Auch für mich war dieser Film wie eine Erfüllung…
Ein Dialog zu I lunghi capelli della morte (1964)



SANO: Was mich bei der Sichtung von I LUNGHI CAPELLI DELLA MORTE zunächst am meisten erstaunt hat, war die Tatsache, dass ich bereits nach den ersten Klängen der Vorspannmusik vom Film eingenommen war, und ich bereits nach wenigen Bildern und Einstellungen wusste, dass das ein Lieblingsfilm von mir werden würde. Normalerweise dauert sowas ja ein bisschen, irgendwann im Laufe des Films merkt man wie gut er ist, wie sehr er einem wirklich gefällt. Hier war für mich am Anfang schon alles klar, alles gelaufen, egal was da noch kommen mochte.

CHRISTOPH: Ja, schon wenn die breite Frakturschrift im Vorspanntitel im schwarzweiß flackernden Fackellicht Schatten auf eine grobsteinerne Gewölbewand wirft, zu Carlo Rustichellis düsterem Melodram auf der Tonspur – das mich übrigens trotz seines charakteristisch europäischen Stils oft an klassische amerikanische Musiken wie zum Beispiel von Max Steiner erinnert hat – dann wählt der Film vom ersten Bild an sofort Bilder und Klänge von solcher Prägnanz und assoziativen Stärke, dass man sich dem kaum entziehen kann. Man befindet sich mit einem Schlag in der Kunst- bzw. Märchenwelt des Films, akzeptiert sie augenblicklich.

S: Das dies so intensiv wahrgenommen werden kann, liegt meiner Meinung nach daran, dass es für mich hier nicht um die Handlung, ihre Motivation, oder die Charakterisierung der Figuren geht. Was zählt, ist einzig und allein die Atmosphäre des Films. Und das wird von Anfang an deutlich gemacht.

C: Bezeichnend ist in dieser Hinsicht ja schon die Exposition. Nach einer Schrifttafel* die nichts weiter besagt als das im 15. Jahrhundert Grausamkeit und Aberglaube dunkle Schatten auf die Menschheit werfen, werden wir sofort mitten ins Geschehen geworfen und befinden uns ohne vorherige Einführung oder Erklärung mitten in dem Tumult um die Verbrennung der als Hexe veruteilten Mutter von Barbara Steeles Charakter. Mehr Information brauchen wir nicht, bekommen wir nicht: Finsteres Mittelalter, Aberglaube – das muss reichen. Darin unterscheidet sich der Film auch von Mario Bavas getragenerem, dramaturgisch klassischerem DIE STUNDE, WENN DRACULA KOMMT, an dessen Erfolg sich Margheritis Film sicherlich hängen sollte, von dem er sich aber, abgesehen von einigen Plot-Elementen und Barbara Steele, in jeder Hinsicht unterscheidet.

Was sich von Bava herübergerettet hat und was für mich einen der wesentlichsten Gegensätze des italienischen Horrorfilms zum amerikanischen darstellt, – und ich glaube wir denken hier in eine sehr ähnliche Richtung – ist eben die von dir bereits zuvor angesprochene Entkörperlichung in der Ästhetik und dem Umgang mit den Darstellern. Das amerikanische Horrorkino ist in aller Regel wesentlich physischer, griffiger, während im italienischen der Körper oft nur noch eine Hülle ist, die sich überwiegend kraftlos durch ein monströses Umfeld bewegt. Ein hervorragendes Beispiel dafür ist in meinen Augen die Sequenz im Schlossgarten, in dem die Magd Grumelda der kindlichen Elizabeth den Tod erklärt, um ihr begreiflich zu machen, was mit ihrer Mutter Helen geschehen ist. Die große und die kleine Elfe, das erinnert auch an THE INNOCENTS. Aber wie die meisten Assoziationen zu anderen prägenden Gothic-Horrorfilmen dieser Zeit bleibt es eben nur das: eine Assoziation. Wir waren uns im direkten Gespräch nach der Sichtung ja bereits darüber einig, dass die Radikalität, mit der Margheriti hier beinahe schon stereotype Elemente des Metiers ins Extrem steigert und konturiert, selbige zum einen als funktionelle Steine des Anstoßes entlarvt, zum anderen ihnen aber durch gleichzeitige Reduktion, den Verzicht auf Ausschmückung und Abzweigungen, auf paradoxe Weise ihren poetischen bis schaurig-suggestiven Impetus zurückgibt, den sie durch ihre Stereotypisierung eigentlich eingebüßt haben müsste.

