Deutschland im Film: Johannisnacht (1956)





Von der Begierde der Männer

Forsch schreitet einer durch Nacht und Wind, während anderswo eiligst einer in entgegengesetzer Richtung – vom Zuschauer weg statt auf ihn zu, ergo Angst implizierend – ins Haus flüchtet. Es ist Willy Birgel, der im Sturm ziellos durch die Wälder irrt und ein klein wenig fühlt man sich durch Schnitt und Einstellungen eines Horrorfilms an die Schauerwaldauftakte von Harald Reinls späterem Edgar Wallace-Smasher Der unheimliche Mönch (1965) oder gar Mario Bavas Technicolor-Tötungsrausch Sei donne per l’assassino (1964) – da passen dann auch die Farben – erinnert. Nun ist in diesem Falle allerdings keine Bedrohung abseits des Unwetters im Anmarsch, es schaut lediglich so aus, so wie in diesem wilden Film ohnehin gerne die Situation spontan ins Bedrohliche umkippt; mit seinen Gewitternächten in alten Herrenhäusern und enthemmten Wiesenjungs wähnt man sich allzu oft in gänzlich anderen Filmgefilden. Nicht ganz unpassend für ein Melodram, das sich genüßlich mit den psychosexuellen Obsessionen Frauen hinterherjagender, sie in engsten Besitz nehmen wollender Männer beschäftigt. Willy Birgel hat das alles schon hinter sich, weshalb ihm auch das Kind, das Goethes Erlkönig bei seinem nächtlichen Ausflug noch bei sich trug, bereits vorher abhanden gekommen ist. Seelisch freilich, nicht körperlich, darf es doch auf einer Alm in den Bergen des väterlichen Grafen mit einer treuen, die Familie ersetzenden Magd Heidi nachspielen – die leibliche Mutter, sie starb vor Jahren.

Der Doktor empfehle, die Kleine mit einem Besuch nicht zu belasten, meint Birgel, doch scheint er es zu sein, der sich nicht mit Vergangenem belasten will. Seiner statt schickt er ihr via Schlappenschammes ein kleines – Wilderen sei gedankt – ebenfalls mutterloses Bambi hinauf. Er ist hart und doch soo zart! Schwermütig hockt er sich vor den Plattenspieler, auf dem er die alte Aufnahme – ein Wiegenlied – seiner einst großen Liebe rotieren lässt, erinnert sich an das, was war, schwelgt unversehens in eine Rückblende hinein. Sie war eine große Sängerin, vormals stand sie mit den Großen auf der Bühne, doch gerade war ein Töchterchen geboren und die Karriere längst ins Hintertreffen geraten – da trudelt das Paket eines Kollegen ein, der nun in Übersee ein neues Leben gefunden hat. „Eine tolle Karriere hat er gemacht!“, hält sie fest – „Und die hättest du auch gemacht, wenn du ins Ausland gegangen wärst!“, gibt er treuherzig zu bedenken, weiß er doch noch nicht um den Inhalt des beigefügten Briefes. Der Freund hat sie bei den Produzenten ins Gerede gebracht – man will sie in den Staaten haben! Und Willy gibt seine Frau frei – es sind ja nur sechs Monate! Und sie ist eine große Sängerin! Wie eine besonders gelungene Zierpflanze, an der man sich ab und an ergötzen, sie herumzeigen muss. Ist – denn soeben trat sie wieder in sein Leben, langsam verstummend läuft die Platte aus, die Wirklichkeit setzt ein.

Zurückgekehrt, um das gemeinsame Kind zu sehen, ist sie; tot, das war sie nie und später wird sie uns verraten, dass ihr Mann die Scheidung verlangte, als der gesetzte Zeitraum um wenige Monate überschritten wurde. Reinl, der große Naturfreund, entwirft obige Zuflucht in den Bergen so zumindest teilweise als das, was dem Heimatfilm an sich von seinen Kritikern wieder und wieder vorgeworden wurde: Eine illusionäre Scheinwelt, die das betrogene Kind in zartgrün glänzende Watte packt, der Wirklichkeit wie den Spielen der Erwachsenen fernhält. Und während der Herr Gevatter beim Versuch, sich seine Konflikte im Märchenwald zu treibender klassischer Musik von der Seele zu gallopieren (Helmut Käutners ein Jahr zuvor gestarteter Ludwig II. – Glanz und Ende eines Königs stand unübersehbar Pate), auf eine junge Dame trifft, sie gegen einen aufdringlichen Stalker – der in seiner nie erklärten Existenz als auf den reinen Trieb aller Männer dieses Films reduzierte deus ex machina fungieren zu scheint – verteidigt, trifft sich die Mutter heimlich mit dem Kinde, taucht ein in eine Welt, die sie nicht mehr kannte.

