Heute um 20:15 in der ARD:
Polizeiruf 110: Cassandras Warnung
„Giallo a Monaco“
Dieser Text war ursprünglich als Teil eines „informellen“ Filmfest München-Rückblicks konzipiert und ist daher keine Kritik im eigentlichen Sinne.
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Freitag, 01. 07. (1,0 Koffeintabletten)
Nach einem dekadenten „All you can eat“-Mahl in einem chinesischen Restaurant an der Isarbrücke (eine Protestaktion meines Gaumens und Magens gegen die monotone Discountbäcker- und Döner-Tristesse der auslaufenden Festival-Woche) und dem vergeblichen Versuch, unter einigermaßen vor Regentropfen schützenden Lindenblättern auf einer Parkbank ein kurzes Not-Nickerchen zu halten (eine Protestaktion meines Körpers gegen die Festivalmüdigkeit. Der Cinemensch lebt demzufolge immer sehr nah an der Obdachlosigkeit, zwischen der Heimatlichkeit des Kinos.) begab ich mich im immer noch sturzbachartigen Regen und unter anregend aufwallenden Donnerstößen ins Rio zur von mir sehnlich erwarteten Premiere von Dominik Grafs „Polizeiruf 110“-Folge CASSANDRAS WARNUNG. Denn: Spätestens seit der Retrospektive in Nürnberg vor zwei Monaten – sowie der dritten Sichtung seines selbst von seinem Schöpfer tragisch übergangenen und verschütteten Erstlings DAS ZWEITE GESICHT – bin ich Graf endgültig verfallen.
Das Drehbuch von CASSANDRAS WARNUNG geht auf das pralle Konto von Grafs schrillstem Stammautor Günter Schütter und ist die „Bewährungsprobe“ für Matthias Brandt, der beim Münchner Polizeiruf (für den Graf zuvor bereits die beiden absolut anbetungswürdigen DER SCHARLACHROTE ENGEL und ER SOLLTE TOT drehte) die Nachfolge des Ermittlerduos Michaela May / Edgar Selge antritt. Dementsprechend war das Foyer des Rio völlig überlaufen mit TV-Sternchen, Crew, Münchner Schickeria und geiernden Fotografen. Nachdem ich mich endlich unter großem Abscheu in den Kinosaal und zu einem passablen Sitzplatz vorgekämpft hatte, stellte ich zu meinem großen Unbehagen fest, auch dort reihum von Fernsehprominenz umgeben zu sein. Wie sollte ich unter derartigen Umständen unbeschwert die mutmaßlichen Unfassbarkeiten angemessen expressiv genießen? Festivals sind in dieser Hinsicht immer etwas unbefriedigend: So heftig sich die Gefühle auf der Leinwand auch ihren Weg freibrechen, im meist gut gefüllten Kinosaal darf man es ihnen nicht gleich tun, besonders in München, wo sich das Bildungsbürgertum meinem Empfinden nach noch dichter und bedrohlicher zusammenrottet als in Berlin. Trotzdem: Die Güte des Programms, gerade auch und insbesondere im Vergleich zu Berlin, lässt solchen Ungemach vergessen.
Nur wenige Sitze von mir entfernt lassen sich die Hauptdarsteller mit ihrem Regisseur nieder. Ich hätte Graf gerne angesprochen, aber nachdem wir ihn erst im Mai in Nürnberg exzessiv mit unseren Fragen gelöchert hatten – und er natürlich auch von diversen vorbeigehenden Menschen gegrüßt und besmalltalkt wird – schien mir die Gelegenheit unpassend. Direkt hinter mir nimmt Dieter Landuris Platz, der mir sehr alt vorkam, nachdem ich ihn erst vor zwei Wochen wieder in Hans-Christian Schmids 23 – NICHTS IST WIE ES SCHEINT (1998) gesehen hatte.
Die erstaunlich adäquate Digibeta-Projektion lässt schon in den ersten Minuten Grafs charakteristischen, grobkörnig-satten 16mm-Schangel blendend zur Geltung kommen. Der Leichtigkeit dieses Materials, seiner ästhetischen Dichte ebenso wie seine physischen Transparenz, dieser Leichtigkeit (oder „Luftigkeit“, wie er es selbst beschreibt) hält Graf immer noch, inmitten der digitalen Materialvernichtungswelle besonders des Fernsehens, die Treue. Keine HD-Schwere.
Diese ersten Minuten. Sie geben ein unglaubliches Versprechen, dass die folgenden 90 Minuten tatsächlich halten: Graf und Schütter, letzterer offensichtlich einschlägig bewandert, haben endlich ihren „Giallo“ geschaffen.
Der einleitenden Mord: Die subjektive Kamera, andeutungsvolle Zooms auf die gerade noch sichtbaren Beine des Killers im Gebüsch und dissonant-bedrohlich seufzendem Gähnen auf der Tonspur könnten stilechter kaum sein. Zum ersten Mal bleibt es allerdings nicht nur bei vereinzelten Bezügen. Zum ersten Mal hat Graf tatsächlich einen Film gedreht, der in seinem Aufbau, der Streuung und Konstruktion seiner „Setpieces“, seinen Handlung und Figuren treibenden Motiven und atmosphärischen Konstanten mustergültig prägendste Charakterismen der italienischen Psychothriller der 70iger versammelt, bündelt und zu ihresgleichen modelliert.
Nicht nur das. Er hat als deutscher Regisseur mit einer Fernsehproduktion den bislang vielleicht überzeugendsten und immanentesten Neo-Giallo geschaffen, der nahezu alle bisherigen dergestaltigen italienischen (Wiederbelebungs-)Versuche seit 2000 dem Fremdschämen preisgibt.
Kameramann Hanno Lentz, der auch schon Grafs modernes Anti-Sittenmelodram KALTER FRÜHLING (2004) mit voyeuristischem Glanz versah, explodiert. Das erste Drittel des Films: Totale Kinetik. Ruhe- und nahezu pausenlos zoomend, schwenkend, fahrend, rigide schneidend üben er und Graf ihren eigenen Entwurf eines neuzeitlichen, impulsiven Formalismus, der Bewegungsabläufe und die Reaktionen der Figuren aus räumlicher Perspektive Schwindel erregend zusammenrafft, in die Luft wirft, verteilt, arrangiert. Man wünscht sich das inniglich in einen Kinofilm, wie überhaupt gerade Grafs letzte Kriminalfilme wieder mehr und mehr die Frage aufwerfen, wie so etwas sein darf – dass sich genau das nicht auf der Leinwand, sondern nur auf dem Fernsehschirm abspielen kann und darf, hierzulande.
