Zum Tod eines seltsamen Filmemachers



Vor wenigen Tagen ist Ôshima Nagisa gestorben. Um genau zu sein am Dienstag den 15. Januar. Nach mehreren Schlaganfällen, die ihn seit 1996 ereilten, erlag er nun einer Lungenentzündung und, wie so oft gesagt wird, verliert die Filmwelt eine ihrer schillerndsten, besten, interessantesten usw. usf. Figuren. Einerseits ist das natürlich nur Augenwischerei, weil er seit über 13 Jahren keinen Film mehr vollendet hat und diese Erinnerung nur eine nostalgische Notiz in Presse und Fernsehen ist. Ohne seinen Tod interessiert sich kaum noch jemand für das Werk dieses seltsamen Filmemachers. Ich kann mir nicht vorstellen, dass in Japan der Aufschrei des Entsetzens nachhaltiger ist als anderswo, aber vielleicht täusche ich mich. Es wird ihm Respekt gezollt, weil er mal von Bedeutung war. Es wird kurz etwas Bohai gemacht, bevor er größtenteils vergessen oder in einen goldenen Kanon gezwängt wird, von wo aus Schüler und Studenten mit ihm gequält werden. Im Grunde eine riesige Sauerei, aber damit muss jeder leben, ob er nun Dostojewskij, Petronius, Huysmans oder James Whale heißt. Die Vergangenheit ist fort und wird nimmermehr lebendig werden. Besonders in einer Welt, in der das Alte und Vergangene mit Überholtheit und Minderwertigkeit aus Sicht einer heiligen Moderne, die weiß wie Dinge besser, spannender und intelligenter gemacht werden, gesehen wird. Ich will hier gar nicht rumheulen, ich habe mich lange damit abgefunden. Doch die Flut an halbgaren Nachrufen verdeutlicht nur wie vergangen die Zeit des Toten ist. Sie fühlen sich teilweise wie Spott an. Pflicht gegenüber einer Legende, die uns endlich nicht mehr mit ihrer physischen Präsenz vom abhaken abhält. Die Filmwelt beklagt einen Verlust, der keiner ist. Ôshimas Zeit war schon lange vor seinem Tod vorbei. Sein Tod ändert nichts. Es gibt einem nur die Chance an jemanden zu erinnern, der für einen noch nicht tot ist, der einen immer noch fasziniert, der einem immer noch etwas zu sagen hat, auch wenn er schon nur noch aus dem Sarg der Zeit spricht. In der Hoffnung, dass es jemanden interessiert.

Ôshima ist einer meiner liebsten Regisseure und durch seinen Tod fühle ich mich nur veranlasst endlich mal etwas zu ihm zu sagen. Er hat es verdient, dass jemand einen glühenden und interessanten Artikel über ihn und seine Filme schreibt, doch leider bin ich nicht derjenige, der sich irgendwie an ihn und sein Werk annähern könnte. Ich weiß kaum etwas über ihn und von den 11 Filmen, die ich gesehen habe, von denen finde ich einen unendlich faszinierend, schön und unfassbar (TOD DURCH ERHÄNGEN), einer sagte mir gar nichts (IM REICH DER LEIDENSCHAFT) und dazwischen befinden sich 9 Filme voll Reichtum, Schönheit und einer unglaublichen Vielfalt. Für keinen anderen der Regisseure, die mir so nahe sind wie er, gehe ich so wenig hausieren wie für Ôshima, weil ich einfach nichts über diese 9 Filme sagen kann. Nicht mal, ob ich sie gut finde. Er hat natürlich noch viel mehr Filme gemacht, aber dass sich an diesem Zustand und dieser Quote so schnell etwas ändern wird, das kann ich nicht glauben.