S: Das ist ja auch das Faszinierende am Gothic Horror als Subgenre des Horrorfilms, welches, ähnlich wie zuvor in den Erzählungen von Poe oder Lovecraft, eine eigenständige Welt, eine Art Paralleluniversum kreiert. Nicht nur der Augenblick des Schreckens wie im Horror sonst üblich, der Moment der Angst, erzeugt die Gespenster, sondern die Welt an sich ist von vornherein verschoben, verändert, unumkehrbar von der Realität wie wir sie sonst kennen, verschieden. Diese Verschiedenheit ist aber nicht primär eine des Blickes oder des Vortrags wie beim Märchen, sondern eine konkret Räumliche. Wie durch einen Spiegel, betrachten wir uns selbst – wenn wir wollen, ist dieses zweite Selbst im Gothic Horror dann der konkrete Ausdruck des Unheimlichen. Außer dieser Spiegelung gibt es aber keinen anderen Bezug zur Realität, keinen Ausweg aus dem Schrecken ins „Normale“ der gewohnten Wahrnehmung. Ebenso wenig entsteht wie beim Psychothriller eine Verschiebung im Laufe des Geschehens. Der Gothic Horror ist also kein Audruck einer veränderten Wahrnehmung, sondern IST von Beginn an auf einer anderen Seinsebene angesiedelt. Die Wirklichkeit in I LUNGHI CAPELLI DELLA MORTE ist vor allem durch das Verstreichen von Zeit und die Gesetze der Räumlichkeit bestimmt. Die labyrinthische und klaustrophobische Struktur des Raumes, beschränkt auf Gänge, Höhlen und Zimmer, wird zu einem surrealistisch angehauchten Niemandsland. Hierbei tritt für mich der für viele Gothic-Horrorfilme oder durch sie beeinflusste spätere Werke charakteristische Effekt ein, der z.B. Tim Burtons Batman-Verfilmung für mich derart faszinierend macht: Dass es außerhalb der dargestellten Welt, außerhalb der Stadt, des Dorfes, des Schlosses, keine weitere Realität gibt. Es gibt kein Draußen. Durch diese Auslassung, welche ,wie du treffend meintest, als eine Art Abschirmung funktioniert, werden Filme dieser Art (wenn man so will) zu Filmen der Seele, des Unterbewussten, psychologische Filme, in dem Sinne, dass es hierbei um ein Stadium der Existenz geht, dass keine äußere Umgebung kennt, keine sozialen Wirklichkeiten. Aus dieser Perspektive betrachtet, verlieren moralische Kategorien ihre Wirksamkeit, ihren Effekt, da es lediglich um ihre Darstellung, nicht um ihre Gültigkeit geht. Als Zuschauer fühle ich mich in eine eher ungewöhnliche Position versetzt: nicht zu urteilen sondern zu reflektieren, sozusagen dem Gedanken beim Entstehen zuzusehen, und ihn für sich stehen zu lassen. Der Gothic Horror als körperloses Kino, ein Kino der Geister, ein Kino des Dazwischen.

