Zeitnah gesehen: Die Angreifbaren (2019)
Ein wenig muss man sich – aller rasch aufziehenden Vignettenhaftigkeit zum Trotze – der szenischen Taktung von „Die Angreifbaren“ des Regieduos Kerstin Cmelka und Mario Mentrup beugen, um überhaupt so etwas wie ein auszugweises Verständnis destillieren zu können. Mary Blick (Cmelka) und Zeno Conradi (Mentrup) sind zwei Superhelden oder Darsteller ebensolcher – da lässt sich der Film nie so ganz in die Karten schauen – und wie es sich in klimatischer Zuspitzung gehört, begegnen wir ihnen zuallererst dort, wo sie am gewöhnlichsten erscheinen. Auf der Fahrt zur Arbeit – inklusive Blicks Sohnemann und einem etwas zu gesprächigen Kollegen im Familienkleinwagen. Die eröffnende Episode malt unsere Helden als chronische Zuschauer, in ihrer Welt, sogar allerdings in der eigenen Existenz. Leben außerhalb des Autos, einer gallertartigen, das Äußere ausbremsenden Blase findet für das Gros des Weges allein als PKW im Gegenverkehr statt, sicher abgegrenzt durch die eine weitere Ebene zwischen Leinwand und Bildhintergrund schiebende Frontscheibe, schlimmer noch: als flüchtig reflektierte Impression auf dem Seitenfenster vor den staunenden Augen des Kindes. Begleitet werden diese visuellen Eindrücke von tonalen Überlagerungen zwischen im höchsten Maße mundanen Alltagsgesprächen und unablässig aus dem Talkradio sickernden Psychologisierungen des Alltages. Blicke verraten, das alles Gesagte zu trifft, ein „genau, genau“ aus den Übertragungen springt ein für Conradis unausgesprochen bleibende Desinteressensbekundungen gegenüber dem voll in Deutungen einsteigenden Freund. Für leere Sitze blubbert der Tinnef weiter, als man sich Pinkelpause wie ein paar Dehnübungen hingibt, durch die vereinsamte Karosse aufgenommen fast ein wenig befreit wirkt. Später – ein Zeitlupenlauf wohin auch immer, strikt auf den Zuschauer zukommend bleibt ein Ziel nicht erkennbar. Dabei um die schlacksig verlangsamten Figuren herum die Schau stehlend: eine filigran ihre Kreise ziehende Inlineskaterin (Katharina Heistinger). In ihren vorgeschriebenen Pfaden vereist wirken die Figuren entmachtet, die Szene wie eine Variante der berühmten Endsequenz aus Lucio Fulcis „…e tu vivrai nel terrore! L’aldilà“ (1981) mit unablässiger Rotation statt der endgültigen Unbewegtheit der Toten als Rahmen für die da doch wohl zum Einsatz Laufenden.
Hiernach fasert der Film zunehmend aus, doch die Bewegung wird als verbindendes Element zwischen den Episoden erhalten bleiben, prominenter werden in perpetuellen Grenzüberschreitungen des filmisch abgesteckten Raumes. Wir sehen Mary und Zeno wieder bei den Dreharbeiten zu einem Film, sie sitzen in Kulissen herum, während die zwischen Weimarregiekarikatur Geza Gazar (Claudia Basrawi) und ihren Darstellenden hin und her schwenkende Kamera des Hauptfilmes diese fortlaufend als lückenhafte Simulation – als gescheiterte CGI-Bearbeitung eines großangelegten Marvel-Filmes vielleicht – ausweist. Aufgehübscht wird abermals akkustisch, durch auszugweise Vorträge aus Edgar Allan Poes „The Fall of the House of Usher“ (1839/1840), die die unerklärt bleibende Inszenierung dort in ein Korsett zwängt, wo die Bilder offenkundig versagen. In dieser Hauptapparat allen schauspielerischen Ausdruckes: Der menschliche Körper. Sogar ein eigenwilliger Kampf gegen wohmöglich direkt aus Roger Cormans Stofffarbenpracht „The Masque of Red Death“ (1964) herüberwehende Seidentücher wird als Performancekunst inszeniert, zweifach, vor beiden Linsen, die übergangslos eins sind. Diese zweite Etappe etabliert einige wichtige Motive, die später nur mehr variiert werden. Turnübungen gegen Profanes aus dem Seelenleben, die Münder der Darsteller spielen ihre Rollen im Grunde nie, sind anderweitig beschäftigt, während die gesamte Leistung aus Schenkeln und Armen kommt. Es sind sehr schüchterne, zurückgenommene Darbietungen, die zwischen der Ertüchtigung stecken und im harschen Kontrast stehen zum Hyperbolischen, das der Titel, nicht zuletzt aber auch die Werbekampagne des Filmes evoziert, zwei Ebenen unvereint auseinanderklaffen lassen. „Die Angreifbaren“ ist ein Gesamtkunstwerk, auf die Aufmerksamkeit, den gedanklichen Input seiner Zuschauerschaft angewiesen wie kaum etwas anderes im deutschen Kino dieser Tage.