Gut, auf der Tonspur – eine kleine Torheit, tatsächlich Ennio Morricones unheimlichen Kinderchor aus Aldo Lados wunderbarem, melancholischen Giallo und DON’T LOOK NOW-Schwesternfilm CHI H’LA VISTA MORIRE (1972) zu sampeln – natürlich in den Szenen, die um einen rätselhaften Kindermord in den 90igern kreisen. Der wird ganz plötzlich in den Film hineingefegt, bauscht sich für lange Momente zum gespenstischen Gegenstand der Ermittlungen auf, zum Schlüssel in der Vergangenheit, und verschwindet dann einfach wieder, stilecht, wie ein perverser Moderhauch aus einer Bodenritze.
Was Schütter weiterhin an mediterran geprägten Genre-Ingredienzen und exploitativen Wagnissen in sein Drehbuch „geschmiert“ hat, das wäre einige Seiten wert.
Beunruhigend anmutende Fährten, die im mysteriösen Halbschatten bleiben, solange, bis sie unaufgelöst im Nichts verlaufen. Schrille Ausflüge an eigentümliche, von Zeit und Welt überwachsene, überwucherte und isolierte Orte zu eigentümlichen, unerklärlichen Figuren. Archaische Horrormomente, in denen der technisch elaborate Polizeiapparat versagt und sich eine Urangst offenbart, die nur ein Mensch im Dunkel einem anderen Menschen im Licht einjagen kann. Der einzelgängerische Inspektor, dem keiner vertraut. Beziehungsstreitigkeiten, die im überstürzten Versöhnungssex enden. Frauen, die bei Nacht durch nur vom Schein der Straßenlampen spärlich erleuchtete Treppenhäuser gejagt werden. Polizisten, die sich nur in Kaschemmen zuhause fühlen, nach ihrem Feierabend. Abgerissene Wohnblöcke, unter deren Mauern Kinderleichen gefunden werden. Ein Waldhaus, in das ein lautloser Killer durch die Kohlenluke einsteigt. Der Versuch, diesen Killer zu ködern, der in flammenumzüngeltem Chaos endet, einer kreischenden Terrorsequenz. Die dämonische, gesichtslose Unbekannte, die Baudelaire-Zitate als Warnung verschickt. Kriechende Kamerafahrten aus der Froschperspektive, auf futuristisch und plötzlich sehr schuldbewusst anmutende Wohnkomplexe zu…
Ich könnte ewig so weitermachen. Nur der souveräne Kommissar und die von Alma Leiberg zwischen Angriffslustigkeit und geistesungegenwärtiger Unsicherheit gespielte Femme fatale in disguise passen nicht – aber gerade deshalb passen sie besonders großartig. CASSANDRAS WARNUNG ist so absorbiert von seinen Einflüssen und deren Bezügen über mehrere Kinogenerationen hinweg, so reich, dass man die vielen atemberaubenden, filmisch puren Momente unmöglich mit nur zwei Armen halten könnte. Und seinen Reichtum stellt er dabei noch nicht einmal aus. Ich glaube, Graf würde das nie tun. Er lässt den Reichtum beständig durch die Texturen seiner Bilder schimmern und glühen, ein Schimmern und Glühen, dass filmkulturübergreifende Mauern nimmt, wie sie im deutschen Kino von niemandem sonst bestiegen werden. Alle ducken sich davor. Graf und Schütter aber spucken sich in die Hände und springen.
Ekkehard Knörer hat in seinem Text zu KALTER FRÜHLING geschrieben, dass Graf erst in den 2000ern seine eigentliche Meisterschaft entwickelt habe. Ich muss dem aufgrund meiner akuten Verehrung für die Grafschen Kinofilme und meiner Aversion gegen die herkömmliche Definition des Wortes „Meisterschaft“ widersprechen, allerdings für mich persönlich doch auch konstatieren, dass so etwas wie „Meisterschaft“ bei Graf, der diesen Begriff sicherlich immer trotzig-bescheiden von sich weisen wird, erst in seinen Filmen nach DIE SIEGER zu finden ist. Meisterschaft im Sinne von: Furchtlosigkeit, absolutem Selbstbewusstsein, zeitloser Sicherheit, unerschütterlichem Auflaufen gegen die Mühlen, die dem Genrekino von heute nach seinem Aufbegehren trachten, schlafwandlerisches Gespür für den großen Effekt des kurzen Moments. Nach all dem suchen Graf und Schütter nach wie vor. CASSANDRAS WARNUNG hat etwas Jugendliches an sich, etwas Verlangendes. Der Heißhunger ist noch längst nicht gestillt.
CASSANDRAS WARNUNG ist jedenfalls nicht mehr „nur“ ein großartiger Thriller, ein großartiges Stück Genrekino wie etwa Grafs vorherige Polizeiruf-Folgen, CASSANDRAS WARNUNG ist tatsächlich: Die Arbeit eines Meisters. Graf selbst erwähnte, dass man Schütter in seinen „abgedrehten Momenten“ mitunter beinahe etwas zügeln müsse. Davon ist hier, in meinen gierig leckenden Augen, nichts mehr festzustellen. Schütter sind endlich alle Gäule durchgegangen und Graf lässt ihn entspannt gewähren, spielt ihm sogar mit Schalk in die Tasche. Vereint in der Liebe zur Überhöhung des fiktiv Gewöhnlichen, vertrauensvoll auf der Suche nach Gratwanderungen und Überschneidungen filmischer Realitäten und gesellschaftlicher Surrealismen.
Vielleicht sind die individuellen Obsessionswelten der beiden tatsächlich seit dem fiebrigen Noir-Alptraum ihrer „Der Fahnder“-Folge NACHTWACHE nicht mehr so vollkommen und eruptiv miteinander verschmolzen. Der eine scheint die Gedanken des anderen zu lesen und ihnen nachzuhängen, egal ob sie gerade vor der Aufgabe stehen, die Protagonistin ihres Films ihre Weiblichkeit vor versammeltem Ermittlerteam demonstrieren zu lassen, ob sie dieses Ermittlerteam bei einem Besäufnis „off duty“ zeigen müssen, ob sie in einem Suspense-Moment die Entfernung der beteiligten Figuren zwischeneinander auskundschaften oder ob sie Doris Kunstmann als verbitterte, gealterte Polizistin über die „Babykacke“ schwadronieren lassen, in der „München erstickt“. Und von Zeiten, in denen junge Männer ihre Mädchen ausführten und ihnen undergroundige Platten vorspielten.