C: Was du hier schreibst, könnte man beispielsweise weitgehend genau so auf Dario Argentos SUSPIRIA übertragen, der ja auch von Beginn an einen sich hermetisch von der Welt da draußen abgeschotteten, sich gegen jedes rationale Verständnis sperrenden Raum öffnet, bis zu dessen Grenzen man allerdings kaum vordringen kann, auch wenn in SUSPIRIA noch eine Tür nach draußen existiert. Wie dort fühlen sich ja auch in LUNGHI CAPELLI die Figuren in eine Initiative gezwungen, die angesichts ihrer Pragmatik innerhalb der eigenen Gesetzmäßigkeiten dieses Paralleluniversums und seiner unberechenbar suggestiven Scheinlogik nur noch redundant wirken. Sie versuchen, etwas zu erfassen, dass sich jenseits ihrer Wahrnehmung befindet, vor- und zurückzugreifen auf Vertrautes, auf Dinge, die sie als gegeben betrachten wie beispielsweise ihre Moral, die sie allerdings wie aus einer Laune heraus mal verwerfen, dann wieder aufgreifen.
Auch sehr zutreffend, das du hierbei von der verlorenen Wirksamkeit moralischer Kategorien schreibst: Dem Film haftet für mich beständig eine Aura gebändigter Perversion an und wenn Helen ihre anfänglichen Einwände gegen Kurts Plan, seine Frau zu ermorden, in den Wind schlägt, ist klar: Sie tut das aus purer Lust, die auch trotz ihrer vorherigen moralischen Empörung nicht erstaunt.
Das Faszinierende an dem Mikrokosmos dieses Films ist eigentlich vor allem, dass sowohl bei Argento als auch bei Margheriti ein Schwebezustand erreicht wird, in dem die Figuren weder dem Organismus ihrer ohnehin eben nur vage angedeuteten sozialen Umgebung, noch dem Willen ihrer Schöpfer, beziehungsweise des Regisseurs unterworfen sind. Das Parelleluniversum macht sich selbstständig und es lässt sich nicht mehr determinieren, wessen Verantwortung oder wessen „Herrschaft“ es unterliegt. Hierin sehe ich persönlich beispielsweise den Unterschied zu der Traumwelt des zeitlich nahen LETZTES JAHR IN MARIENBAD, bei dem man immer spürt, dass im Hintergrund jemand die Fäden zieht.
Und hier lässt Margheriti seine Anlage selbst die Fäden ziehen, was sich unter anderem in eben jenem „Mangel“ an Positionierung äußert, denn mehr oder minder sagt er uns geradeheraus: Wenn ihr Charaktere möchtet, wenn ihr Persönlichkeiten möchtet, dann macht sie euch selbst. Mir ist das egal, ich spiele nur mit ihnen.

S: SUSPIRIA mag in eine ähnliche Richtung gehen, doch sehe ich (wie du ja auch einwendest) dort noch eine konkrete Verortung in der Wirklichkeit, und nicht nur einer historischen, welche bei LUNGHI CAPELLI nur eine Folie ist, sondern einer zum Erscheinen des Films gegenwärtigen. Die Hauptfigur in SUSPIRIA stolpert ja mehr in eine andere Realität, und entschließt sich im Lauf der Handlung bewusst diese unbekannte Ebene zu betreten und sie in ihre Vorstellung der Welt zu integrieren, was für mich eher einer Coming-of-Age Geschichte oder dem traditionellen Bildungsroman nahe kommt. Auch die subjektive Wahrnehmung eines handelnden Objekts – wie ich in diesem Zusammenhang die von SUSPIRIA eingenommene Perspektive der Handlung, der Kamera und der Person, die oft Eins zu sein scheinen, bezeichnen würde – wird bei Margheriti tendenziell aufgehoben. Und was ich bei diesem Film ebenfalls zum ersten mal voll realisiert habe, ist die Tatsache, dass diese Art von Kino für mich letztendlich nur in Schwarz-Weiß funktioniert. Wie großartig auch manche Farbfilme des Genres, wie beispielsweise Roger Cormans THE MASQUE OF THE RED DEATH (1964) auch sein mögen, verweisen sie für mich doch immer noch auf ein Diesseits, auf eine andere Art die Welt wahrzunehmen, vielleicht auf andere Arten von Wahrnehmung schlechthin (interessant wäre in diesem Zusammenhang sicher auch ein Blick auf AMER, doch würde dies wohl hier den Rahmen sprengen). Auch SUSPIRIA, der für mich nicht zum Gothic Horror zu rechnen ist, verfährt ähnlich, und es handelt sich für mich, wie märchenhaft die Geschichten auch optisch und inhaltlich gestaltet sein mögen, um Geschichten aus unserer Welt. SUSPIRIA wäre für mich dadurch ein viel „reinerer“ Horrorfilm und gleichzeitig auch ein klassisches Filmmärchen wie THE WIZARD OF OZ. Bezeichnend an LUNGHI CAPELLI ist ja eben die Tatsache, dass ich ihn nur sehr eingeschränkt als Horror- oder Märchenfilm wahrgenommen habe. Und es ist eben auch keine Parabel mehr, wenn sich die Motive und Klischees wie du richtig ausführst so sehr verselbstständigen.