Bewegung ist ein Ablenkungselement in der Kadrage, wie die beim Dreh im Dreh abermals feenhaft durchs Beiwerk sausende Inlineskaterin gibt sie eigene Anstöße inner- und außerhalb der Leinwand,
anstatt sie, durch performativen Musikeinsatz etwa, bloß von anderen Elementen der Inszenierung aufzunehmen. Urplötzlich steht das Bild einmal Kopf, bevor eine Humanzentrifugenlesung Oben und Unten für Zeno Conradi gänzlich aufhebt. Was die Figuren aus diesen Erfahrungen mitnehmen, das erfahren wir nie. Innerhalb der Aufnahmen sind sie mal Gestaltungselement, dann Interaktionsträger, manchmal folgt ihnen die Kamera herum, dann anlasslos nicht, reagierende Köpfe verweilen wie nicht mehr mit dem verbliebenen Körper mitgewandert im Vordergrund vor Diskussionen. Doch im Gegensatz zur Präzision der Muskeln mäandert das gesprochene Wort ziellos herum – einmal gelingt es Zeno beinahe, die Welt zu ergründen, bevor aufziehende Musikgewitter ihn zu einem Haufen erregter Gestikulationen reduzieren, uns ratlos zurücklassen. Im Gegensatz zu Mary, die ein ums andere Mal von Kerlen am Kopfe umgehauen wird und doch stets wie einer dieser wackelarmigen Gesellen, die vor so manchem Geschäft in unablässigem Geflatter werben, wieder hochploppt, kommt er verbal nicht mehr auf die Beine. „Es ist alles völlig bedeutungslos, ihr könnt relaxen, Leute, relaxen!“, sein ungewohnt klar aus dem Gesprächsbrei hervorstechendes Kredo kommt zu größerer Bedeutung, als zunächst gedacht. Vielleicht ist es gar nicht so wichtig, zu durchdringen, was in „Die Angreifbaren“ genau vor sich geht, den Film, vielmehr die durch ihn hervorgerufenen Eindrücke weiterzutragen, gerät zwangsläufig zum eigenen Beitrag zur Gesamtperformance und zum Auftrag die eigene Realität in Frage zu stellen. Integral dafür: Die mannigfachen Aufnahmegeräte und -formate, die im Laufe der 112 Minuten zum Einsatz kommen, alles Dagewesene immer auf ein Neues in Frage stellen. Was ist bereits ausgespiene Aufnahme, was filmische Realität?