Es ist sehr seltsam mit den eigenen Lieblingen. So geht es zumindest mir. Emile Zola ist einer meiner liebsten Schriftsteller, aber außer dem GERMINAL könnte ich keines seiner Bücher empfehlen. Sie sind öde, sein Naturalismus ist von einer toten Pseudowissenschaftlichkeit umweht, die einen meist nur quälen kann, und seine Themen sind oft einfach nur uninteressant. Bücher wie DIE BEUTE oder DER TOTSCHLÄGER sind brutal zähe Langweiler, die erst am Ende nach endlosen Seiten plötzlich total durchdrehen. Dennoch liebe ich ihn, weil niemand bildlicher und eindringlicher Wahnsinn, Qual und Raserei eingefangen hat, wie er. Dieser Gegensatz in seinen Werken lässt mich nicht los.

Bei Ôshima ist es ähnlich. Er ist kein Langweiler, bei weitem nicht. Aber ich kann mir einfach keinen Reim auf seine Filme machen. Im Zusammenhang mit ihm fallen oft Namen wie Godard oder Brecht und wenn jemand seine Filme sieht, kann er oder sie es wahrscheinlich verstehen. So ist es aber einfach nur irreführend, weil seine Filme sehr eigen sind und diese Vergleiche nur verknappte Versuche sind, die Vielfalt und die Unfassbarkeit eines Werkes verständlich zu machen. Ich zumindest weiß bis heute nicht, ob seine Filme ungestüme Wirbelstürme aus Ideen sind, die kaum durchdacht auf die Leinwand geklatscht wurden oder ob er alles minutiös durchgeplant hat. Ob er mehr seine Gefühle ausdrückt oder Theorien symbolhaft aufbereitet? Keine Ahnung. Dass all die seltsamen Dinge, die geschehen, etwas zu bedeuten haben, ist klar, aber sie haben nicht den erdrückenden, offensichtlichen Symbolismus eines Imamura Shôhei. Unauflösbar zwischen den Gegensätzen stehen diese Filme, wie Menschen, die näher unter die Lupe genommen werden, die nicht unter billigen Vorstellungen von Identität eingeengt werden.

Alleine TOD DURCH ERHÄNGEN, der alle ca. 10-15 Minuten Thema und Stil ändert und trotzdem ein nur kurz vorm Platzen bleibendes Ganzes ist, geht unter keine Kuhhaut. Inhalt für 20 Filme steckt da drinnen. Rassismus, geifernde Angst vor den eigenen Gedanken, Nationalismus, Lust, Zensur, Todesstrafe in Form einer Dokumentation, einer schrägen Absurdität, einer Theaterverfilmung, eines surrealen Bilderreigens, einer mit brechtscher Epik verfremdeten Welt, einer Fotoreportage. Endlos lange Einstellungen, schnelle Schnitte, Realismus und Phantastik. Voll sensibler Unsicherheit und harter Deutlichkeit. Und vieles mehr. Ôshima konnte dies nicht voneinander trennen. Seine Filme sind so reichhaltig, wie wenig zu fassen. Es geht fast immer um Sex, Macht und Tabus, doch einer einfachen Position entzieht er sich. Sind es die politischen Diskussionen, die immer wieder auftauchen, die er aber, bei aller Faszination für sie und ihrer intimer Kenntnis, immer etwas auf Distanz lässt. Er bringt es anscheinend nicht über sich ihnen zu vertrauen. Sei es die Leidenschaft, die er ohne Tabu zeigt, die aber ebenfalls keinen Anlass für eine Utopie der Lust lässt, da sich die Menschen in ihr immer wieder verlieren. Selbst bei seinem Stil war er mehr auf der Suche, als dass er einen hätte. Zu Beginn seiner Karriere standen die wilden Jugenddramen, die Shochiku im Fahrwasser von Nakahiras CRAZED FRUIT produzierte, doch schnell waren diese ihm zu klein. Erst IM REICH DER SINNE brachte die Reduktion zurück. Wahrscheinlich hatte er alles ausprobiert, alles gemacht, von lockeren Rätseln bis hin zu zutiefst abstrakten Berserkereien, weshalb er als Asket des Wahnsinns und der düsteren Tiefen wiederkehrte.