C: Sehe ich ähnlich. Nicht umsonst sind wir im heutigen Gothic Horror – sofern existent – wieder bei der Entfärbung des Bildes angekommen. Da du gerade schon Tim Burton erwähnt hast, ist SLEEPY HOLLOW, der sich ja unter anderem auch vor Mario Bava verbeugt, mit seinen graublauen, harten Kontrasten ein ausgezeichnetes Beispiel. (hier könnten wir dann auf Suspiria zurückkommen und die „Erdung“ durch Farbe). Wie direkt das amerikanische und das italienische Horrorkino damals aufeinander reagierten, lässt sich daran ermessen, dass die frühen Filme von Bava und Freda aus dem Willen entstanden, ein italienisches Pendant zu den Universal- und Hammer-Filmen zu schaffen. Roger Corman wiederum castete die Steele bekanntermaßen in THE PIT AND THE PENDULUM nachdem er sie in LA MASCHERA DEL DEMONIO gesehen hatte, den seine Produktionsfirma in die amerikanischen Kinos brachte. Als Mario Bava dann 1964 LA FRUSTA E IL CORPO drehte, baten die Produzenten ihn angeblich darum, einen Film im Stil der Corman-Poe-Verfilmungen zu drehen. Und es war ja auch Bava, der das, was der Rest der Welt heute als „Giallo“ bezeichnet, mehr oder minder im Alleingang erfand und aus dessen Schemen generierte sich zumindest teilweise aber doch eindeutig später, vor allem dank Argentos amerikanischem Riesen-Erfolg mit L’UCCELLO DALLE PIUME DI CRISTALLO und Bavas REAZIONE DI CATENA, die Urform des Slasher-Films, den die Italiener dann in den 80igern wiederum selbst kopierten. Gerade an diesen Beispielen wird das cineastische Prinzip von Geben und Nehmen auf besonders natürliche Weise offensichtlich – und das daran nichts Falsches ist, wie manchmal von der Postmoderne – wenn auch nicht selten unfreiwillig – gelegentlich impliziert.

Allerdings hängt bei Farbfilmen natürlich viel von dem Ausmaß der Stilisierung ab – gerade SUSPIRIA und auch INFERNO sind hier so extrem, dass es in ihnen meines Erachtens gelingt, alle Verknüpfungen mit der Realität, mit der Welt da draußen, zu kappen. Die Farbe lebt und pulsiert dort genauso wie das Weiß in LUNGHI CAPELLI.

S: Um aber wieder auf Margheritis Umgang mit Licht zurückzukommen: Wenn wir uns in LUNGHI CAPELLI sozusagen jenseits der gesellschaftlichen Realitäten befinden, ist das Bedeutende der Lichtgestaltung hierbei – wie man vielleicht meinen würde – nicht so sehr die Herausarbeitung von Licht und Schatten wie etwa im expressionistischen Film. Die Betonung, die Essenz der Wirkungsweise, liegt für mich vielmehr in der Dominanz des Weiß, in der Überstrahlung und der Auslöschung jeglicher Dunkelheit. Die Schatten werden vom gleißenden Licht verschlungen. Die Gefahr des Nichts lauert hierbei nicht im Dunkel der Materie, sondern im Licht der Sonne, in derjenigen Auflösung des Materiellen, die auch der Vampir zu fürchten hat. Der Gothic Horror verhält sich demnach gegensätzlich zum klassischen expressionistischen Film, in welchem Gesichter und Körper in Schatten getaucht werden, um aus ihnen nicht mehr hervorzukommen.

