100 Deutsche Lieblingsfilme #12: Marseille (2004)





Im Western gibt es das: Ein Mann, schweigsam, sich selbst genug, in der Weite der Landschaft. Verborgen fast aber doch majestätisch. Denn er ist die Landschaft, ist Natur. Das Gesicht wie aus Stein gehauen, dem Leben abgetrotzt. Die Städte tragen Namen, sagenumwobene, Santa Fé, Colorado, Dodge City.

Die Sehnsucht nach der Stadt.

Marseille ist so ein Film, ein Großstadtwestern, unter umgekehrten Vorzeichen. Die Sehnsucht ist da, die Einsamkeit die Verzweiflung. Schweigen ist Leid geworden. Sophie (Maren Eggert) ist auf der Suche nach Artikulation. Sie fotografiert, Plätze in Städten, als würde sie ausprobieren, wie es ist ein Ort zu sein. Einfach nur zu sein, wie eine Straße, ein Baum, ein Gebäude. Räume als Zwischenräume, der Verlust von Permanenz. Die Suche nach sich selbst im Fremden produziert Bilder von uns selbst. Es geht nicht ums Entdecken, sondern um das entdeckt werden, um Heimat.

Wie der Westernheld sich manchmal die Stadt und ihre Zivilisation als verlorenes Paradies erträumt, so wird für Sophie Marseille die identitätsstiftende Projektionsfläche. Doch in der Realität muss der Traum enttäuscht werden. Was ist Marseille, was ist eine Stadt? Was sind Menschen, wie sind sie, und wieso? Das wunderbare an Schanelecs Filmen, trotz aller Strenge, trotz Formwillen und Nüchternheit, ist die ungemeine Freiheit, die im Bestehen auf Fragen verbleibt. Fragen als Lebensinhalt, Suchen als Potenz. Wenn Maren Eggert am Ende überfallen wurde, enttäuscht und verzweifelt sitzt sie da beim Verhör bei der Polizei, dann gibt es einen Moment der Erkenntnis, durch das Unvorhergesehene, durch den Schmerz und die Enttäuschung. Erst wenn die eigene Hoffnung betrogen wurde, kann sich das Leben wieder seinen Platz suchen. Am Ende gibt es den Strand, das Meer, die Figur in der Ferne. Einsam, aber nicht mehr allein. Im Leben.

Maren Eggert hat ein Gesicht wie eine Landschaft. Alles spielt sich darauf ab, in ihrer Miene die von stoischer Ruhe geprägt zu sein scheint, spiegelt sich die ganze Welt, und Sophies Unverständnis.

Wie im Western ersehnt sie den Wechsel der Identität. Angela Schanelec ist vielleicht das größte Regietalent im deutschen Film der letzten 20 Jahre. Ein Phänomen, ein Wunder. Ihre Filme sind das, was intellektuelles Kino hierzulande selten zustande brachte. Reine Emotion. Eine singuläre Vision, etwas was es vergleichbar wohl nur bei Straub und Huillet gab, jedoch ohne revolutionären Impetus, ohne Progression, ohne gesellschaftliches Bewusstsein im klassischen Sinne. Statt Äußerung gibt es Stille. Das Voranschreiten der Zeit im Vakuum der Ohnmacht.

Wenn ich gezwungen wäre den besten deutschen Film der letzten 10 Jahre zu benennen, es wäre wohl dieser.

Marseille – Deutschland, Frankreich 2004 – 95 Minuten – Regie: Angela Schanelec – Drehbuch: Angela Schanelec – Produktion: Florian Koerner von Gustorf, Michael Weber, Jörg Schneider, Antonin Dedet – Kamera: Reinhold Vorschneider, Kareem La Vaullee – Mischung: Martin Steyer – Schnitt: Bettina Böhler – Darsteller: Maren Eggert, Marie-Lou Sellem, Devid Striesow, Louis Schanelec, Emily Atef

Dieser Beitrag wurde am Freitag, Mai 21st, 2010 in den Kategorien Blogautoren, Deutsche Lieblingsfilme, Sano veröffentlicht. Sie können alle Kommentare zu diesem Beitrag über den RSS 2.0 Feed verfolgen. Sie können diesen Beitrag kommentieren, oder einen Trackback von ihrer eigenen Seite setzen.