Wenig später werden eine Handvoll Schnitte dies alles zusammenlaufen lassen, verdichten: Mit dem kleinen Rehlein spielend stürzt das Kind erst unvermittelt in die Knallerei eines Wilderers, der doch nur ein kauziger Alter ist – wieder diese harschen Umbrüche – dann übergangslos in einen reißenden Strom (so überbordend setzt die Regie den kleinen Bergbach zumindest in Szene). Es fischt sie in größer Not heraus die Hand der Mutter, just während an anderer Stelle Willy Birgels Hand die neue Flamme aus der Bahn eines rasenden Autos reißt. Dieser Moment, diese Zuspitzung der Montage besiegelt es – beide brauchen das gerade ergriffene Glück in ihrem Leben. Die zutiefst avantgardistische Farbdramaturgie bekräftig das entschieden. Nur recht selten sind deutsche Melodramen in dieser Hinsicht zu den lichten Höhen eines Douglas Sirk oder Nick Ray emporgestiegen, Johannisnacht jedoch ist eines dieser Schmuckstücke:

Die Feten der wenigen jungen Leute (die neue Liebe und Birgels Sohn aus erster Ehe, der hier später noch wichtig wird, sind zwei von ihnen): in sattes Rot, Dunkelblau, Gelb getaucht, es steppt das pralle Leben. Während beim Herrn Papa rustikalere Gold-, Braun- und Kastanientöne von der singulär deutschen Miefigkeit zeugen, dominieren bei dessen ehemaliger Gemahlin blassestes Rosa, Hellgelb wie -blau – aus diesen Räumlichkeiten ist alles Leben gewichen. Doch unangemeldet klopft’s bei ihr an der Tür, ein hoffnungsvoller, gleichsam aussichtsloser Verehrer (Wolfgang Preiss in einer höchstgradig ungewöhnlichen Rolle!) hält einen leuchtend roten Rosenstrauß durch einen sich öffnenden Spalt, aber auch er wird wieder aus ihrem Leben weichen, für ihn ist dort kein Platz und das Rot wird mit ihm gehen. Nur von der Enthüllung ihrer Identität gegenüber dem geliebten Kind heimkehrend, da ist einmal alles anders in diesem Trott – der aufgegangene Mond sendet sattblau seinen Glanz durch die Fenstern, die Gardinen, ja den ganzen Raum um Nuancen abdunkelnd, somit erwärmend. Und mit jeder dieser mannigfaltigen Farbverschiebungen gleicht sich die Kleidung, somit der ganze Mensch, dieser an – die Lebensumstände diktieren das Leben, es besteht kein Zweifel daran. Die ganze Vielfalt der menschlichen Farbwahrnehmung findet sich indes einzig und allein in jenen Szenen, die auf Wiesen hochoben zwischen den gewaltigen Berglandschaften spielen – Reinl ist eben am Ende des Tages immer noch Reinl.

Hier ist er allerdings auch noch ein wenig mehr als nur er selbst, zum Beispiel ein veritabler Veit Harlan-Ersatz, gerät die Auflösung all dieser verknoteten Neurosen doch, analog zu einigen geschilderten Spitzen, bisweilen hinreißend hysterisch: Der oben erwähnte Sohn des Grafen mag ein Künstler wie die Mutter sein, in der Liebe kommt er hingegen ganz auf seinen Vater und verliebt sich prompt in dieselbe Frau. Niemand spricht darüber und doch – bei prompt eskalierenden Übungen am Degen ficht man es miteinander aus, ein weiterer hinterhältiger Überfall des unsteten Films. Sohnemann unterliegt, rennt davon und drischt manisch dreinblickend, als ginge es hier um die beste Kurt Meisel-Imitation, seine ganze Begierde in die Tasten eines Klaviers. Doch wie so grundverschiedene Regisseure wie Sirk und Harlan, deutsches Kino mit amerikanischem in Liebe vereint hier zusammenfinden, so ergeht es schlussendlich auch den Figuren, denen Reinl ein echtes Happy End, kein vorgetäuschtes wie bei den amerikanischen Kollegen, vorbehält: In einer Nacht, in der schicksalsschwanger die lodernden Feuer der Johannisnacht von den Gipfeln herabstrahlen, will man alles ein für alle Mal ins Reine bringen, Birgel den Eindringling aus der Vergangenheit verjagen, dieser wieder ein Teil der töchterlichen Gegenwart werden. Er baut sich vor ihr auf, blafft sie an wie der Bestimmer, den er stets gibt, doch es ist vergebens, auf ein paar Stufen stehend überragt sie ihn in jeder Einstellung, ist sie entschlossener als je zuvor. Was bleibt ihm da anderes übrig als sofort einzuknicken, alles, die ganzen Jahre der Entbehrung zu bereuen – gemeinsam geht man nun zur Hütte hinauf. Und wenig später gibt man sich parallel zu den endlich vereinten jungen Liebesvögeln ein zweites Ja-Wort – die Mehrfachhochzeit, ein Reinlscher Klassiker. Diesmal, gänzlich unironisch, vielleicht der Aufbruch in ein anderes, zwar gemeinsames, dennoch selbstbestimmtes Leben.


Johannisnacht – BRD 1956 – 97 Minuten – Regie: Harald Reinl – Produktion: Bernhard F. Schmidt – Drehbuch: Ilse Lutz-Dupont, Tibor Yost, nach dem Roman von Werner Hill – Kamera: Oskar Schnirch, Gerhard Klammet (Wildaufnahmen) – Schnitt: Martha Dübber – Musik: Willy Mattes, Lieder von Günther Schwenn – Darsteller: Hertha Feiler, Willy Birgel, Ingrid Simon, Sonja Sutter, Wolfgang Preiss u.v.a.

Dieser Beitrag wurde am Freitag, März 23rd, 2018 in den Kategorien Ältere Texte, André Malberg, Blog, Blogautoren, Deutschland im Film, Filmbesprechungen veröffentlicht. Sie können alle Kommentare zu diesem Beitrag über den RSS 2.0 Feed verfolgen. Sie können diesen Beitrag kommentieren, oder einen Trackback von ihrer eigenen Seite setzen.

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