Das sentimental Nostalgische und das furchtlos Moderne, das offen Absurde und das heimlich Lauernde harmonieren in dem bisher vielleicht aufregendsten deutschen Film des Jahres 2011, LE TRE FACCE DELLA SIGNORA IN VIOLA, bzw. CASSANDRAS WARNUNG, miteinander auf einer kleinen, von der fantasielosen Zitierwütigkeit der Postmoderne unberührten, paradiesischen Insel, weit draußen zwischen den sich inspirativ hebenden und senkenden Wogen des Cine-Ozeans.
Lieblingszitat:
„Angefangen hat es mit Holzschuhen und irgendwann waren wir dann bei Tittenspecht und Ständereule.“
POLIZEIRUF 110 – CASSANDRAS WARNUNG – Deutschland 2011
90 Minuten (TV), 97 Minuten (Filmfest München) – 16mm
Regie: Dominik Graf – Produktion: Cornelia Ackers, Hamid Baroua – Drehbuch: Günter Schütter – Kamera: Hanno Lentz – Schnitt: Ulla Möllinger – Musik: Sven Rossenbach, Florian van Volxem, Ennio Morricone – Darsteller: Matthias Brandt, Alma Leiberg, Ronald Zehrfeld, Anna Maria Sturm, Samir Fuchs, Philipp Moog, Tobias van Dieken, Lena Baader, Gerhard Wittmann, Doris Kunstmann
Bilder sehen toll aus. Bin aber aufgrund meiner Erfahrungen mit TV-Filmen bedeutender Regisseure vorsichtig. Und kann mir kaum vorstellen, dass „Cassandras Warnung“ etwa an den spanischen Neo-Giallo „Los ojos de Julia“ heranreicht. Trotzdem Danke für den Tipp!
Aber, lieber Herr Schwanenmeister, wie darf ich das denn nun verstehen? Dominik Graf ist gerade wegen seiner Fernsehfilme der letzten 15 Jahre von so großer Bedeutung für den deutschen Film. Vom Kino hat er sich schließlich inzwischen, halb erzwungenermaßen, von den Filmförderungsusurpatoren vergrault, mehr oder minder verabschiedet. Kennen Sie etwa seine Meisterwerke DIE FREUNDE DER FREUNDE, KALTER FRÜHLING, DER SCHARLACHROTE ENGEL, EINE STADT WIRD ERPRESST und DAS GELÜBDE noch nicht? Im Kontrast dazu konnte ich noch keine Courage aufbringen, mir seinen letzten, für mich eher „brav“ klingenden Kinofilm DER ROTE KAKADU zu Gemüte zu führen. Zwar ist mein Lieblingsfilm von Graf DER FELSEN, also sein vorletzter Kinofilm, aber das scheint mir nachrangig. Ich kann inzwischen keinerlei qualitatives / kinematographisches Gefälle zwischen seinen Kino- und seinen TV-Filmen mehr ausmachen, abgesehen vielleicht davon, dass man sich natürlich DIE KATZE, DIE SIEGER und DER FELSEN nur schwerlich als Fernsehfilme vorstellen kann.
LOS OJOS DE JULIA habe ich noch nicht gesehen, befürchte allerdings nach allem, was ich darüber gelesen habe und in Anbetracht meiner Skepsis gegenüber dem aktuellen spanischen Horrorfilm ein für mich eher uninteressantes, gelacktes Argento-De Palma-Fanboy-Patchwork-Derivat als einen wirklich inspirierenden und für mich als giallomanes Wesen „gewinnbringenden“ Film. Der CASSANDRAS WARNUNG eben ist, weil er es versteht, einen deutschen Fernsehkrimi ins Giallo-Gewand zu manteln und gleichzeitig auf weiter an Grafs kontinuierlicher Entwicklung „seines“ eigenen, ausgesprochen deutschen Genrekinos arbeitet. Die vollkommene Hinwendung zum italienischen Genrekino kommt daher zu einem glücklichen Zeitpunkt – zu dem sie nicht mehr als Zitat das übrige Gräfliche Oeuvre überschatten sondern es in ebenso irritierend widersprüchlicher, beinahe betont willkürlicher wie allerdings auch schon nahezu überfälliger Weise um ein „missing link“ ergänzt. Ein nachgereichtes missing link allerdings. Das wollte ich auch ein Stück weit mit einfassen in dem etwas verunglückten (Ach, der ganze Text ist oberflächlicher Mist) Einsatz über die „Meisterschaft“.
Falls du mit Grafs Fernsehfilmen wirklich noch nicht vertraut sein solltest (das gibt’s doch einfach nicht?! Ich bin enttäuscht von dir.), rate ich ganz besonders dir ganz besonders dringend zu der „Fahnder“-Folge NACHTWACHE, zu DER SKORPION (Wie für dich geschaffen, glaube ich. Bietet „interessante männliche Blicke auf das Weibliche“.), zu DIE FREUNDE DER FREUNDE und EINE STADT WIRD ERPRESST.
Außerdem läuft in 8 Tagen ja schon das Dreileben-Trio, ebenfalls auf der ARD und KOMM MIR NICHT NACH ist auch ein kleiner Rohdiamant.
Ach ja: Sollte es nicht recht durchgedrungen sein: CASSANDRAS WARNUNG sollte für dich eigentlich alleine schon aufgrund seines äußerst stattlichen Sleaze-Gehalts Pflichtprogramm sein. Da schäumen die ungeheuren Gefühle, und zwar nicht zu knapp! Das ist beispielsweise angesichts des immer weiter vertrocknenden deutschen Kinos auch toll, dass Graf seit Mitte der 90iger immer Sleaze-affiner geworden ist. Und CASSANDRAS WARNUNG stößt hier zu einer neuen Wassermarke vor. 🙂
PS: Die Bilder sind übrigens alle als Screenshots dem YouTube-Trailer entnommen. Das digitale Zeitalter offenbart in solchen Verfügbarkeitsschüben mitunter seine größten Vorzüge. Pressefotos sind doch meist so unendlich trist und unrepräsentativ.
Sieh mal an: Aus dem YouTube-Trailer übernommen. Dafür ist das eine stattliche Qualität. Und du darfst immer gerne alles so verstehen, wie es dir genehm ist, denn ich lese immer gerne etwas über Dominik Graf (Meine Lieblingsfilme: „Die Katze“ und „Hotte im Paradies“). Aber es war doch etwas anders gemeint. Es ging dabei generell mehr um meine Erfahrungen, die ich mit geschätzten Regisseuren und ihren TV-Arbeiten gemacht habe. Ob Sam Fuller, Wolfgang Petersen oder Quentin Tarantino – das Fernsehen fällt für mich im Durchschnitt doch immer gegenüber den echten Kinofilmen ab. Meistens sind es Ergänzungsfilme, über die man sich mehr als Komplettist freut, der sich an den wiedergefundenen Leitmotiven in den vorgeschriebenen Serien-Korsetts berauscht. Nette, häufig nicht unspannende Experimente, die jedoch Nebenprojekte jenseits des Hauptwerkes bleiben.