11 Antworten zu “100 Deutsche Lieblingsfilme #12: Marseille (2004)”

  1. Alexander S. on September 30th, 2011 at 16:12

    Ich finde es faszinierend, was du alles in MARSEILLE gesehen hast. Leider habe ich so gut wie gar nichts davon und auch wenig anderweitig Interessantes für mich in MARSEILLE gefunden. Schon kurz nach Beginn schoss mir durch den Kopf, dass der Film so wirkt, als hätte jemand alles, was aus einem anderen Film herausgeschnitten wurde bzw. unverwendete „misslungene“ Takes aneinander montiert. Das fand ich zunächst interessant auch konzeptionell, obwohl ich denke, dass Schanelec vermutlich sehr beleidigt wäre, würde man das zu ihr sagen.
    Im Endeffekt hat mich der Film dann aber bis auf wenige Momente einfach angeödet, die Figuren fand ich fade und einige Dialoge unerträglich konstruiert und überhaupt nicht natürlich. Entschleunigung, Entdramatisierung, visuelle Kargheit und elliptische Narration können ja allesamt großartig eingesetzte Mittel sein, aber hier wäre nicht „weniger“, sondern „mehr“ tatsächlich mal mehr gewesen, so zumindest mein Eindruck.
    Oder bin ich vielleicht zu herzlos und unsensibel für solche hypersupermegaultrasubtilen Filme? Wenn ich minutenlang eine statische Einstellung von einer sitzenden, bewusst „beliebig“ gefilmten und ausdruckslos schauenden Frau sehe gehen mir unter anderem folgende Gedanken durch den Kopf: „Aha, die sitzt da jetzt, hm, ok die Einstellung wird so gehalten. Sie soll jetzt wohl über irgendwas nachdenken, was im Unklaren gelassen wird. und melancholisch wirken. Tja, irgendwie sieht das Bild scheiße aus. Achja, soll ja möglichst auch realistisch wirken, ist ja Berliner Schule. Hm, da ist ja immer noch diese Frau. Jetzt müsste sich doch langsam mal der von Bazin versprochene transzendentale Aspekt des Realen offenbaren. Mist, tut er irgendwie nicht. Gähn, da ist ja immer noch diese selbe Grützbild von der ausdruckslosen Frau. Echt mysteriös und melancholisch und so, habs jetzt kapiert. Weiter bitte.
    Am Besten hat mir die Szene im Theater gefallen, da hätte ich gerne mehr von dem Stück gesehen, glaube das war „Die Möwe“ von Tschechow, muss das mal lesen…

  2. Christoph on September 30th, 2011 at 21:13

    „Seelenstriptease eines Schanglomanen“.

    Lieber Sano,

    bitte werd ausnahmsweise auch mal aggressiv und wasche unserem Alex so richtig brutal den Kopf.^^

    @ Alex:

    Ich kann dich eigentlich verstehen – beinahe genau so ging mir das einst auch, mit der Berliner Schule. Und das die Filme realistisch wirken sollen, das war auch einer meiner entscheidenden Irrtümer. Daher hoffe ich inniglich und mit einer meiner Pranken im Geiste um deine Schulter geschlungen, dass sich dir auch noch die Berliner Schule-Ultrakunst offenbart.
    Meine Gebrauchsanweisung: Nicht mehr versuchen, die Filme zu „verstehen“ (also in sie hineinzubohren, so wie du das offenbar tust) sondern sie nur überhaupt erst einmal „sehen“, einfach nur sehen, und hören, und so. Besonders in den langen statischen Einstellungen – denen kommt man mit ausgiebiger intellektueller Penetration meistens nicht bei (außer bei Arslan, dem Schlocker) – deswegen (u. a.) sind sie auch so suuuper! 🙂

    Ich kann jedenfalls nach dem hypnotischen ULTRA-Kinoerlebnis mit ORLY meine Zweitsichtung von MARSEILLE (den ich beim ersten Mal, einer von Sano an mich – der ich betrunken war – verabreichten „Zwangssichtung“, auch überhaupt nicht mochte) kaum noch erwarten und sehne mich schon ganz kribbelig nach der DVD, die mir der liebe Sano hoffentlich irgendwann ausleiht.

  3. Alexander S. on September 30th, 2011 at 22:29

    @Christoph: Liebster Christoph, ich hatte schon fast damit gerechnet / darauf gehofft, dass du dich hier einmischt und natürlich tust es mit dem erwartbaren Maß Plakativität, dass wir alle so an dir lieben und hassen.

