Glückliche Fügung (2010)
Wenige Minuten nach Filmbeginn offenbart sich BerlinerSchule-Surrealismus: Eine Tanzszene. In einer Disco, in der getanzt wird wie vermutlich in keiner deutschen Disco getanzt wird zu Musik, wie sie vermutlich in keiner deutschen Disco läuft.
Weitere, wenige Minuten später offenbart sich der Ultra-BerlinerSchule-”Gross-out”-Naturalismus: Sabine (Annika Kuhl) betritt ihre überzeugend unordentliche Wohnung, lässt geistesabwesend Sonnenblumenöl in eine ungewaschene Pfanne gluckern und lässt nach dem Auspacken der Einkäufe ein Steak ins siedende Öl plumpsen. Es brutzelt drastisch. Sabine stürzt ins Bad, um zu kotzen. Natürlich bleibt die Kamera draußen.
Das Würgen und das Brutzeln vermengen sich zu einem Geräusch, das mindestens genauso unangenehm ist wie Zugbremsen oder ein Stück Kreide, das auf einer Tafel kreischt.
Danach scheint sich zunächst etwas Unfassbares seinen Weg durch die langsam fließenden Kamerafahrten und die statischen Cinemascope-Einstellungen in Bauchhöhe zu bahnen: Ein BerlinerSchule-Liebesfilm! Der erwartungsvolle Rezipient möchte sein Glück kaum fassen ob der Berliner Schule-typischen Wortkargheit der spröden Anti-Romantik beim psychotischen Krankenhauskantinen-Rendezvous.
Doch die zu erwartende Transformation lässt nicht lange auf sich warten: Die Panik, die die nervös um sich blinzelnde Sabine urplötzlich ein “Der Rasen müsste mal gemäht werden!” stammeln lässt bei der Besichtigung des zukünftigen Eigenheims, deutet es an. Die matten Turteltauben haben beide Augenringe. Liebe? Für sowas hab ich keine Zeit!
Was folgt ist ein eiskalter Alptraum von der schleichenden Unausweichlichkeit des bürgerlichen Existenzanspruchs, wie ihn in einer so von jedem offensichtlichen existenziellen Ethos und jeder Hysterie befreiten, beunruhigenden Konsequenz und intimen Treffsicherheit das deutsche Kino in den letzten Jahren nur selten gesehen hat. Aus der scharfkantigen Feuchtigkeit der dämonischen Bilder offenbart sich der totale Horror. Hier hat anscheinend jemand eine persönliche Urangst in einen Film einzusperren versucht. Erfolgreich. Michael Hanekes DER SIEBENTE KONTINENT wird durch GLÜCKLICHE FÜGUNG überflüssig (sofern er das nicht schon vorher war).
In einem Schockmoment kurz vor der Entbindung rasselt Sabine halsbrecherisch auf ihrem Fahrrad einen Abhang hinunter, so wie der getriebene Marlon Brando auf seinem Pferd in John Hustons REFLECTIONS IN A GOLDEN EYE. Als Arno Frisch sich wie aus dem Nichts als der Mann aus dem Regen und der Nacht im Mittelteil des Films durch die Terrassentür in das neu eingerichtete Haus einlädt und sich vor der hochschwangeren Sabine seines triefenden T-Shirts entledigt, stellt man dann plötzlich noch fest, dass sich der Film erlaubt hat, zum Melodram zu werden. Ein BerlinerSchule-Melodram! Nun bin ich selbst des Begriffes “Berliner Schule” inzwischen auch etwas überdrüssig, aber es lässt sich doch sehr interessant damit spielen – nicht zuletzt jetzt, wo sich viele der “zugehörigen” Filmemacher dem Spiel mit Erzählformen und Genres öffnen.
Als glücklicher Filmvorführer, der in der unbezahlbaren Lage war, sich diesen Film selbst nach der letzten Vorstellung ganz allein vorführen zu können, schaltete ich anschließend perplex alle Gerätschaften aus und verließ den Saal wie im Traum. Draußen fragte mich die Barfrau bei der Feierabend-Zigarette, wie denn der Film so gewesen sei. Und ob er denn “wenigstens ein gutes Ende” gehabt habe? Das könne man so nicht sagen, erwiderte ich, innerlich etwas feixend bei der Vorstellung, wie sie wohl an meiner Stelle aus dem Kino gegangen wäre. Mit anderen Worten: Der ideale Date-Film 2011!