Ich habe mir übrigens den Polizeiruf „live“ angesehen und fühlte mich schrecklicherweise in meinen Gefühlen bestätigt. Musste am Ende ehrlich gesagt auch weniger über die netten Giallo-Anleihen nachdenken, weil ich mich mehr an Clouzots „Die Teuflischen“ erinnert fühlte. Mir haben die persönlichen Einsprengsel Grafs am besten gefallen; vor allem das Gespräch darüber, wie man früher in München zwischen Kino und Musikladen wandelte; aber genauso die ungelenken Tanzversuche des Kommissars. Unterhaltsam, aber wohl nicht in Erinnerung bleibend. Das gilt aber wohl vor allem für Arbeiten im Bereich TV-Serien. Ich bin zum Beispiel unheimlich gespannt auf Klaus Lemkes neuen TV-Film „Drei Kreuze für einen Bestseller“.
Und auch wenn ich nicht wirklich deine Vorbehalte gegenüber dem aktuellen spanischen Horrorfilm nachvollziehen kann, ja eigentlich sogar das totale Gegenteil davon darstelle, würde ich deshalb deine Ängste schon aus Prinzip als überflüssige Hirngespinste abwatschen. 😉
@Christoph
Ich bin immer noch ganz hin und weg von dem Film. Mein Graf Nummer 11, und Lieblingsfilm Nummer 7. Langsam wird das unheimlich…
Was für ein Film, was für ein Krimi, was für ein Reißer – und dann auch noch fürs Fernsehen!! Du hast recht: CASSANDRAS WARNUNG ist (zumindest formal) noch brillanter und interessanter, als der nicht minder großartige DER SCHARLACHROTE ENGEL. Und Günter Schütter kann man nur umarmen. Das war wirklich ein Giallo. Wie aus den 70ern. Und doch gar nicht nostalgisch, sondern im Hier und Jetzt. Wie du schreibst: Kein Vergleich zu früheren Anleihen und Zitaten. Das ist diesmal eine Komplett-Einverleibung.
Der Film gehört natürlich ins Kino! Bin jetzt doch extrem neidisch auf dich und den Andi, und gar nicht mal wegen der fehlenden 7 Minuten (wie ich zunächst vermutet hätte), sondern weil CASSANDRAS WARNUNG auf der Leinwand noch einmal ein intensiveres Erlebnis sein muss. Kaum vorzustellen. Bin während dem Film von der Couch runter, auf den Boden, näher an den Fernseher heran. Um auch ja nichts zu verpassen. 🙂
Dein Text ist übrigens – wie erwartet – toll! Enthusiastisch, leidenschaftlich, vielschichtig fragmentarisch. Wenn du noch einmal darüber meckerst, kriegst du von mir beim nächsten Wiedersehen eine Standpauke!! 😉 Musst mal mehr solcher persönlichen spontanen Ergüsse auf den Blog stellen, denn das ließt sich wie einer deiner STB-Einträge – ohne Verkrampfungen die bei den „bearbeiteten“ oder „durchdachteren“ Texten teilweise zu bemerken sind. Liest sich flüssig (fließt und springt wie Grafs Film), und macht den Eindruck direkt nach der Sichtung entstanden zu sein. Aber ich bekenne, ich bin ja nicht nur Graf-Fan sondern auch ein Fan deiner Texte. 🙂
Ich glaube in Zukunft lasse ich solch einen faux-pas wie den bei Kalter Frühling nicht mehr zu, sondern warte mit meinem Text einfach bis du den Deinen veröffentlicht hast. Und so haben wir dann trotzdem 2 auf dem Blog. 😀
Ich antworte euch vielleicht später noch, meine Lieben. Möchte jetzt erst noch einen Film gucken, nachdem ich heute Abend arbeiten musste und eine zweite Begegnung mit Cassandra daher nicht möglich war (vielleicht auch besser so, da ich gerade von Sano erfahren habe, dass eine der BESTEN Szenen des Films in der Fernsehfassung getilgt wurde. Details dazu ebenfalls später.).
In der Zwischenzeit hier noch einen Ultra-Twitterkommentar zum Film, der zeigt, was Leuten passieren kann, die nicht zwischen den Zeilen lesen :-):
„Wie immer bei Herrn Graf: Machos auf Speed und rollige Rassekatzen wohin das Auge blickt.“
Wenn das tatsächlich SO wäre, wäre ich kein Graf-Fan. Das es manchmal so ähnlich (und immer hinterlistig so) ist, macht mich hingegen noch mehr zum Graf-Fan.
@ Schwanenmeister:
Nette, häufig nicht unspannende Experimente, die jedoch Nebenprojekte jenseits des Hauptwerkes bleiben.
Tja, genau das, was ich sehen will. Die „Hauptwerke“ sind ja bei vielen Regisseuren eher öde. 🙂 Jedenfalls verehre ich sehr so manchen meiner berühmteren Lieblingsregisseure (bei den weniger berühmten wird es auch schwieriger, mit der Unterscheidung zwischen Haupt- und dem Nebenwerk^^) in erster Linie wegen sogenannter „Nebenwerke“: John Frankenheimer, Alfred Hitchcock, John Huston, Lucio Fulci, Martin Scorsese, Federico Fellini, David Lean, Ernst Hofbauer, Helmut Käutner…
Da du Fuller erwähnst: Ich freue mich schon wie ein Kind auf TOTE TAUBE IN DER BEETHOVENSTRASSE auf den du ja wohl angespielt hast. Fuller ist für mich dann am Besten, wenn er experimentiert, wie beispielsweise auch in THE NAKED KISS.
Und auch sonst kann ich mir nicht helfen: Ich kenne zumindest aus dem deutschen Raum schon viel zuviele GROSSARTIGE Fernseharbeiten verehrter Regisseure: Zahlreiche dadaistische oder in surreale Trancen übersteigerte DER KOMMISSAR-, DER ALTE- und DERRICK-Episoden von Zbynek Brynych, drei TATORTe von Wolfgang Staudte die alle auf ihre eigene Weise ziemlich „jaw-dropping“ waren (Ein Text zu zweien ist fast fertig. Auch dort werden dich vermutlich die Bilder überzeugen:-), natürlich auch von Jürgen Roland, der sein immer wieder faszinierend befremdliches Semi-Reportage-Konzept aus POLIZEIREVIER DAVIDSWACHE einfach in seine Tatort-Folgen hinübergerettet hat, ganz zu schweigen von Regisseuren wie Dietrich Haugk und Wolfgang Becker, die, obgleich beinahe ausschließlich TV-Filmer, bisweilen in ungeheurlichen Stilisierungs- und Verdrehungs-Exzessen zu sich kamen. Desweiteren wären da einige Fernsehfilme von Fassbinder wie MARTHA oder WILDWECHSEL (wer da spitzfindig mit „aber das waren doch nur Fernseh*produktionen*, kann sich gleich zu Graf umdrehen) oder Sohrab Shahid Saless, bei dem ich auch nicht wagen würde, einfach salopp STILL LIFE und UTOPIA zum Haupt- und alles andere zum Nebenwerk zu erklären.