C: Das sehe ich dann doch ein wenig anders, auch wenn ich dir nach der Sichtung teilweise zustimmte („Das Weiß im Schwarz“). Für mich greift sich LUNGHI CAPELLI durchaus einige ikonische Bilder des expressionistischen Stummfilms und hat von diesem eine generelle Schärfe, eine Härte des Lichts, das teilweise die Bilder, die Figuren und die Räume regelrecht zerschneidet und so natürlich die Entkörperlichung weiter vorantreibt. Was sicherlich bemerkenswert ist und worin sich der Film stark vom Expressionismus löst, ist die Flächigkeit der Bilder, die von dem Licht – dem Weiß – nicht so sehr in mehrere Ebenen denn in Segmente aufgelöst werden. Manchmal sieht der Film auch ein wenig aus wie die filmische Umsetzung einer Sammlung von Radierungen, bzw. Tuschezeichnungen was ihn auch zu einem möglicherweise idealen Fall eines „period pieces“ werden lässt. Generell lässt sich sagen, dass der Einsatz von Licht hier wesentlich roher wirkt als in den meisten anderen mir bekannten, schwarzweißen Gothic-Horrorfilmen, die Bilder sind von einer bewundernswerten Klarheit, sind schlicht und vermeiden den Blick auf ablenkende Details. Das erfordert gerade in einem solchen Film eine gewisse Courage, denn der Mangel an Verschnörkelungen lenkt den Blick des Zuschauers sehr viel konzentrierter aufs Eigentliche. Damit kann man als Regisseur manipulieren, aber eben auch sehr viel leichter beim Publikum durchfallen, wenn es mit dem Eigentlichen unzufrieden ist. Darüber hinaus beugt diese Inszenierung natürlich einem bei derartigen Filmen stets möglichen „Camp“-Faktor vor.

S: Diese zwei Punkte der Räumlichkeit, die dunklere (da sichtbare) Atmosphäre der materiellen Umgebung, und das Weiß, das sie bevölkert und bedroht, werden in Margheritis Meisterwerk aber vor allem durch den Faktor der Zeit sichtbar und bedrohlich. Die Struktur dieser Welt bildet der Film rhythmisch ab, im Schnitt und in der Bewegung der Kamera, in der Bewegung der Körper, in der Bewegung an sich also, die hierbei die Existenz der Zeit verifiziert, und sie antreibt. Nur in dieser Anhäufung von rhythmisch-zeitlichen Momenten werden die Räume erlebbar. Um es etwas klarer auszudrücken: ohne den spezifischen Rhythmus des Films, wäre „The Long Hair of Death“ wohl „nur“ einer von vielen Gothic Horror Filmen. Durch den Gleichmut, die Konsistenz und Unbeirrbarkeit der rhythmischen Bewegung des Films wird er für mich aber zum Prototyp und zum idealen Vertreter dieses Genres. Gothic Horror kann man nicht besser machen. Eine Steigerung würde höchstens zur Auflösung des Filmbildes führen.

C: Dem kann ich nicht mehr viel hinzufügen. Außer vielleicht, dass die Beziehung von Rhythmus, Bewegung und Ästhetik – typisch für den italienischen Horrorfilm – sich ergeben aus der in diesem Film als eines der Leitmotive weit brachialer und ungebändigt sinnlicher als in den meisten amerikanischen Produktionen dieser Zeit durchbrechenden „monströsen Sexualität“, die als eine unbestimmte, aber greifbare Vorgabe der Narration fungiert – oder dem, was hier für Narration steht. Deswegen ist der italienische Horrorfilm in meinen Augen immer ein wenig organischer und näher an den vielzitierten menschlichen Urängsten, als seine amerikanischen Kollegen.
Der offene Verlauf des Films, die Zwanglosigkeit, mit der er auf seine Auflösungen und Konflikte hinarbeitet, ermöglicht ihm einen Kreislauf unmittelbarer Reaktionen, der eine solche Rhythmik beinahe bedingt.
Und hier komme ich natürlich irgendwo wieder auf deine Argumentation zurück, denn ohne diese organische Erzählweise wäre I LUNGHI CAPELLI DELLA MORTE vielleicht wirklich nur ein episodischer Film, der sich von Station zu Station, Effekt zu Effekt hangelt. Dann allerdings bliebe ihm vielleicht immer noch seine visuelle Kraft, auch wenn ich in Kenntnis zahlreicher späterer Filme Margheritis zugeben muss, dass ihm diese lose Herangehensweise, diese dramaturgischen Grauzonen, offenbar weit mehr Inspiration oder zumindest Fingerspitzengefühl gegeben hat als die pragmatischeren, psychologisch und dramaturgisch direkteren Drehbücher vieler seiner späteren Horror- und, ab Ende der 60iger, zunehmend auch Actionfilme. Allerdings besteht in dieser Hinsicht bereits eine enorme Diskrepanz zwischen I LUNGHI CAPELLI DELLA MORTE, dem sehr ähnlichen und übrigens ebenfalls wunderbaren DANZA MACABRA (1964) sowie dem im gleichen Jahr entstandenen LA VERGINE DI NORIMBERGA, der nicht nur in Farbe gedreht wurde sondern auch weitaus plotorientierter und aktiver, also weniger passiv ist als I LUNGHI CAPELLI… Und im Falle von LA VERGINE DI NORIMBERGA, der für mich den schwächsten der drei Gothic Horrorfilme darstellt, die Margheriti in der ersten Hälfte der 60iger Jahre realisierte, trifft deine Aussage bezüglich Farbe in diesem Subgenre, voll ins Schwarze. Die Bildregie geht beinahe haargenau gleich vor, doch die Bilder sind nicht halb so evokativ, so sinnlich. Möchtest du nicht noch etwas zu unserem gemeinsamen Lieblingsmoment, der „Treppen-Szene“ sagen? Und zu deinem Vergleich mit Dreyer?

