100 Deutsche Lieblingsfilme #28: Kalter Frühling (2003)
Am Anfang kommt Jessica Schwarz mit ihrem Auto im Hof ihrer reichen Eltern an, und bereits da wirkt sie deplaziert, sich nicht wirklich einfügend in ihre Umgebung. Man spürt sie kehrt heim: das ist ihr Zuhause. Doch sie gehört dort nicht hin. Sie hat es nur noch nicht bemerkt. Am Ende des Films ist davon nichts mehr da. Sie steht im Garten – nach langer Odyssee zurück gekehrt – es ist ihr Garten, ihr Platz. Aber von Heimat, von Zugehörigkeit ist keine Spur mehr. Wir wissen jetzt: diese Heimat trug sie in ihrem Herzen, sie drückte sie in ihren Gefühlen, ihren Gesten, ihrem Blick aus. Nun ist dies Vergangenheit, denn was die Figur sich zurück erobert hat ist die Realität. Besser gesagt der unverstellte Blick auf sie. Heimat als Illusion, als Geschenk der Naiven. Kalter Frühling ist ein Film über den Zerfall. Über den Verlust der Unschuld. Und über den Verlust des Selbst.
In Kalter Frühling, wie in vielen Filmen von Dominik Graf gibt es die Gegenwart nicht. Es gibt nur Vergangenheit und Zukunft, aus denen sich die Gegenwart als Punkt einer Bewegungsachse für uns als Zuschauer konstruiert. Der gegenwärtige Moment gewinnt also dadurch an Bedeutung, dass es für ihn ein davor und danach gibt, dass er also tatsächlich einzigartig ist. Und das zeigen uns die vielen Szenen in Kalter Frühling immer wieder. Die Einzigartigkeit und Unwiederholbarkeit jedes Augenblicks. Die Vergänglichkeit des Lebens. Da die Vergangenheit wie die Zukunft uns leitet, ist auch nichts je so wie es uns erscheint, sondern nur wie es sich uns ständig erschließt. Aus einzelnen Momenten eben.
Das Genie von Dominik Graf, dem meiner Meinung nach vielseitigsten, biegsamsten, und interessantesten deutschen Filmemacher der Gegenwart, ist, dass er jede Szene, jeden dieser Momente, inszeniert, indem er ihnen eine Richtung gibt, eine Dynamik, eine Bewegung. Eine aus der sie kommen und eine in die sie gehen. Vergangenheit und Zukunft. Was man eben Geschichten erzählen nennt. Er arbeitet dabei mit Überlappungen, Überschneidungen, Auslassungen, mit einer Erzählspur die auf mehreren Ebenen operiert. Seine Filme haben aber inzwischen nicht mehr so sehr zweite und dritte Ebenen eingebaut – wenn man will, die Meta-Ebenenen die jederzeit mitgedacht werden könnten – als dass sie diese und viele weitere ständig aus sich selbst hervorbringen. Denn obwohl das Entscheidende bei Grafs Filmen der Moment ist, geschieht seine Hervorbringung und die Evokation seiner Eigenständigkeit nicht durch die konkrete Evidenz der filmischen Dauer oder die intensivierte Konzentration mithilfe der Reduktion der Mittel (was man allgemein gefasst und stark vereinfacht vielleicht als transzendentes Kino im Sinne Bressons, Tarkowskijs oder Tarrs bezeichnen könnte), sondern durch die rasche Skizze und punktgenaue Betonung sowie das in Beziehung setzen von Szenen; das gleichzeitige auf und neben den Punkt inszenieren, wobei das Neben hauptsächlich eines der Zeitlichkeit darstellt. Zeit wird dabei nicht als rein lineare Abfolge, sondern als ineinander geschachtelt erlebbar, ist individuelle Zeit, ist im Inneren des Menschen, ist Bewusstsein. Und das Innere nach außen kehren, die Figuren vor allem durch den Schnitt und die Kamera zu charakterisieren, ist die Stärke von Grafs Kino, das immer ein Kino des Dramas ist: dem Kampf mit der Zeit, der auch immer ein Kampf mit dem Ich ist. Denn das hat Graf im deutschen Film wie kein anderer gelernt: Die Regeln des Bewegungsfilms – des Actionkinos, des Kriminalfilms – sind die Regeln der Darstellung des Konflikts zwischen Zeit und Person; die Unfähigkeit die Zeit zu überwinden und der Zwang den Regeln der Schwerkraft gehorchen zu müssen. Wenn das Melodram von der Unmöglichkeit des Verharrens im Moment erzählt, erzählt uns das Aktionskino von der Unmöglichkeit des Verharrens in Bewegung. Anziehung und Abstoßung: diese Dynamik und unsere Verstrickung in sie. Davon handeln die Filme von Dominik Graf. Davon handelt Kalter Frühling. Und die Unmöglichkeit ihnen als Mensch zu entgehen, ist eine Lektion die Jessica Schwarz am Ende gelernt hat. Was aus dieser Lektion wird, das wäre dann wieder ein anderer Film.
Kalter Frühling – Deutschland 2003 – 89 Minuten – 16mm – Regie: Dominik Graf – Produktion: Michael Hild – Drehbuch: Markus Busch – Kamera: Hanno Lentz – Schnitt: Christel Suckow – Musik: Dieter Schleip – Darsteller: Jessica Schwarz, Angela Roy, Friedrich von Thun, Mišel Matičević, Matthias Schweighöfer, Tanja Gutmann, Markus Boysen, Marita Ragonese
Du Arsch! Den wollte ich doch machen!
Wer zu spät kommt, den bestraft das Leben. 😉
Aber im Ernst: hätte ich das gewusst… hätte ich vielleicht trotzdem was geschrieben. Zwei Texte sind ja schließlich besser als einer, und zu Graf KANN man gar nicht zu viel schreiben! 😀 Soweit ich mich entsinne, kommt von dir heute aber eh noch ein Text zu einem weiteren Grafschen Leckerbissen, oder? 🙂
Du wirst aber vermutlich nie erleben, dass ich über einen Film schreibe, zu dem wir hier schon einen Text haben. Außerdem kommt es mir doch sehr ungerecht vor, dass dein gekonnter Portwein-Erguß (Welch Schwulst! Welch Pathos!) nun auf der Startseite direkt unter meinem peinlichen Megaschlock-Text zu CASSANDRAS WARNUNG steht. It just isn’t fair!
Seufz. Manchmal bist du mir wirklich wie ein Waldbrand, Sano. 🙁