Natürlich gibt es auch enttäuschende und schlockige Fernsehfilme toller Filmemacher. Ich hatte mal ein relativ tristes Erlebnis mit A DEATH IN CANAAN, einem Fernseh-Gerichtsdrama von Tony Richardson sowie einigen Episoden dieser „Serie rose“, für die u. a. Borowczyk und Roeg gedreht haben
Aber wer entscheidet überhaupt, was Haupt- und was Nebenwerk ist? Muss man das, entscheiden? „Hauptwerk“ – das Wort atmet den Kanon aus jeder Pore.
Wie dem auch sei, ich werde mir LAS OJOS DE JULIA wohl mal zur Brust nehmen. Wenn dabei nichts für mich herausspringen sollte, so habe ich dann zumindest Gewißheit. Wenn er mir einige Tage im Gedächtnis bleibt, reicht das schon – er muss ja nicht noch zwei Monate nach der Sichtung intensiv in meinem Kopf herumspuken wie z. B. CASSANDRAS WARNUNG. 😉
@ Sano:
Unheimlich ist das, ja. Wann sind wir uns schon so oft in Folge einig? Ein richtiger Konsens ist das! Hier, auf Eskalierende Träume! Beängstigend.
Es freut mich, dass es sich dir auch so heftig offenbart hat, auch wenn es mir leid tut für dich, dass in der TV-Fassung die unglaubliche Szene gefehlt hat, in der Alma Leiberg mit einem „Mit diesem Verdacht tun sie nicht nur meinem Mann, sondern auch mir unrecht“ vor den Polizisten ihren Rock hebt um allen zu zeigen, dass sie überzeugend weiblich und kein Transvestit ist. Wie kann man nur auf eine solche Szene verzichten?! Ein unvergesslicher Schütter-Moment.
Was aber den Text angeht…
Musst mal mehr solcher persönlichen spontanen Ergüsse auf den Blog stellen, den das ließt sich wie einer deiner STB-Einträge – ohne Verkrampfungen die bei den “bearbeiteten” oder “Durchdachteren” Texten teilweise zu bemerken sind.
Wenn er wie einer meiner STB-Einträge ist, dann ist er eben gerade nicht persönlich. In meinem Sehtagebuch bin ich vielleicht intimer, aber auch viel unpersönlicher und grober als in meinen Texten. Zumindest sehe ich das so. Ich weiß schon, der Autor zählt dir am Wenigsten, wenn es um seine eigene Schöpfung geht. Trotzdem: Was für ein mieser Text. Entstanden ist er ganz pragmatisch und wie geplant völlig unspontan eine Woche nach der Sichtung, ich war damit halbwegs zufrieden. Als ich ihn dann für die Veröffentlichung überarbeitete, bekam ich kolossale Bauchschmerzen von diesem banalen, Fanboy-artigen Schlock, den ich da verbrochen habe. Anyway – solange es mindestens dir gefällt…
Die Version in der ARD-Mediathek scheint ja die ungekürzte Fassung zu sein, die auch auf dem Filmfest lief. Länge: 99:45 min. steht zumindest da. Überprüfen lässt sich das wegen dem Jugendschutzfilter wohl erst wieder ab 20 Uhr. Wäre toll, wenns wirklich so wäre.
Also ich habe gerade mal reingesehen und bei mir steht da 89:19. 🙁
Cornelia Ackers, die Redakteurin, meinte nach Grafs Ankündigung in München, man würde nun exklusiv den sieben Minuten längeren „Writer’s cut“ zu sehen bekommen, dass man dafür ja vielleicht noch einen späteren Sendeplatz finden könne. Sehr unwahrscheinlich.
Aber vielleicht erscheint die Langfassung ja wenigstens auf DVD, irgendwann.
Ich könnte mir auch vorstellen, dass einige der sleazigen Momente des Films der Zensurschere zum Opfer gefallen sind – „nicht für 12jährige geeignet“.
Absolut Grandios! Graf und Schütter retten das deutsche Fernsehen für knappe 90 Minuten!!! Auch ohne die mutmaßlich besonders saftigen 7 Minuten durchgängig Schangel und Wahnsinn.
@Christoph:
Was deinen Text betrifft, keine Ahnung, was du da für ein Problem hast. Finde denn keinesfalls schlockig. Ich kann Sano nur recht damit geben, dass manche deiner durchgearbeiteten Texte eher – natürlich nur stellenweise, my love – spröder und verquaster wirken und etwas schwerfälliger Atmen, als so eine in cinemenschlicher Restgeilheit befreit dahingewichste Fanboy-Onanie… 😉
Wer sich übrigens ein (wahrlich ernüchterndes) Bild davon machen möchte, wie der spießige deutsche Durchschnittsfernsehgucker auf die gräflichen Eskapaden reagiert, der werfe auf eigene Gefahr einen Blick in diese vernichtenden Threads zum Film im ARD-Forum:
http://www3.daserste.de/forum/showthread.php?t=1251601
http://www3.daserste.de/forum/showthread.php?t=1251606
Ziemlich deprimierend, diese aggressive… „Kunstfeindlichkeit“, um es mit diesem Wort vorsichtig und höflich zu formulieren.
Solche Threads habe ich übrigens auch schon in anderen Krimi-Fanforen zu den Ringelmann-Krimis von Zbynek Brynych gelesen, wo auch hasserfüllt über „komische und viel zu hektische Kameraführung“, „schmierige Typen“ und „Leute, die ohne jeden Grund in hysterisches Gelächter ausbrechen, total nervig“ und davon, wie das Folge XY „ruiniert“ hätte, hergezogen wurde. So wenig reicht schon aus, um die aus ihrer schönen (Feier)abend-Tristesse aufgestörten Deutschtümler vor der Mattscheibe in Rage zu bringen.