S: Hmm…, das mit Dreyer war eben so eine spontane Analogie nach dem Film. Der Film erinnerte mich in seiner Traumlogik und der scheinbar völligen Undurchsichtigkeit der Handlung, aber auch in seiner visuellen Gestaltung stark an VAMPYR. Der Nebel und die Unschärfe die Dreyers ebenso hermetisch abgeriegelte Zwischenwelt beherrschen finden sich im sich auflösenden Weiß von LUNGHI CAPELLI wieder. Ebenso die verlorenen Figuren, und die schicksalhaft anmutenden Wendungen und Ereignisse. Als ob am Anfang des Filmes bereits alles passiert wäre, und das Folgende nur einen Traum oder eine Erinnerung darstellt. Wenn in VAMMPYR möglicherweise ein Toter vom Leben träumt und dadurch wieder ein Leben gewinnt, kehrt bei Margheriti vielleicht mit ähnlichen Folgen der Geist wieder auf die Erde zurück. Auf jedenfall spielt bei beiden Filmen die eigene Phantasie eine überragende Rolle, da man den Leerlauf der Handlung jederzeit mit eigenen Motiven und Obsessionen füllen kann. In dieser Hinsicht ist wahrscheinlich auch die besagte Treppensequenz das Kernstück des Films. Ähnlich wie bei VERTIGO visualisiert die Wendeltreppe in ihrer Spiralform die Unendlichkeit der Bewegung in der Zeit: Flucht ins Nirgendwo. Am Anfang im Keller, am Ende auf dem Dach, von der Tiefe in die Höhe, kann man sich den ganzen Film als gang zum Licht vorstellen, als eine Erlösungsfantasie vom Dunkel der Erde in den gleißenden Strahl der Sonne. Auf dem Weg gibt es Ecken und Türen doch dem Verfolger kann man sich nur entziehen, wenn man bis zum Ende durchhält, also auch die klassische Verfolgerstory aus dem Slasher. Wenn die jugendliche Heldin im originalen TEXAS CHAINSAW MASSACRE am Ende vor Leatherface entkommen kann und schreiend auf dem Kleinlaster in den Sonnenaufgang fährt ist eben trotz der Erlösung doch kein Happy End in Sicht. Passend dazu befindet sich die Treppensequenz bei Margheriti ziemlich genau in der Mitte des Films. Vom Dach gibt es schließlich auch keine wirkliche Fluchtmöglichkeit, nach oben zu heißt also ein Stückweit auch immer dem Tode zu. Da empfinde ich auch etwas religiös-mystisches, das Leben als Weg zum Tode, der trotzdem keine Erlösung darstellt. Barbara Steele begibt sich aber danach ja wieder nach unten, und die Geschichte geht noch einmal von vorne los. Ich sehe die Treppenszene also als eine Art Perpetuum mobile, eine unendliche Schleife, auf der Barbara Steele analog zum Lebensweg (der auch der Weg des Filmes von ihrer Geburt bis zu ihrem Tode ist) auf komprimierte und gezielte Art und Weise leidet, wobei die Großaufnahmen ihres panischen Gesichts von entscheidender Bedeutung sind: auf der Flucht vor der Dunkelheit zerfrisst die überstrahlte Helligkeit beinahe ihre Erscheinung. Für mich der ultimative Gothic-Horror.