GLÜCKLICHE FÜGUNG – Deutschland 2010 – 90 Minuten – Seit dem 20. 01. im Kino
Regie: Isabelle Stever – Drehbuch: Anke Stelling, Isabelle Stever – Produktion: Sigrid Hoerner, Anne Leppin – Kamera: Bernhard Keller
Darsteller: Annika Kuhl, Stefan Rudolf, Arno Frisch, Maria Simon, Hanns Zischler, Juan Carlos Lopez, Petra Kelling
Hört sich wirklich super an! Ich möchte sowieso mehr „Berliner Schule“ entdecken. Ähnlich wie du hegte ich anfangs eine gewisse Skepsis bis Abneigung dagegen (vor allem wegen Petzolds m.E. misslungenen DIE INNERE SICHERHEIT). Da war DER RÄUBER schon ein erster Schritt zur Wertschätzung, ein Film, der mir zwar bei der Sichtung selbst gar nicht soooo super gefallen hat, aber eher im Abstand und in der Reflektion gewachsen ist.
Ein Effekt im Übrigen, der sich bei mir häufig bei Filmen einstellt, die mit den Mitteln der Kargheit und Entdramatisierung arbeiten. Wenn Filme den Schangel entbehren braucht es bei mir eben meist eine gewisse Inkubationszeit, bevor sich mir die (Ultra-)Kunst daraus offenbart.
Hach, das liest sich toll, so ein begeisterter Text von dir zu einem aktuellen deutschen Film. Bist ja inzwischen noch Berliner-Schule-affiner geworden als ich (aber das hat sich wohl damals schon mit Pia Marais-Debutsichtung angedeutet ;-))
Ich habe aber weiterhin das Gefühl, dass man dieses Frauenklischee einfach nicht loswird. Also, Filme von Frauen laufen im Kino einfach schlechter, bzw. wird über Filme von Frauen weniger geschrieben. Gegenbeispiel wären jetzt Claire Denis oder Angela Schanelec, aber wie sagt man so schön: Ausnahmen bestätigen die Regel.
Ich krieg das aber irgendwie einfach nicht aus dem Kopf, diese Gedanken. Obwohl ich mir schon seit zehn jahren einrede, dass das natürlich Blödsinn ist…
Und da fällt mir nach deinem Text – und der verpassten Kinosichtung (der lief dann natürlich nur noch einen Tag – und da konnte ich dann nicht), ein, dass ich ja zwei Spielfilme von Isabelle Stever zu Hause habe. Vor allem „Erste Ehe“ wollte ich nach den verrissen damals unbedingt sehen. Klang nach einem FIlm und einer Regisseurin die mir gefallen könnten. Jetzt hast du mich mit deinem Text aber natürlich total heiß gemacht, und ich lechze nach GLÜCKLICHE FÜGUNG!!!
Aber wie schrieb der erste Kommentator deines verlinkten Youtube-Trailers: „sieht langweilig aus!!!“. Also habe ich ja vielleicht doch noch Glück, und es ist nur eine von diesen „Christoph-Sachen“ – was dann aber nicht heißt, dass ich das Teil weniger baldmöglichst sehen müsste. 😉
EDIT: Der letzte Film, den ich von einer deutschen Filmemacherin im Kino gesehen habe (Die Friseuse), hat mir ja gut gefallen. Die Sterne stehen also günstig. 😀 (bitte jetzt nicht virtuell hauen) LOL
Ach ja, ich muss dich noch zitieren, mit meinem Lieblingsabsatz deiner Kritik: Doch die zu erwartende Transformation lässt nicht lange auf sich warten: Die Panik, die die nervös um sich blinzelnde Sabine urplötzlich ein “Der Rasen müsste mal gemäht werden!” stammeln lässt bei der Besichtigung des zukünftigen Eigenheims, deutet es an. Die matten Turteltauben haben beide Augenringe. Liebe? Für sowas hab ich keine Zeit! Suuuuuuuuper!! 🙂