Schade. Ich hatte nach der sehr positiven Stimmung im Münchner Premierenpublikum eigentlich gehofft, dass diesmal nicht wieder Jahre bis zum nächsten Polizeiruf von Graf vergehen würden (da seine beiden vorherigen Folgen DER SCHARLACHROTE ENGEL und ER SOLLTE TOT auch die Ultrakunst waren) aber risikophob wie man beim deutschen Fernsehen ist, dürfte man dort schon ausreichend eingeschüchtert sein, um vorerst wieder auf „Wagnisse“ jeder Art zu verzichten. Wenn ich dann an diesen grotesk schlechten, schäbig berechnenden neuen Tatort denke, den ich vor einigen Wochen gesehen habe („Nasse Sachen“) wird mir gleich wieder übel.
Zunächst mal danke dafür, dass du hier auf den Polizeiruf von Graf hingewiesen hast. Den hätte ich glatt übersehen, da ich TV-Krimis nur höchst selten anschaue. Hier lohnte sich das Einschalten mal wirklich 🙂
Bei den wirklich bis zur Karikatur klischeehaften Reaktionen im Polizeirufforum der ARD sollte man aber berücksichtigen, dass sich hier wohl zum größeren Teil eine Schar notorischer Backenaufplusterer breitgemacht hat, die ja auch die Foren diverser Tageszeitungen füllt mit dem, was sie für die „wahre Volksmeinung“ hält. Es gab ja zwischendrin auch einige besonnene Stimmen.
Die Provokation des Films liegt ja für viele hauptsächlich daran, dass Graf nicht auf „irgendeinem“ Sendeplatz einen „modernen“ Krimi geliefert hat, sondern eben im geheiligten Tatort/Polizeiruf Format. Und das sind die Zuschauergehirne nach jahrzehntelangem Eselstrott eben genau dies: formatiert.
Übrigens wird man jetzt sehr genau messen können, wieviel Rückgrat die Redaktion der ARD hat. Will sie ein neues Format wirklich durchsetzen oder knickt sie beim ersten Gegenwind ein?
Die Reaktionen auf Grafs experimentelle Form entsprechen ziemlich genau denen, die vor dreißig Jahren den Experimenten von „Kottan ermittelt“ entgegenschlugen. Damals schien der geheiligte Sendeplatze des Freitagabendkrimis (Der Alte/Derrick) geschändet. Damals hielt das ZDF trotz allem Volkszorn und allen Pressekampagnen dem Wiener Experiment über Jahre die Treue, bis es vom ORF selbst zu Grabe getragen wurde.
Wie steht es heute mit der ARD?
„Bei den wirklich bis zur Karikatur klischeehaften Reaktionen im Polizeirufforum der ARD sollte man aber berücksichtigen, dass sich hier wohl zum größeren Teil eine Schar notorischer Backenaufplusterer breitgemacht hat, die ja auch die Foren diverser Tageszeitungen füllt mit dem, was sie für die “wahre Volksmeinung” hält. Es gab ja zwischendrin auch einige besonnene Stimmen.“
Das stimmt natürlich, trotzdem ist auch die Anzahl der vernichtenden Stimmen, die in ihren Verrissen über bloßes Geschrei etwas hinausgehen, immer noch ziemlich erschlagend. Wie hat dir als deutschem Spießer;-) der Film denn konkret gemundet?
Ich schätze, dass CASSANDRAS WARNUNG nicht der erste (TV-)Film Grafs ist, der sich mit einem solchen Echo konfrontiert sieht. Vermutlich haben sich auch in den 90igern schon Zuschauer ereifert über den absurden Humor und die „konfus erzählte“ Handlung von FRAU BU LACHT oder die Ecstasy- und Porno-Exzesse im ebenfalls recht vernuschelten DER SKORPION (ich *liebe* das Genuschel). Oder über Michaela Mays beschwingten Tanz analog zum Webcam-Striptease einer Hauptverdächtigen in DER SCHARLACHROTE ENGEL. Jenseits des Feuilletons hat selbst IM ANGESICHTS DES VERBRECHENS ordentlich Schelte bezogen von der „Stimme des Volkes“ (sehr hübsch gesprochen).
Graf hat es jedenfalls (gottlob) trotzdem immer wieder geschafft, sich Derartiges zu leisten, auch dank der Solidarität einiger Redakteure, wie er uns gegenüber erwähnte. Ich könnte mir vorstellen, dass das auch einer von mehreren Gründe ist, warum Graf seit FRAU BU LACHT keinen Tatort mehr gedreht hat und bislang auch nur 3 Polizeiruf-Folgen (andere Regisseure drehen jährlich für die Serie). Man kann sich das vermutlich „nicht zu oft“ erlauben.
Ich verstehe aber nach wie vor nicht, woher in diesem speziellen Fall die ganze Empörung kommt. In München dachte ich mir noch während der Vorführung, dass der Film, da er doch eigentlich um einiges rasanter, schärfer, tatsächlich auch moderner und natürlich rabiater ist als das meiste, was ich sonst in den letzten Jahren gelegentlich an öffentlich-rechtlichem Krimis gesehen habe, eigentlich hervorragend ankommen müsste. Und wie „publikumsnah“ er doch eigentlich ist, dafür, dass er gleichzeitig mich in meiner verschwurbelten Perspektive cineastisch durch und durch befriedigt hat. Aber jetzt, in zahllosen Stimmen zu CASSANDRAS WARNUNG, lese ich vielerorts etwas von einem „egomanischen Starregisseur“, „elitärer Kunstfilmerei“ oder dem „Autorenfilmer Graf“. Unfassbar – überspitzt könnte man sagen: Da macht einer mal so etwas wie ambitioniertes Genrekino in Deutschland und schon wird er mit solchen Termen beschmissen.
Aber nein, HELL von Tim Fehlbaum (mein vermutlich nicht mehr zu unterbietender derzeitiger Hassfilm des laufenden Kinojahres) ist der hoffnungsvollste deutsche Film des Jahres, der kann mal wirklich sogar mit internationalen Standards mithalten, Respekt!
Ach, ist das alles traurig.
Ansonsten Zustimmung zum meisten, was du über die „Formatierung“ geschrieben hast. Die wahrscheinlich tatsächlich in erster Linie den Sendern selbst anzulasten ist.
Und bei deiner Erinnerung an Kottan musste ich auch gleich an die cinephilen Abend- und Nachtprogramme denken, die sowohl ARD als auch ZDF und BR in den 80igern noch aufgeboten haben. Was mir da teilweise schon an alten Aufnahmen (meinen einzigen Berührungspunkten mit dem Fernsehen dieser Zeit, natürlich) in die Hände gefallen ist… „Guten Abend, liebe Zuschauer. Heute sehen Sie in unserer Retrospektive von Filmen des Regisseurs Robert van Ackeren / Anthony Mann / Douglas Sirk / Samuel Fuller / Damiano Damiani / Jacques Deray…“. Und das waren keine leere Worte – in diesen sogenannten Retrospektive liefen dann teilweise tatsächlich fast alle Filme der besagten Regisseure sowie einige davon in deutscher Erstaufführung mit Untertiteln oder sogar neuer, eigens erstellter Synchronisation. Aber ich schweife ab. Nicht schon wieder anfangen mit diesem elenden „Früher war alles besser“ und so.