    Zur Schanglophilie bekenne ich mich (ebenso wie du), Schanglomanie im Sinne krankhaft ausschließlicher fetischistischer Fixierung weise ich aber von mir. Es gibt sehr wohl schangelfreie und sogar antischangelige Filme, die ich gut oder sogar großartig finde, Beispiele sind die Werke Ozus, AU HAZARD, BALTHASAR, LA NOTTE, sowie z.B. bestimmte Werke von Haneke, Kore-Eda, Dumont… der grandiose AUF DER ANDEREN SEITE von Fatih Akin und nicht zuletzt die Berliner Schule-Filme die mir besser gefallen, wie z.B. FALSCHER BEKENNER oder DER WALD VOR LAUTER BÄUMEN oder, oder, oder…

    Was meinen obigen Kommentar betrifft, hoffe ich natürlich auf eine leidenschaftliche Reaktion Sanos, @Sano: da ich deinen Text zwar interessant finde und dich um deine Rezeption des Films sozusagen beneide, sie sich mir aber leider dadurch (den Text) nicht besser nachvollziehen lässt.

    @Christoph: zurück zu deiner plakatendenziösen Rezeptionsrezepion meiner: dass die BS-Filme eventuell nicht immer realistisch sein sollen ist mir auch klar, insofern mein Fehler, das so geschrieben zu haben. Allerdings scheinst du davon auszugehen, ich hätte versucht mich in meiner mir von dir immer noch zugeschriebenen Rolle als Intellektualmonster auf rücksichtslose Weise diskursiv penetrierend in das zarte, ephemere Gespinst der Schanelec gewühlt, nur um dabei auf den harten Asphalt der „rues“ zu stoßen, die Sophie so gern fotografiert. Tatsächlich habe ich geduldig wie die orthodoxen Juden auf den Messias darauf gewartet, dass sich irgendwann eine empathische Reaktion bei mir bemerkbar macht. Die kam dann auch ansatzweise in manchen Szenen, wie so ein leichtes Ziepen im großen Zeh. Es gibt schlechtere Filme.

  4. Christoph on Oktober 1st, 2011 at 07:11

    Meine teuerste, verehrteste und zutiefst geliebte Tulse,

    du hättest nicht gleich so überreagieren und ängstlich-kampflustig die Saugnäpfe schwingen müssen, da diesmal gar keine Bärenattacke ins Haus stand. Ich schrieb doch lediglich, dass ich deine, hm… (ganz behutsam jetzt, sonst platzt sie!), „Ratlosigkeit“ absolut nachvollziehen kann, da ich selbst lange keinen Zugang zu diesen Filmen finden konnte und in Ermangelung fruchtbarerer Impulse in ihnen herumbohrte, was alles nur noch schlimmer machte und die Rezeption endgültig wundgerieben hat. Daher schrieb ich dann weiter, ab welchem Punkt, bzw. welcher Haltung mir plötzlich die Ultrakunst am Ende des langen, statischen Tunnels entgegenschimmerte, in der Absicht, dir in der Stunde der Portweinverkaterung fraternal zur Seite zu stehen.

    Ist Plakativität nicht kongenial im Zusammenhang mit Aussagen, die ich ganz instinktiv als plakativ (aber deswegen überhaupt nicht schlimm oder ärgerlich, Paranoia deinerseits wieder mal, man muss dich wirklich mit Seidenhandschuhen anfassen) empfunden habe? Müssen wir schon wieder ein Riesenfaß aufmachen und alles vollspritzen? Bin ich doof? Oder sind das nicht ganz klar Symptome des suchenden Bohrens?:

    Leider habe ich so gut wie gar nichts davon und auch wenig anderweitig Interessantes für mich in MARSEILLE gefunden. Schon kurz nach Beginn schoss mir durch den Kopf, dass der Film so wirkt, als hätte jemand alles, was aus einem anderen Film herausgeschnitten wurde bzw. unverwendete “misslungene” Takes aneinander montiert. (…)
    Im Endeffekt hat mich der Film dann aber bis auf wenige Momente einfach angeödet, die Figuren fand ich fade und einige Dialoge unerträglich konstruiert und überhaupt nicht natürlich. (…)
    Oder bin ich vielleicht zu herzlos und unsensibel für solche hypersupermegaultrasubtilen Filme? Wenn ich minutenlang eine statische Einstellung von einer sitzenden, bewusst “beliebig” gefilmten und ausdruckslos schauenden Frau sehe gehen mir unter anderem folgende Gedanken durch den Kopf: “Aha, die sitzt da jetzt, hm, ok die Einstellung wird so gehalten. Sie soll jetzt wohl über irgendwas nachdenken, was im Unklaren gelassen wird. und melancholisch wirken. Tja, irgendwie sieht das Bild scheiße aus. Achja, soll ja möglichst auch realistisch wirken, ist ja Berliner Schule. Hm, da ist ja immer noch diese Frau. Jetzt müsste sich doch langsam mal der von Bazin versprochene transzendentale Aspekt des Realen offenbaren. Mist, tut er irgendwie nicht. Gähn, da ist ja immer noch diese selbe Grützbild von der ausdruckslosen Frau. Echt mysteriös und melancholisch und so, habs jetzt kapiert. Weiter bitte.

