100 Deutsche Lieblingsfilme #20: Engel, die ihre Flügel verbrennen (1970)



Susanne Uhlen und Jan Koester in



„Der Film spielt in einer Welt, die von weniger Menschen bewohnt wird als die heutige, was zur Folge hat, dass die Übriggebliebenen wohlhabender sind und vereinzelter leben. Irgendetwas ist geschehen, was dazu geführt hat, aber niemand will oder kann sich noch daran erinnern, was es gewesen ist.“

Nicht Zbyněk Brynych hat das über seinen, sondern ein anderer Filmemacher über einen anderen Film gesagt. Ich habe es erst nach der vor atemlosen Wahnsinn schlingernden Tragödie der versehrten Engel erfassen können.
ENGEL, DIE IHRE FLÜGEL VERBRENNEN schleudert uns hinein in eine solche, somnambule Welt, hinein in ein Fegefeuer der von unsichtbarer Hand verwirrten Sicherheit des Menschlichen, hinein in ein futuristisch anmutendes, bedrohliches München bei Nacht, in die Anonymität eines riesigen Appartementhauses, in eine Welt nach 1968, aber in der nahen Zukunft.

Auf seinem Moped rast der 16jährige Robert Susmeit auf diese Welt zu, über die dunklen, nass glänzenden, nur von Leuchtreklame erhellten Straßen, seiner Mutter, Hilde Susmeit, hinterher. In lüsterner Ekstase ist sie mit ihrem Liebhaber auf dem Weg in dieses weiße Gebäude ist, um sich völlig gehen zu lassen. Die rasende Fahrt ist eine Flucht.
Jugendsolidarität scheint es nie gegeben zu haben. Ein dekadentes Großbürgertum hat die Freizügigkeit der Jugend für sich vereinnahmt.

Wie eine Meute von Raubtieren balgt es sich in der Bar des Hochhauses. Ohne Energie. Hedonismus weder mit Idealen, noch als Ideal selbst. Dort tanzen, zum elektronischen Weltraum-Rock’n’Roll von Peter Thomas, auch Eltern. Ihre Kinder, zu jung, um zu rebellieren und nicht alt genug, um zu zu reagieren, sind nicht mitgenommen worden auf dem Sprung von der Gegenwart in die Zukunft.

Robert wandelt suchend durch die gespenstischen, hell erleuchteten Korridore. Wonach er sucht ist nicht wichtig für ihn, nicht für uns. Man ahnt, dass er sich finden, neu erfinden wird in dieser Nacht. Wonach er sucht, das ahnen wir nur, als er den Liebhaber seiner Mutter mit einem Ventilgehäuse im Schwimmbad des Hauses erschlägt. Aber die gleichaltrige Moni Dingeldey beobachtet ihn – und erfasst es sofort.

Während der melancholische Inspektor Siegfried Rauch, zwischen sinnlosen Befragungen und einem verschämt-investigativen Flirt mit Hilde Susmeit (“Wissen Sie, Inspektor, dass ich noch nie bei jemandem so blaue Augen gesehen habe wie bei Ihnen?”), den apokalyptischen Neurosen einsamer Hausbewohner entgegentritt, verirren sich Robert und Moni in der Wohnung ihrer Mutter ineinander, in der Sicherheit des Affekts, dem Halt geteilten Schmerzes.

Kurz steht die Zeit im Apartement still: Robert und Moni wissen, was sie zusammengeführt hat. Vertrauen einander zögerlich, dann aber vollkommen, ausnahmslos. Fast schweigend. Sie haben auch Angst. In der sie wachsen, unmenschlich. Die flüchtige, aber impulsiv so greifbare Intimität dieser Momente dreht alles auf 0 zurück. Brynych, nicht nur ein Regisseur der rasenden Kamera sondern auch ein Regisseur des bedingungslosen Close-ups, kann von diesen beiden Gesichtern nicht lassen: Wie sie sich in wütender Verweiflung verzerrt und weinend aneinander schmiegen, als Monis Mutter im Nebenzimmer ihren eigenen Exzess veranstaltet.