Jetzt tut mal nicht so, als sei Grafs Polizeiruf so ultra-antimainstream gewesen. Bei 7,7 Millionen Zuschauern und Hymnen der Graf-hörigen Praktikanten von Süddeutsche, FAZ und Spiegel Online. Und auch Cargo Film hat sich schön kindisch über den Cockring gefreut.
Wieso? Ich wundere mich doch über nicht nur die negativen Kommentare sondern teilweise auch Rezensionen. Es muss ja um Himmelswillen niemand genauso sehen wie ich – aber oben schrieb ich doch zwischen den Zeilen, dass mir der Film ausreichend mainstream-kompatibel wirkte (es ist natürlich immer noch ein Polizeiruf, der allerhand kontrollierende Distanzen durchschritten hat) und ich daher von der Dichte der Verrisse überrumpelt bin. Einschaltquoten geben über sowas keinen Aufschluss – das Feuilleton und die intellektuelle Filmkritik erst recht nicht, genauso wie Eskalierende Träume. Von uns und von Cargo (sehr stylish und bemüht haben die das gemacht, mit skype! so kann man das heute auch anstellen, ganz auf der höhe der zeit, und ihrer form, und überhaupt.) hätte man auch nichts anderes erwartet. Fanboy-Eintracht im Cinemenschenland. Aber nur da.
Wie der Film mir gemundet hat? Auch wenn es dich überrascht: gut bis sehr gut – für einen deutschen Fernsehkrimi.
Deine stilistischen Beobachtungen würde ich unterschreiben, auch wenn ich sie sicherlich sehr anders formuliert hätte und weniger emphatisch umhüllen würde. Aber das liegt an unserem Temperamentsunterschied, nicht an den Beobachtungen und der Grundausrichtung des Geschmachksurteils.
Im Übrigen sollte man bei einem großen Teil des Tatort/Polizeiruf-Publikums gar nicht mal den bösen Willen unterstellen, der sich bei den banausischen Beiträgen im ARD-Forum offenbart.
Aus eigener Erfahrung weiss ich, dass in der Generation meiner Eltern viele Tatort-Fans sind, denen einfach alle Kinoerfahrungen fehlen, um Grafs Referenzen zu verstehen. Vermutlich kam diese Zuschauergeneration mit den inhaltlichen Provokationen Grafs noch eher klar, als mit den Formalen. Die Figur des Kommissars fand da durchaus Anklang. Aber als Kinointeressierter, ja Kinofanatiker vergisst man allzu leicht die Relationen. Fernsehen wird eben oft für Nicht-Kinogänger gemacht. Aus diesem Grund kommen die eher konservativ gefilmten, aber etwas witziger in der Figurenzeichnung und den Dialogen angelegte Tatorte (wie der aus Münster) so gut an. Die schnellen Schnitte, stark elliptischen Konstruktionen, das Stakkatoartige der Inszenierung von Graf liegt außerhalb von deren Generationserfahung.
Ich glaube, hier erwartest du zuviel.
Mir persönlich hingegen kam Graf sehr entgegen. Auch wenn mir beim Tatort/Polizeiruf wirklich die Masse der Vergleiche fehlt, in den letzten Wochen war ich öfters „zu Besuch“ und habe dadurch die Gelegenheit gehabt, a) einen Tatort aus Stuttgart und b) den neuen, pressemäßig ebenfalls gehypten Tatort aus Luzern sehen. Beides waren biedere Werke, die mich in meiner TV-Diät eher bestärkten. Dagegen war der Graf die reine ästhetische Völlerei.
Um sowas beim breiten Publikum zu etablieren, reicht ein Werk nicht aus. Da müsste der Sender eher den Willen beweisen, sowas regelmäßig zu senden. Das setzt Rückgrat und künstlerische Überzeugungen voraus, die es in der zu Tode evaluierten TV-Landschaft schwer haben.
Im Übrigen hoffe ich auf eine DVD. Wenn es noch eine längere und bessere Fassung gäbe, würde ich mich sehr freuen. An einigen Stellen schien mir der Filmlauf doch etwas sehr sprunghaft und grobmaschig. Das könnte auf eine Kürzung hindeuten, die mit Rücksicht auf den Sendeplatz vorgenommen wurde.
Gerade gesichtet. Was für ein toller Film – was für ein tolles Drehbuch. Narratologie & Formalästhetik in herrlicher, im TV selten vernommener Melange. Keine Zitatwut, kein Zwang und keine Hemmung. Hier wurde mit viel Verstand gearbeitet – und vor allem Herz. Ein Herz für den Film! Für seine Fähigkeiten des Erzählens und Möglichkeiten des Erzähltem.
@ Sieben Berge:
Ich unterstelle doch weder bösen Willen, noch erwarte ich irgend etwas vom deutschen Fernsehgucker, geschweige denn zuviel. Ich hoffe nur, bzw. im Fall dieses Films *dachte* ich nur, dass das doch eigentlich anstandslos „runtergehen“ müsste – immerhin versucht man doch schon seit einigen Jahren, TATORT und POLIZEIRUF zu „modernisieren“ und aufzuhippen. Ich erwarte allerdings auch grundsätzlich, dass Experimente und Wagnisse jeglicher Art vom deutschen Publikum (nicht nur im Fernsehen) mit einer Roundhouse-Ohrfeige abgestraft werden. Das mir CASSANDRAS WARNUNG nicht wie ein extremes Experiment oder ein großes Wagnis erschien, das ist natürlich wieder typisch. Ich muss mich schon bewusst in die Perspektive von Hans Mustermann hineindenken, das kommt nicht (mehr) von selbst bei der Filmverdauung.
Im Interview erwähnte Matthias Brandt, dass die neuen Münchner Polizeirufe möglichst von einander unabhängige Einzelfilme werden sollen, um mehr prominente (Kino-)Regisseure zu gewinnen. Daher könnte es da noch spannend werden – die nächste Folge, die Ende September ausgestrahlt wird, stammt von Hans Steinbichler, den ich persönlich auch sehr schätze. Allerdings wird es sicherlich eine Weile dauern, bis Graf in der Reihe wieder in Erscheinung tritt.
Na dann mal sehen was u.a. Graf heute abend in „Dreileben“ sehen lässt.