Sollte ich mal etwas weniger Oberflächliches, wie ich es bisher las, zu Gesicht bekommen, würden sich diese Rätsel, die seine Filme für mich darstellen, auflösen. Das wäre aber schrecklich, da sie mich, so wie sie sind, nicht loslassen und mir so viel Faszination mit ihren Irritationen geben. Aber ich habe die Hoffnung und den Glauben, dass diese Filme so ambivalent und uneindeutig sind, dass sie sich mir nie vollständig erschließen. Es wird oft gesagt, er wäre ein Skandalregisseur. So ein Begriff legt etwa nahe, dass er den Skandal um seiner selbst willen suchte, was ebenso irreführend ist. Die Rätsel aus seinem Herzen, seine Obsessionen waren nur etwas zu viel für moderne, humanistische Gesellschaften, die in einem Menschen – nicht wie Ôshima – ganz natürlich Abgründe vermuteten.

Nun ist er tot. Er wird mich noch lange nicht loslassen. Zumindest seine Filme, weil ich kaum etwas über seine Biographie weiß. Sein Tod ändert nichts. Es ist schade um diesen Menschen. Ich hoffe er hatte ein gutes, spannendes, vielleicht sogar erfüllendes Leben. In seinen Filmen wird er weiterleben, solange sich weiterhin Menschen finden, die von ihnen fasziniert sein werden, denen sie etwas sagen werden, die ihnen voll Leben erscheinen. Potential für ein noch langes Leben haben sie. Die Zeit wird es zeigen.

Dieser Beitrag wurde am Samstag, Januar 19th, 2013 in den Kategorien Blog, Blogautoren, Essays, Filmschaffende, Hinweise, Robert veröffentlicht. Sie können alle Kommentare zu diesem Beitrag über den RSS 2.0 Feed verfolgen. Sie können diesen Beitrag kommentieren, oder einen Trackback von ihrer eigenen Seite setzen.

5 Antworten zu “Zum Tod eines seltsamen Filmemachers”

  1. Sano Cestnik on Januar 22nd, 2013 at 15:42
  2. Alexander S. on Januar 23rd, 2013 at 12:14

    Einer der Filmemacher von denen ich noch viel zu wenig kenne, nämlich nur IM REICH DER SINNE und IM REICH DER LEIDENSCHAFT. Besonders auf die „wilderen“ Filme der Frühphase bin ich sehr gespannt.

  3. Robert on Januar 23rd, 2013 at 13:12

    @Alex: Wenn du mit dem Cursor auf die Bilder gehst, dann sollten Filmtitel in einem kleinen Fenster erscheinen. Kann ich alle empfehlen … also irgendwie, ohne zuviel versprechen zu wollen. Ich fühle mich da sehr unsicher, ob und wie das Gefallen soll 🙂
    (Von THE SUN’S BURIAL, THE MAN WHO LEFT HIS WILL ON FILM und DIARY OF A SHINJUKU BURGLAR erwarte ich mir auch noch sehr viel, aber bei den oben lege ich meine Hand für ins Feuer, dass sie seltsam sind 🙂 ).

    @Sano: Sehr schönes Bild, hunderte alte Japaner im Regen, die sich noch erinnern können…

  4. Sano Cestnik on Januar 26th, 2013 at 02:20

    Nagisa Oshima im Gespräch mit Akira Kurosawa

  5. Alexander S. on Januar 27th, 2013 at 13:10

    Hier noch ein sehr interessanter Artikel aus dem Spiegel-Archiv zur Beschlagnahmung und späteren Freigabe von IM REICH DER SINNE und der Scheinheiligkeit des Pornographie-Diskurses der „normal empfindende Menschen“.
    http://www.spiegel.de/spiegel/print/d-40616425.html

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