Ein Exzess, der ihnen Angst macht um eine Liebe, unter der sie sich nichts vorstellen können und die diese Erwachsenenwelt in ihrem Konsum der Gefühle ihnen nicht erklären kann. Es ist der Film, der den Spieß umdreht und tatsächlich der Annahme folgt, dass die 68iger sich ins genaue Gegenteil ihrer Ausgangsposition verkehren könnten. Eine Dystopie. Auf der Strecke bleiben die Kinder selbst, weil ihnen keine Zeit geblieben ist.

Und dann gerät die mondäne, esoterisch pervertierte Welt dieses Hauses aus den Fugen, steigert sich das gelangweilte Partyvolk aus der Bar in eine reißende Hysterie, rottet sich zu einem geifernden Mob zusammen. Hetzt die beiden völlig unvorbereiteten Teenager in einer alptraumhaften Jagd durch die Korridore.
Im seidenen Licht am Ende der Nacht wanken diese als verlorenes Paar hinaus auf das Dach des Hauses. Hinter ihnen die Schreie der Meute, die Schreie des Vaters, der Mutter.
Da breiten die beiden Engel ihre versengten Flügel aus und fliegen davon. Der Inspektor sieht ihnen vom Fenster aus nach, mit seinen unglaublich blauen Augen – und weint.

ENGEL, DIE IHRE FLÜGEL VERBRENNEN – BRD 1970 – 87 Minuten
Regie: Zbyněk Brynych – Kamera: Josef Vanis – Musik: Peter Thomas – Schnitt: Sophie Mikorey, Rosina Chromec – Drehbuch: Herbert Reinecker
Darsteller: Jan Koester, Susanne Uhlen, Nadja Tiller, Siegfried Rauch, Jochen Busse, Werner Kreindl, Karl-Otto Alberty, Ellen Umlauf, Hertha von Walther, Liane Hielscher, Wolfgang Völz

Dieser Beitrag wurde am Montag, Februar 7th, 2011 in den Kategorien Blog, Blogautoren, Christoph, Deutsche Lieblingsfilme, Filmbesprechungen veröffentlicht. Sie können alle Kommentare zu diesem Beitrag über den RSS 2.0 Feed verfolgen. Sie können diesen Beitrag kommentieren, oder einen Trackback von ihrer eigenen Seite setzen.

6 Antworten zu “100 Deutsche Lieblingsfilme #20: Engel, die ihre Flügel verbrennen (1970)”

  1. Sano on März 9th, 2011 at 18:48

    Das klingt ein wenig nach einer Mischung aus Takashi Miikes „Big Bang Love, Juvenile A“ und Koji Wakamatsus „Go, Go, Second Time Virgin“ – und im Kontext von deutschem Kino und Brynych. Also sehr spannend. Dass die 68er sich auch in ihr Gegenteil verwandeln konnten ist ja inzwischen historisches Ereignis geworden, aber ich denke die Vernachlässigung des Nachwuchses gab es damals bei den „Alternativen“ wohl genauso wie früher bei den „Entnazifizierten“…

    Bin mal gespannt auf den Futurismus, den dein schönes Argento-Zitat am Anfang des Textes bereits auf eine wundervolle Weise verspricht.. 🙂 und ein bisschen musste ich da auch an Leos Caraxs großartigen Mauvais sang (1986) denken: Sci-fi trifft auf vernachlässigte Jugend. 😉

    Da fällt mir ein: Cinéma du look als formales Science-Fiction Kino? Nur so eine Idee, aber schleicht sich grad zum ersten Mal wirklich ein…

    Der Screenshot ist übrigens super, und erinnert mich wiederum an einen Screenshot den ich seinerzeit aus Sergio Martinos „Your Vice is a locked room…“ gefunden/gemacht hatte (ich erinnere mich nicht mehr so genau). Dunkelheit, und ein wenig Licht dringt durch die Mitte.

  2. Medienjunkie on August 28th, 2011 at 16:50

    Auch wenn ich diese Brynych-Begeisterung in gewissen Cinephilen-Kreisen nicht nachvollziehen kann, klingt das sehr interessant. Wobei die Moral der Story schon sehr nach Reineckers üblicher Anti-68er-Moral klingt, die einem auch im „Kommissar“ öfters begegnet. Nur wo soll man diesen Film her bekommen?