Nach dem zweiten Ansehen der leider immer noch gekürzten TV-Fassung (ARD-Mediathek sei Dank), habe ich so langsam alle Plotfäden des Films entwirrt, und durfte sogar meiner Krimi-erfahrenen Freundin erklären was es mit der Nebenhandlung (Babyleiche) letztlich auf sich hat (Pause-Taste sei Dank). Was zunächst bei der ersten Sichtung wirr und unvollkommen wirkte/klang, erwies sich nun als in sich stringent und tatsächlich abgeschlossen. Unser Kommissar hat im Vorbeigehen noch einen zweiten Fall gelöst (und einen dritten, daran angehängten), der eigentlich mehr als genug Stoff für einen kompletten weiteren Polizeiruf ergeben hätte. Die Drehbuch-Wundertüte dreht sich also auch bei wiederholtem Sehen.
Zur Hauptwerk/Nebenwerk-Debatte von Schwanenmeister und Christoph würde ich anmerken, dass man inzwischen eher Grafs Fernseharbeiten als sein Hauptwerk ansehen müsste, und ich ebenfalls der Meinung bin, dass sie seinen Kinofilmen in nichts nachstehen (außer der Tatsache, dass seine Kinofilme noch einmal KINO mit Großbuchstaben darstellen – ich bin noch immer völlig überwältigt von 35mm Kinosichtungen von DIE SIEGER und DAS ZWEITE GESICHT). Unabhängig davon lehne ich aber solche Kategorisierungen und Unterscheidungen wie „Haupt-und Nebenwerk“ grundlegend ab, und empfinde sie auch als wissenschaftliches/analytisches Instrumentarium nur von geringem Nutzen. Dass geliebte Kinoregisseure hingegen bei gelegentlichen(!) Fernsehausflügen in der Regel eher mittelmäßiges zustande bringen: Das würde ich unterschreiben. Hängt aber wohl eher damit zusammen, dass sie an die Fernseh-Produktionsbedingungen nicht so gewöhnt sind wie an ihre üblichen Herstellungskontexte.
Nachdem ich den Artikel und die Kommentare an dieser Stelle nun auch noch einmal alle gelesen habe, möchte ich ebenfalls hinzufügen, dass mich die erschlagend negativen Stimmen die man im Internet von Stamm-TV-Krimi-Guckern so zu lesen bekommt in ihrer Masse(!) doch erstaunen. War zwar selbst von den ersten 15 Minuten auch (völlig) überfordert, aber wenn man den Film als Ganzes konzentriert ansieht – was ja die meisten Stammgucker vermutlich Sonntag Abends immer machen (oder liege ich mit solch einer Vermutung völlig falsch, und es wird auch Sonntags nach 20 Uhr immer noch nebenher „gebügelt“?) – müsste der eigentlich runtergehen wie Butter. So unkonventionell ist der nun wirklich nicht. Hätte wie Christoph auch vermutet, dass der moderne Look eher gut ankommt, zumal die zahlreichen Beschwerden im Internet sicher nicht von über 50 jährigen stammen die sich regelmäßig in Krimi-Foren tummeln, sondern wahrscheinlich von im Durchschnitt eher Endzwanzigern bevölkert sind (oder liege ich mit dieser Vermutung ebenfalls völlig falsch?). Wie auch immer: Ich freue mich wie ein kleiner Junge, dass diese Folge nun wahrscheinlich tatsächlich der (mit über 7 Millionen Zuschauern wohl erfolgreiche) Auftakt eines neuen Formats ist, das jetzt in regelmäßiger Folge von „anerkannten“ deutschen Filmemachern gedrehte Episoden des Polizeirufs beinhalten wird. Ich sehne mich daher schon nach der nächsten Episode von Steinbichler (Juhu!) und werde dann eventuell sogar regelmäßig Freunde und Bekannte mit einem Fernsehanschluss belästigen. 🙂
CASSANDRAS WARNUNG ist übrigens immer noch der beste neuere Film den ich 2011 bisher gesehen habe.
PS: und bezüglich Christophs Problemen und Unterscheidungen zwischen persönlichen und unpersönlichen Texten, ein wie ich finde in jeder Hinsicht „richtiges“ Zitat von Adrian Martin aus einem Interview von 2006:
The first way I can answer your question is to declare this: that, no matter what critics think they are saying or not saying in their writing, they are betraying themselves, giving away their deepest selves, their full system of beliefs and values, at every single moment. It is important for every critic to come to a realisation of this truth. What you think about music and art, what you think about sex, what you think about family and friendship, what you think about politics and history: it’s all there,
plainly there, for everyone to read in what you write, in your slightest expression, your smallest turn of phrase. Any critic’s biases are always going to become apparent – so it is better to master those biases, use them, include them, be up front about them. Or else, those biases will rule you, like nasty unconscious impulses, and you will end up looking like someone who has a sinister agenda, an axe to grind.
Hallo E.T. & Dominik Graf Freunde,
wollte auf die Ausgabe von EUROVIDEO hinweisen, zufaellig gefunden grad, CASSANDRAS WARNUNG kommt als Directors Cut bald, juhuuu… (wollt ich eigentlich unter den entsprechenden Post kommentieren, ging aber nicht…):
Polizeiruf 110 – Sonderedition Dominik Graf [3 DVDs]
http://www.eurovideo.de/dvd-bluray,de,9,266673,polizeiruf-110,tv-kino-film.html
LG
Hab deinen Beitrag jetzt mal an die „richtige“ Stelle verschoben. Gab zwischenzeitlich ein kleines internes Kommentarproblem, das inzwischen aber wieder behoben ist.
Die News sind natürlich super! Kenne Grafs zweiten Polizeiruf selbst noch nicht, und kann mir jetzt auch endlich CASSANDRAS WARNUNG in der ungeschnittenen Festivalfassung ansehen, von der mir Freunde immer wieder (unfassbares) erzählt hatten. Bisher lief das alles nur als Bonus im Kopf ab. 😉 Hoffentlich erscheinen auch DIE GELIEBTEN SCHWESTERN in verschiedenen Versionen auf DVD/Blu-ray (oder zumindest in einer von Graf bevorzugten Fassung), denn da musste ich mich bisher auch mit der doch arg gestrafften Kinoversion abfinden.
Dass sich Eurovideo die (leider alles andere als Selbstverständliche) Mühe machen, tatsächlich die ungekürzte Version eines Polizeirufs zu veröffentlichen, ist schon etwas außergewöhnliches.
Hinweis Samstag, die reichen Leichen:
http://www.br.de/fernsehen/bayerisches-fernsehen/sendungen/heimatkrimi/reichen-leichen-starnbergkrimi-dominik-graf-film-100.html