    Das schien mir beim Lesen sehr vertraut. So ging mir das auch einmal, mit MARSEILLE, NACHMITTAG, FERIEN…

    Und siehe da:

    Allerdings scheinst du davon auszugehen, ich hätte versucht mich in meiner mir von dir immer noch zugeschriebenen Rolle als Intellektualmonster auf rücksichtslose Weise diskursiv penetrierend in das zarte, ephemere Gespinst der Schanelec gewühlt, nur um dabei auf den harten Asphalt der “rues” zu stoßen, die Sophie so gern fotografiert. Tatsächlich habe ich geduldig wie die orthodoxen Juden auf den Messias darauf gewartet, dass sich irgendwann eine empathische Reaktion bei mir bemerkbar macht.“

    Abgesehen von einigen der üblichen, unterstellenden und herzlosen, unsensiblen Spitzen, die ich mir soeben verständnisvoll aus dem Fell gebürstet habe – noch Fragen?^^

  5. Alexander S. on Oktober 1st, 2011 at 12:54

    Ach Christoph, was soll ich sagen? Wir kommen doch irgendwie völlig zu uns, wenn die Fetzen fliegen!
    Aber natürlich auch wenn wir uns liebhaben. 😉

    Wie auch immer, deine Aufforderung an Sano, mir für meine mangelhafte Rezeptionskompetenz ordentlich brutal den Kopf zu waschen, sowie deine großzügig mitgelieferte „Gebrauchsanweisung“ klangen für mich eben weniger fraternal als nach der gewohnt paternalen Belehrungsmasche. Und auf Spitzen folgen eben Spitzen, Schatzi. :*

    Ich gebe dir allerdings gerne zu, dass mein Ursprungskommentar eventuell Anlass für Missverständnisse bietet: „habe wenig Interessantes gefunden“ klingt natürlich nach eifrig bemühter Suche, „warten“ kann man leicht als Erwartungshaltung (mis)interpretieren.
    Lass es mich also nochmal anders zu erklären versuchen: bei vielen Filmen die bestimmte Charakteristika mit MARSEILLE bzw. der BS teilen („reduzierte“ Bildsprache, Entschleunigung, Entdramatisierung, elliptische Erzählweise, „nüchterne“ Perspektive) funktioniert das „einfach sehen“ für mich wunderbar. Filme wie WERCKMEISTER HARMONIAK oder L’INTRUS (wie überhaupt alle Filme) versuche ich weder zu penetrieren noch durch die intellektuelle Filterung durch vorgefertigte Interpretationsmasken zu „verstehen“, sondern ein „Verständnis“ anderer Art und eine emotionale/empathische Reaktion stellt sich einfach ein, auch wenn beispielsweise eine fünfminutige Einstellung nichts als einen auf Bahngleisen marschierenden Mann zeigt. Wieso das bei Tarr für mich funktioniert und bei Schanelec nicht, darüber kann ich nur mutmaßen, da sich das eben letzlich rationalen Argumenten entzieht, aber ich würde mal ganz vage und assoziativ sagen, es hat vielleicht etwas mit der jeweiligen „Bildkraft“ zu tun.

    Vielleicht ist es mit Schanelec aber einfach so ein bisschen wie mit autoerotischer Strangulation: manche erleben den Ultraorgasmus, anderen geht einfach die Luft aus.

  6. Mr. Vincent Vega on Oktober 2nd, 2011 at 21:41

    Vielleicht ist es mit Schanelec aber einfach so ein bisschen wie mit autoerotischer Strangulation: manche erleben den Ultraorgasmus, anderen geht einfach die Luft aus.

    😀 😀 😀

    Zitat des Monats.