    Kennt ihr eigentlich die Kinofilme von Hans C. Blumenberg? Die müssten euch als Fans des deutschen Genrekinos eigentlich auch gefallen. Vor allem „Tausend Augen“ ist atmosphärisch großartig.

    „Mauvais Sang“ hab ich erst neulich mal wieder gesehen: In der Tat ein völlig unterschätztes Meisterwerk.

  3. Christoph on September 6th, 2011 at 07:45

    Diese Begeisterung fußt aber, soweit ich das überblicken kann, zu großen Teilen gerade auf diesen drei deutschen Kinofilmen (seine tschechischen Filme sind leider enorm obskur), die du offenbar noch nicht gesehen hast. Zumindest auf DIE WEIBCHEN und ENGEL, DIE IHRE FLÜGEL VERBRENNEN – OH HAPPY DAY kennt keiner. In Kenntnis dieser drei Filme sieht man seine TV-Arbeiten vermutlich ganz anders als andere Folgen der betreffenden Serien, sofern man sie denn kennt. Zumindest geht mir persönlich das so. Ich kann mir allerdings auch nicht vorstellen, wie einen das Bizarre, das Fiebrige, der Schalk und das Verrückte (im Sinne von „verrücken“) in Episoden wie TOD EINER ZEUGIN und PARKPLATZHYÄNEN (Der Kommissar), ALARM AUF REVIER 12 und DER EINZELGÄNGER (Derrick) oder DIE UNBEKANNTE (Der Alte) nicht unmittelbar anspringen kann.
    Selbstverständlich kommt Brynych als „Auteur“ nicht in jeder Folge im gleichen Umfang „zum Zuge“ (insbesondere in den 80igern und 90igern verflachte auch er ein Stück weit in den Mühlen der Routine – allerdings kenne ich aus dieser Zeit nur Derrick-Folgen – man hört jedoch Irrsinniges und Apokalyptisches von seinen späten „Der Alte“-Folgen und die bereits erwähnte Derrick-Folge DER EINZELGÄNGER ist ein echter Rohdiamant, ein herzzerreißendes, düsteres „Gossenmelodram“). Aber selbst manche Episoden, die von mir tedenziell als ähnlich beider empfunden wurden wie diejenigen anderer, weniger profilierterer / interessanter Regisseure, bestechen noch mit Brynychschen Entgleisungen, etwas DER TOD DES TROMPETERS (Derrick) oder DIE SCHRECKLICHEN (Der Kommissar). Letzterer beinhaltet u. a. diese fulminante Szene:
    http://www.youtube.com/watch?v=NeqdIiEzeMM
    Ist das nicht großartig?! Für solche Momente liebe ich Brynych…

    Was die ENGEL angeht, so hat der unverbesserliche Reinecker den Film selbstverständlich nicht nur als Krimi (was er natürlich nicht geworden ist) sondern vor allem auch als eines seiner üblichen, moralphilosophischen Mief-Pamphlete (oder auch „Kolportage“, wie der Filmdienst meinte) angelegt, was Brynych damit anstellt, ist aber fern, ganz fern davon. Ich hatte gehofft, in meinem Text könnte ich die Unsichtbarkeit der Moral im Film, auf allen Seiten, etwas herausarbeiten.
    Jedenfalls war Reinecker bezeichnenderweise nicht sehr glücklich mit dem, was Brynych aus seinen Drehbüchern zauberte – auch bei den Ringelmann-Serien. Laut Brynych hat Reinecker nach anfänglicher Reserviertheit zwar die Kommissar-Folge DER PAPIERBLUMENMÖRDER eigens für ihn geschrieben, aber mit ENGEL, DIE IHRE FLÜGEL VERBRENNEN soll Reinecker dem Hörensagen nach ebenfalls unzufrieden gewesen sein. Ist auch kein Wunder, wenn man bedenkt, wie erzreaktionär der deutsche „Krimi-König“ eigentlich war. Ein besonders pathologisches, völlig delirantes (und interessanterweise auch inszenatorisches einigermaßen eigentümliches, perverses, schangeliges) Manifest der „Reinecker-Philosophie“ ist z. B. die späte Derrick-Folge PORNOCCHIO (Regie: Helmut Ashley). Bei deren Besichtigung fiel mir so manches Mal der Unterkiefer in den Schoß – die ausladenste Altherren-Exploitation, inmitten einer ZDF-Krimiserie.

