinneren, bis auch die letzten Flecken entdeckt und eingenommen sind. Im Finale geht es schließlich nur noch ums nackte Überleben, aufs Ganze, hier und jetzt, du oder ich.

Doch bevor es zur vollständigen Selbstzerfleischung kommt, mischt sich ein durch abgesetzte Notsignale herbei gerufenes großes Kreuzfahrtschiff ein, beendet die wüste Schlacht, die auf dem Schmugglerschiff bereits einige Tote forderte. In steilen Aufsichten ruft dieser Ozeanriese als Zivilisations-Polizist nun die Kinder der Barbarei zur Ordnung, nimmt die Bedrängten an Bord, die in ehrfürchtiger Untersicht vom Schmugglerschiff aus hinauf blicken. Amüsement, begeistertes Klatschen und schaulustige Unterhaltung ist dabei auf gehobenem Deck garantiert (die Analogie zum aufs Geschehen blickenden Kinosaal ist dabei nur allzu naheliegend), bevor es auf die Weiterreise geht. Nachdem man Zeuge der Abgründe wurde, die sich bereits auf dem kleinen Schmugglerschiff offenbart haben, fragt man sich bei der finalen Kamerafahrt über den riesigen Bauch des großen Luxusschiffes mit seinen unzähligen Reihen von Bullaugen unwillkürlich: was mögen sich erst dort, weit hinter und unter der oberflächlichen Fratze der Galanterie, für Abgründe auftun?

Das Schiff der verlorenen Menschen – Deutschland 1929 – 121 Minuten (ca. 90 Min. bei 24 B/s) * – Regie: Maurice Tourneur – Drehbuch: Franzos Keremen (Romanvorlage), Maurice Tourneur (Drehbuch) – Kamera: Nikolas Farkas – Darsteller: Robin Irvine, Marlene Dietrich, Fritz Kortner, Wladimir Sokoloff, Gaston Modot, Boris de Fast

(*: Die Angabe von 121 Minuten bezieht sich auf eine Abspielgeschwindigkeit von mutmaßlich 16 oder 18 Bildern pro Sekunde. In der von mir besuchten Kinovorstellung wurde der Film bewusst mit 24 B/s gezeigt. Bei späten Stummfilmen ist die Abspielgeschwindigkeit häufig umstritten, weil es dort auch historisch oft keine einheitliche Aufführungspraxis gab und damit meist auch keine klaren Leitlinien. Grundsätzlich sehe ich den heutigen Hang zum beschleunigten Abspiel von – nicht nur späten – Stummfilmen durchaus skeptisch, schließe mich in diesem Fall allerdings der Argumentation des Veranstalters an, dass der Film dadurch deutlich an Fahrt und Spannung gewinnt, ohne die Grenze zu lächerlich anmutenden Bewegungen zu überschreiten.)

Dieser Beitrag wurde am Sonntag, November 20th, 2011 in den Kategorien Ältere Texte, Andreas, Blog, Blogautoren, Deutsche Lieblingsfilme, Filmbesprechungen veröffentlicht. Sie können alle Kommentare zu diesem Beitrag über den RSS 2.0 Feed verfolgen. Sie können diesen Beitrag kommentieren, oder einen Trackback von ihrer eigenen Seite setzen.

2 Antworten zu “100 Deutsche Lieblingsfilme #33:
Das Schiff der verlorenen Menschen (1929)”

  1. Intergalactic Ape-Man on Dezember 4th, 2011 at 05:05

    Du machst diesen Film jedenfalls sehr schmackhaft. Dieser beschriebene Tiefgang aus Luken und Kammern zieht mich jetzt an.

  2. Andreas on Februar 2nd, 2012 at 06:35

    Aus ähnlichen Gründen hat’s mich übrigens auch vorrangig ins Kino gezogen, weil die Beschreibung im Programm bereits etwas in der Richtung versprach. Würde aber wie geschrieben nach Möglichkeit zu einer (notfalls selbst „beschleunigten“) 24-B/s-Fassung raten, könnte mir vorstellen, dass der Film ansonsten statt der von mir erlebten Vehemenz womöglich eher dröge und gebremst wirkt.

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