C: Auch für mich war dieser Film wie eine Erfüllung nach jahrelangem Warten auf „den“ Gothic-Horrorfilm. Als Kind waren mir alle Filme, die auch nur im Entferntesten mit „Horror“ zu tun hatten, verboten. Selbst für meine erste große Filmleidenschaft, die Edgar Wallace-Filme, musste ich hart kämpfen. Schon damals war ich immer fasziniert von Bildern, denen ein Gothic-Horror-Ambiente innewohnte, las mit sehnsüchtiger Faszination im Fernsehprogramm die Beschreibungen zu den Roger Corman- und Hammer-Filmen. Als dann endlich der Zeitpunkt gekommen war, an dem ich solcher Filme selbst habhaft werden und sie sehen konnte, war ich maßlos enttäuscht. Nicht, dass mir die Corman- und Hammer-Filme – mit denen ich selbstverständlich startete – nicht sofort ans Herz gewachsen wären. Ich liebte sie und ich liebe sie immer noch. Doch was ich mir davon versprochen, erhofft hatte, jenen mystischen Schauer, jene dunkle Poesie, hatte ich nicht bekommen – vielleicht von einigen der Horrorlastigen Wallace-Filme wie DIE TOTEN AUGEN VON LONDON Jahre zuvor noch eher. Als ich mich dann 2005/2006 dem italienischen Horrorkino näherte, stieß ich auf Filme, die meinen kindlichen cineastischen Wunschträumen näher kamen, doch die ganz große Erfüllung blieb trotzdem aus. Auch SLEEPY HOLLOW beispielsweise, der mit seiner Übertreibung von Stereotypen und der Ikonographie des Metiers eigentlich ebenfalls einen Idealfall darstellen könnte, ließ mich vergleichsweise kalt, da dem klassischen Sujet, überproduziert wie es dort letztlich ist, die Mystik, die Poesie zu weiten Teilen abhanden gekommen war. Es erscheint mir nach jahrelangem Enthusiasmus fürs Genre und so unendlich vielen Filmen beinahe wie ein Wunder, dass ich nun, da ich die Suche unbewusst schon aufgegeben hatte, doch noch auf „den“ Gothic-Horrorfilm gestoßen bin, der mich mehr oder minder wunschlos glücklich gemacht hat. Ich erinnere mich, dass du ja auch während des Films meintest, er sei tatsächlich unheimlich – das habe ich ganz genauso empfunden. Gerade weil er nicht konkret ist, weil man sich unentwegt nicht des Gefühls entledigen kann, dass die eigentliche Gefahr nicht von den mörderischen Plänen George Ardissons und Barbara Steeles ausgeht, sondern von etwas Anderem – ohne dass man dieses „Andere“ benennen könnte. Die Verlorenheit der Charaktere, die nicht dazu in der Lage scheinen, aus einander Kraft zu schöpfen, die daraus resultierende Kälte, die sich schlussendlich in diese starre Verachtung verwandelt, die in der Schlusssequenz zum Ausdruck kommt; all das ist so denkbar unbehaglich, schleichend verstörend und in seiner psychologischen Zusammenhanglosigkeit unberechenbar, dass man es so schnell nicht abschütteln kann. Genausowenig wie die unglaublichen, dichten Bilder, die mir jetzt – vier Wochen nach der Sichtung immer noch mit unverminderter Präsenz im Kopf herumspuken.

* Alla fine del XV secolo crudeltà, superstizione e mali spaventosi incombevano sull’umanita
(„Am Ende des 15. Jahrhunderts überschatten Grausamkeit, Aberglaube und fürchterliches Leid die Menschheit“)

Nachtrag: Dieser Text entstand im Verlauf einiger Wochen nach der Sichtung des Films im März 2010. Er wird erst jetzt veröffentlicht, weil wir als Verfasser bereits kurz nach Fertigstellung unter anderem nicht mehr mit der Qualität und Aktualität unserer Äußerungen zufrieden waren. Nach langwierigen Gesprächen und Überlegungen kamen wir aber doch zum Entschluss den Dialog nicht umzuschreiben, sondern als Dokument der Entstehungszeit in der damals finalisierten Form beizubehalten. Christoph distanziert sich dennoch ausdrücklich von dem Endergebnis und seinen Aussagen.