    Blumenberg: Leider noch nichts gesehen, ist aber schon länger vorgemerkt. Er hat ja übrigens auch einige Tatorte gedreht…^^
    Nur die Tatsache, dass er ein „critic-turned-filmmaker“ ist, schreckt etwas ab. Ich hatte in meinem kurzen Leben schon sättigend viele unerquickliche Erlebnisse mit dieser Spezies.

  4. Sano Cestnik on September 6th, 2011 at 15:31

    @medienjunkie

    Zu Blumenberg: Bin zum damaligen nachträglichen Kinokleinststart von PLANET DER KANNIBALEN (wann war das eigentlich? 2003, 2004?) dank eines neugierig machenden Film-Dienst-Textes extra 50 Kilometer zum nächstliegenden Kommunlaen Kino gefahren. Fand ihn damals aber eher langweilig, verschenkt, und aufgrund seines (ausgestellten?) Amateur-Stils tendenziell peinlich. Da hatte ich natürlich noch ganz andere Geschmacksurteile, Präferenzen, und Vorwissen.Könnte mir heute bei einer Zweitsichtung also eventuell munden. Ansonsten LEIDER seitdem nichts weiteres von Blumenberg gesehen, weshalb ich vor einigen Wochen auch begeistert deine Texte zu seinen älteren Filmen verschlungen habe. 😉

    Könnte in der Tat was für die eskalierenden Träumer sein, und wird bis die 100 in der Lieblingsfilmreihe dann endlich voll ist mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit noch entdeckt (und vielleicht dann auch an dieser Stelle „vorgestellt“) werden. 😀

  5. Medienjunkie on September 6th, 2011 at 17:57

    @Christoph:
    Zumindest Dominik Graf schätzt Brynych auch noch für seinen tschechischen Film „Der fünfte Reiter war die Angst“. Ich hab in der Tat nur den „Sportpalastwalzer“ („Der Alte“) gesehen und in „Parkplatzhyänen“ reingeguckt, fand den aber zu schräg: grottige Schauspieler (Overacting à la Heesters) und merkwürdige Regieeinfälle wie dieser ständig auf die Kamera zulaufende, singende Indio in der WG.

    @Sano:
    Ich würde dir zu „Tausend Augen“ raten, ist auch eh der einzige, der als DVD(-Rip) zu haben ist.

  6. Christoph on September 6th, 2011 at 18:37

    „Ich hab in der Tat nur den “Sportpalastwalzer” (“Der Alte”) gesehen und in “Parkplatzhyänen” reingeguckt, fand den aber zu schräg: grottige Schauspieler (Overacting à la Heesters) und merkwürdige Regieeinfälle wie dieser ständig auf die Kamera zulaufende, singende Indio in der WG.“

    Hm, ich befürchte, dass Brynych dann eher nichts für dich ist, weil genau diese Dinge ihn für mich zum Ultra-Faszinosum erheben. In PARKPLATZHYÄNEN der UFA-Diva Marianne Hoppe dabei zuzusehen, wie sie sich von Brynych in die absolute Hysterie treiben lässt, sich ganz und gar in eine dadaistische (und burleske) Tollwütigkeit hineinsteigert, dass gehört zum Surrealsten, was ich in einem deutschen Film dieses Jahr bisher gesehen habe. Und diese WG und Heesters und die Latino-Gitarren und und und… Es ist unglaublich. Schangel!!!
    Der unermessliche Reiz des ephemer-augenblicklichen, ernsten Unernst ist das.

    Vielleicht würden dir seine wesentlich kühleren und „gesetzteren“ tschechischen Filme eher zusagen – ich kann dir TRANSPORT AUS DEM PARADIES und ALS HITLER DEN KRIEG ÜBERLEBTE empfehlen, beide großartige, seltene Beispiele wirklich widerborstiger Auseinandersetzungen mit dem Holocaust und den Nachwehen des dritten Reiches. Nach TRANSPORT AUS DEM PARADIES wirkt SCHINDLERS LISTE wie ein Disney-Film.

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