  7. Alexander S. on Oktober 3rd, 2011 at 12:32

    @VV: Jetzt bin ich aber stolz, das ist ja sozusagen der (Jedi-)Ritterschlag! 😀

  8. Sano Cestnik on Oktober 7th, 2011 at 07:37

    Habe die Diskussion mit Interesse und belustigung gelesen, aber so viel zu sagen habe ich jetzt nicht.

    Um mal teilweise auf Alex‘ ersten Kommentar einzugehen: Ich finde, dass das tolle bei Schanelec für mich diese Freiheit der Bilder ist, die auch eine Freiheit ihrer Dauer darstellt. Also dass ich nie weiß, wie lange jetzt eine Szene oder (wie bei MARSEILLE oft) eine Einstellung dauert. Ich liebe es in diesem Fall die Dauer zu spüren, und den FIlm einfach in mich aufzusaugen. Weiß nicht wieso das in diesem speziellen Fall so gut für mich funktioniert. Denke dass das bei MARSEILLE aber auch durch die wunderbar riesigen Ellipsen funktioniert, durch die für mich so etwas wie eine Handlung fast verschwindet. Kenne deine Gedanken zu „ausdruckslosen Figuren sie statisch abgefilmt werden“ ansonsten ganz gut (und die gehen mir in den letzten Jahren bei so manchem Film auf die Nerven). Solche Gedanken entstehen bei mir, wenn ich das Gefühl habe, der Regisseur versucht Krampfhaft an einem Rhythmus festzuhalten, der für mich im Endeffekt dann eine uninteressante und kontraproduktive Monotonie und Gleichgültigkeit erzeugt. Also wahrscheinlich wie bei dir mit MARSEILLE. Hmm, ich hab jetzt auch nur noch so Allgemeinplätze anzubieten, dass ich bei Schanelec generell auch die Geräusche und die Tonabmischung wunderbar finde. MARSEILLE z.B. könnte ich mir einfach auch anhören.
    Die Dialoge sind bei Schanelec eher literarisch wie ich finde. Und Tschechows „Möwe“ hat sie sich dann soweit ich mich erinnere in ihrme Nachfolgefilm NACHMITTAG angenommen.

    Ansonsten kann ich Christophs Tipps und Gebrauchsanweisung recht gut zustimmen. Nicht versuchen etwas bestimmtes zu finden (ich glaube die Berliner Schule Filme die ich mag, sind auf gar nichts bestimmteres aus, als unbestimmte und unbestimmbare Gefühle), um dann hoffentlich den hypnotischen Sog zu spüren zu bekommen. Mit dem neueren Bela Tarr kann ja ich wiederum meist weniger anfangen. Der Bombast und Kitsch in „VERDAMMNIS“, „SATANSTANGO“ und vor allem im unsäglichen „WERCKMEISTERSCHEN HARMONIEN“ (und die mit ihnen einhergehende „Bedeutungsschwangerschaft“) gehen mir sehr auf die Nerven. Da gefällt mir dann ein reiner Genrestoff wie THE MAN FROM LONDON bedeutend besser. Bei Tarr hast du aber natürlich den Vorteil von allerlei Schangel, und bei Denis die alles überdeckende Sinnlichkeit (mit Ausrufezeichen) – Dinge die bei MARSEILLE dann natürlich fehlen (wenig Schangel) oder anders umgesetz werden (finde ihn ja auch sehr sinnlich). 😛

    Hab MARSEILLE übrigens zum ersten Mal im Kino gesehen, auf 35mm. Das hilft natürlich auch.