Dieser Beitrag wurde am Samstag, März 9th, 2013 in den Kategorien Ältere Texte, Blog, Blogautoren, Christoph, Filmbesprechungen, Sano veröffentlicht. Sie können alle Kommentare zu diesem Beitrag über den RSS 2.0 Feed verfolgen. Sie können diesen Beitrag kommentieren, oder einen Trackback von ihrer eigenen Seite setzen.

6 Antworten zu “Auch für mich war dieser Film wie eine Erfüllung…
Ein Dialog zu I lunghi capelli della morte (1964)”

  1. Robert on März 12th, 2013 at 13:57

    „Normalerweise dauert sowas ja ein bisschen, irgendwann im Laufe des Films merkt man wie gut er ist, wie sehr er einem wirklich gefällt.“ Das ist bei mir ja eher umgekehrt. Ich schaue sehr oft Filme, von denen ich sofort denke: „Neuer Lieblingsfilm. Was ein Wahnsinn.“, aber der Überschwang lässt dann oft mit der Laufzeit nach. Umgekehrt ist bei mir eher seltener. Wahrscheinlich bin ich einfach nur schnell euphorisch und dann umso schneller enttäuscht. Mal abgesehen von den Filmen, die sich erst beim Verdauen entwickeln.

    Und wenn Christoph zu seinem Gesagten nicht mehr steht, also ich hätte sowas gerne gesagt, nehme gerne seinen Platz ein 😀

    Werde ihn auf jeden Fall demnächst mal schauen.

  2. Sano Cestnik on März 13th, 2013 at 23:51

    Interessant, dass du zu Beginn bereits so euphorisiert bist. Ich hatte ja mal gemeint, dass die meisten Filme während der ersten 30 Minuten am Besten sind, weil da oft noch keine Story, keine Schließung, kein Ziel einsetzt, sondern sich die Klammer erst einmal öffnet. Aber obs ein Lieblingsfilm wird, weiß ich in der Regel erst ab der Hälfte und meist erst gegen Ende. Nach dem Film passiert mir das nur in Ausnahmefällen. Es gibt für mich aber natürlich auch diese Wahnsinnsfilme, wie eben LONG HAIR OF DEATH oder auch MADEMOISELLE von Tony Richardson, wo ich bereits nach 3 Minuten nicht mehr glauben kann, was sich mir da für ein Geschenk in den Schoß legt.

    Christophs Pingeligkeit ist ja berühmtberüchtigt. Bin daher froh, dass es mit der Publikation doch noch geklappt hat. Wobei ich jedoch zugeben muss, dass ich meine Passagen auch auf keinen Fall nocheinmal lesen wollte. Vielleicht hätte ich dann doch mit Christoph gleichgezogen, und der Dialog wäre endgültig im digitalen Nirvana entschwunden.

  3. Christoph on März 14th, 2013 at 00:00

    Ein Minimum an Qualitätskontrolle und Selbstkritik hat noch niemandem geschadet, sprach der Preuße und löste sich in Staub auf.

  4. Silvia Szymanski on März 15th, 2013 at 09:11

    😀

  5. Filmforum Bremen » Das Bloggen der Anderen (16-03-13) on März 16th, 2013 at 19:54

    […] Woche, auch Sano und Christoph von Eskalierende Träume dieses Prinzip übernommen und führen ein langes Gespräch über den Film „I lunghi capelli della morte“ von Antonio Margheriti. Herausgekommen ist ein, wie ich finde, interessanter, emotioneller und informativer Dialog. Dieser […]

  6. Alexander S. on März 31st, 2013 at 19:33

    Mir geht es mal so, mal so: es gibt Filme, die werden überhaupt erst nach der zweiten Sichtung zu Lieblingsfilmen, oder erst nach einem gewissen Abstand mit dem Einsetzen der gedanklichen Nachwirkung und es gibt Filme, die mich von vornherein völlig mitreißen. In diesem Fall ist aber natürlich immer die von Robert erwähnte Gefahr gegeben, dass der Film dann doch nicht ganz die Erwartungen erfüllt, mit denen mich so ein Start erfüllt. I LUNGHI CAPELLI ist jedenfalls vorgemerkt, schließlich liebe ich auch den „Gothic Horror“, ein Begriff für den die beste deutsche Näherung wohl das wunderschöne Wort „Schauerromantik“ ist.

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