Eine Selfiestickradfahrt, die unausweichliche Kamerabewegung hervorruft, das Windowboxing der Eröffnung, modernes 16:9-Vollbild und schließlich die Scopekompositionen, die dem letzten Abschnitt dieser Reise inhärente Filmigkeit verleiht, obwohl ein weiteres Drehsetting (?) nur mehr eine mit Vorräten und in Übung Begriffenen drapierte Lagerhalle ist, die Kamera in einem Akt höchster Profanität erst einmal Mary und einigen Müllsäcken von Stockwerk zu Stockwerk hinterhertapst. Was da gedreht wird, ist ein Film geschneidert aus production stills und behind the scenes footage, man kann sich dieser Feststellung kaum erwehren. Und dennoch tragen gerade hier die emsig einstudierten Bewegungsabläufe in einer Reihe räumlicher Gegenüberstellungen endlich Früchte. An einem immer wiederkehrenden Boxring erprobt die Kamera ihre Möglichkeiten: Gleitet hin und her als Beobachter eines Kampfes, durch die Seile, unter und über sie fort, die Schwingung hebt alle Begrenzungen für den sich verausgabenden Körper auf. Ein bizarres Werbegespräch für natürliche Energiezufuhr stellt die naturgegebene Ordnung sofort wieder auf, rigide erstarrt die Kadrage, die Kamera vor den nun unüberwindbar scheinenden Seilen unter anderen Zuschauern. Cmelka und Mentrup liegt ein schwer greifbarer Spott auf der Zunge – ist ihr Film ein Manifest modernen Körperkultes, wider der neoliberalen Vereinnahmung körperlicher Fitness als bloßes Geprotze, die den größten Teil der lateinischen Weisheit „mens sana in corpore sano“ fahrlässig vergessen lässt? Ich weiß es wirklich nicht, ein Überkommen der Zustände durch sie ist jedoch unbedingt evident. Die strenge Form des obigen Verkaufsgeseiers wird aufgebrochen durch galant eingeschnittene Erinnerungen an die wohl bewegungsintensivsten Drehs, die das Kino kennt: Mary Blick und Zeno Conradi lernten sich am Set eines Pornofilmes kennen, wie er einer ihm vom rechten Rand zugewandten Freundin gesteht, bevor ein harter Schnitt beide in annähernd exakter 90° Drehung ihrer Körper wieder auf den Schwätzer justiert.
Zum Schluss darf er dann gelingen der Ausbruch, die Filmwerdung des tristen Alltages. Gemeinsam mit Van Helsing (Kai Fung Rieck) steigert sich Mary in einer beharrlich hysterischer werdenden, einem schamanischen Beschwörungstanz gleichen Rezitation aus Bram Stokers „Dracula“ (1897) einen Übergang herbei, in dessen Folge das Artifizielle prompt zu authentischen, korrekt farbbestimmten Horrorfilmgangläufen mutiert, sich die Truppe nun wahrhaftig übermenschlich befähigter Superhelden einer Vampirin im Kampfe stellt. Allzeit im falschen Moment, bei höchster Schlagrate stürzt sich die Kamera enthusiastisch mit ins Getümmel, völlig jede Beherrschung verlierend wie der vielleicht ungestümste deutsche Film seines Jahrgangs. Und gerade da liegt sie wohl auch vergraben, die beträchtliche subversive Kraft der Inszenierung. Zwischen den ratlos rudernden Worten platzt etwas heraus, das eingepfercht zwischen Unmengen an Heldenbewunderungsergüssen im Kino und zunehmender Fremdbestimmung bei Berufs- wie Lebenspfaden gar nicht mal übel klingt: Become the hero of your own story. „Die Angreifbaren“ ist eine Utopie, eine, in der man gerne verweilt.
Die Angreifbaren – Deutschland, Österreich 2019 – 112 Minuten – Regie: Kerstin Cmelka, Mario Mentrup – Produktion: Kerstin Cmelka – Drehbuch: Kerstin Cmelka, Mario Mentrup – Kamera: Volker Sattel – Schnitt: Matthias Semmler – Musik: Claudia Basrawi, Mario Mentrup, Bernhard Schreiner, MACLA u.v.a. – Darsteller: Kerstin Cmelka, Mario Mentrup, Claudia Basrawi, Malik Daus, Katharina Heistinger u.v.a.
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