  9. Alexander S. on Oktober 10th, 2011 at 18:14

    @Sano: Schön, dass du dich schließlich doch auch noch zu Wort gemeldet hast. Es ist wohl in der Tat so, dass es gerade bei Filmen, die mit diesen Mitteln der Stasis und bewusster Ausdrucksarmut arbeiten, sehr von dem Einzelnen und der Sichtungssituation abhängt. Mir ist zum Beispiel die Geräuschkulisse in MARSEILLE gar nicht besonders aufgefallen, nicht mehr als in anderen Filmen. Trotzdem glaube ich nicht, dass mein Urteil bei einer Leinwandsichtung wesentlich besser ausgefallen wäre. In der Tat habe ich meine Schwierigkeiten, hier so etwas wie Sinnlichkeit zu verspüren, das ist mir einfach zu spröde und schal. Was die Dialoge betrifft, so hätte ich gar nicht denn Fehler begehen sollen zu kritisieren, sie seien unnatürlich, das sind die Dialoge bei Graf oder Fassbinder ja oft auch nicht. Aber bei Schanelec habe ich sie subjektiv einfach als unerträglich hölzern, gestelzt und „geschrieben“ empfunden, aber eben nicht genug, als das ich das wieder toll gefunden hätte, du kennst solche Schizophrenien ja… 😉
    Was Tarr betrifft, von dem ich ja bisher nur die von dir besonders geschmähten “WERCKMEISTERSCHEN HARMONIEN” kenne und liebe, kommen wir wohl auch auf keinen grünen Zweig. Ich kann dein Argument zwar verstehen, aber eine ähnlich bombastische Bedeutungsschwangerschaft zeichnet ja auch die Werke von Tarkowskij oder Angelopoulos aus, zweien deiner Lieblingsregisseure. Ich zum Beispiel würde ein Tendenz zum Kitsch eher bei Angelopoulos verorten, aber so ist das nunmal. Diesen Freitag werde ich erstmal Gelegenheit haben, unter Anwesenheit des Regisseurs das „TURINER PFERD“ zu reiten, dann kann ich sehen, in wie weit sich meine Tarr-Begeisterung hält.

  10. Piblokto on November 17th, 2011 at 14:15

    Es gibt so einen Trend in der neueren deutschen Filmkritik, in der alles partout anders sein soll. Die Texte sind dabei oft eher Versuche, sich als Schriftsteller/Literat zu versuchen und sich selbst mehr in den Vordergrund zu bewegen als den Film.
    Bei den Schanelec-Filmen, die ein Freund und ich immer ironisch als „Welt-Kino“ bezeichnen, ist das Zurückgreifen auf mal hochgestochen literarische, mal verschwurbelte Interpretationen a la Abitur-Aufsatz auch bitter nötig, geben „Marseille“ und „Orly“
    sonst einfach nicht genug her. Erfreuliche Beispiele wie „Der Räuber“ und „Im Schatten“, die auch nicht mit großem Aufwand protzen und eher unscheinbar daher kommen, sind dagegen wirklich aufregendes Kino.

  11. Sano on November 17th, 2011 at 14:58

    @Piblokto

    Textproduktion ist meiner Meinung nach immer Literaturproduktion – ob man will oder nicht. Was man schätzt oder mag ist dabei eben sehr subjektiv. Ich kann vieles auch nicht lesen, weil mir der Stil oder die Sichtweise nicht zusagen. Und bei den eigenen Sachen ist es teilweise ähnlich: Anspruch und Resultat klaffen manchmal mal mehr mal weniger auseinander. Und verschiedene Herangehensweisen bei der Textproduktion gibt es natürlich auch, und eine Entscheidung die es zu Treffen gilt kann daher natürlich lauten, „soll es mehr um mich (als Autor) oder über den Film gehen. Daher gilt auch immer: ein Text ist (nur) ein Text und muss nicht zwingend etwas mit dem Film gemein haben. Meist bin ich ja auch ganz froh, dass z.B. viele meiner Mails und SMS sicher auf nimmerwiedersehen im Orkus verschwinden, aber manchmal freut man sich doch über drei Zeilen auf einer Postkarte oder eine Nachricht auf Twitter. Ob das jetzt wegen dem Inhalt, der Form oder der Botschaft geschieht sei mal dahingestellt. Beim Film ist es wohl ähnlich. Da kann man denke ich nur schauen was es gibt und was man mag, und einen Grund Filme von Filmemachern zu schauen, mit denen man nichts anfangen kann gibt es zum Glück ja nicht.

    Der Räuber und Im Schatten haben mir übrigens auch sehr gut gefallen. Ersterer war für mich der beste „aktuelle“ Film, den ich letztes Jahr gesehen habe, und über Im Schatten habe ich auf Eskalierende Träume letztes Jahr auch einen etwas längeren Text verfasst.

    PS: Die Tendenz, dass alles anders sein soll kommt wohl meistens daher, dass man den Eindruck hat (zu) vieles ist gleich. Ist radikal gedacht natürlich genauso kurzsichtig wie die umgekehrte Tendenz, die Veränderungen ablehnt. Ich denke Vielfalt soltte, wie immer, den Vorzug vor irgendwelchen Regeln, Traditionen, Sichtweisen oder Umwälzungen erhalten. Seien sie nun neu oder alt.

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