Deutschland im Film: Das gelbe Haus am Pinnasberg (1970)




Von der eingesperrten Liebe

Hamburg, Ende der 60er Jahre. Ein illustrer Haufen Männer versammelt sich auf einem Friedhof, nimmt Abschied von Jemandem, der unzweifelhaft einer der ihren war. Leicht im Abseits, ein gestrenger Herr: Werner Zibell heißt er, General a.D., Relikt des (immer wieder wird es angedeutet, aber nie ausgesprochen) Zweiten Weltkrieges. Nicht nur ein Zementwerk – das er allerdings spürbar weniger zu lieben scheint- leitet dieser mustergültige Macher des deutschen Wirtschaftswunders, sondern auch ein Bordell. Ein Bordell nicht für Männer, sondern vielmehr speziell geeicht auf die Bedürfnisse der „modernen Frau“, wie man immer wieder zum Besten zu geben weiß. Und Episoden aus diesem gelbgestrichenen Refugium abseits genormter Sexualität serviert Alfred Vohrer uns in diesem Film, moderiert von der real-existenten, beinahe gebrechlichen Amateurautorin Bengta Bischoff, deren gleichnamiger Roman als Vorlage diente.

Wie man das Ganze aufzufassen hat, gibt Vohrer gleich zu Beginn preis: zurückkehrend von der Trauerfeier, zieht die Gemeinschaft an der alten Dame vorbei, die umgehend kommentierend das Wort ergreift. Eine gelungene Vollendung jener cinematographischen Destruktionsversuche, welche Vohrer ab Mitte der 1960er Jahre vermehrt unternahm. In Der Hund von Blackwood Castle (1967), seinem bizarren Proto-Helge-Schneider-Krimi, verschwimmt die Grenze zwischen narrativer Ebene und der unsrigen Welt noch vornehmlich in einigen leicht zu übersehenden Momenten rein visueller Natur : provozierend oft fährt die Kamera in den Wirtshausszenen ganz nonchalant an den Bauten vorbei in den nächsten Raum, nicht existente Türen und Fenster nehmend, den Rahmen der filmischen Imagination, des make-believe, weit aufsprengend. In ihrer entschiedenen Künstlichkeit erinnern diese Sequenzen bisweilen gar an eine Episode des Peter Steinerschen Theaterstadls (Dank an meinen lieben Bruder für diesen astreinen Seheindruck!). Beim Gelben Haus vom Pinnasberg ist der Fall aber bereits gänzlich anders gelagert: Eine bauliche Trennung zwischen Erzähler/in und Protagonisten, in artverwandten Mondo- und Reportfilmen dieser Zeit oft anzutreffen (beide existieren dort in unterschiedlichen Ebenen des Films, beispielsweise in den einrahmenden „echten“ Interviews und den durch eben diese eingeführten Vignetten), wird hier nicht konstruiert. Denn obwohl die Autorin Teil von etwas ist, das klar fernab der vierten Wand liegt, interagiert sie wiederholt mit den Figuren unseres Filmes . Durch diesen gewitzten Kunstgriff sind diese Figuren augenscheinlich auch die Protagonisten ihres Buches, denn Vohrer lässt Frau Bischoff nicht nur betont im Filmbild ausgestellt aus ihrer Romanvorlage vorlesend Filmszenen kommentieren, sondern veranschaulicht in einer retrospektiven Volte, wie die Autorin als in der Handlung anwesende und vor allem eingebundene Filmfigur eben dadurch ihre Eindrücke für den (bereits erschienenen!) Roman sammelt, auf dem die Filmhandlung ja eigentlich beruht.

Und weil es sich für filmische Ergüsse dieser Art gehört, wird auch hier auf echte Aufklärungsarbeit gesetzt: Mit dem titelgebenden Haus entwirft Vohrer eine Festung, die offenkundig für starre Trennungslinien zwischen den Geschlechtern steht. Kommandant dieser Festung, oder eher „General“, wie er sich von seinen „Kameraden“ rufen lässt, ist Zibell. Wie die Begrifflichkeiten und Ränge, mit denen er fortwährend hantiert, bereits nahelegen, ist der Krieg für ihn nicht so recht vorbei, nur einige kleine Variablen haben sich verschoben. Die düsteren Schatten der Vergangenheit, dem kriegsversehrten Veteranen Vohrer bestens bekannt – um noch schnell einen neuen Superlativ zu schafen: „Der größte einarmige Regisseur des Kinos!“ – werden auch hier wieder vorstellig. Oberflächlich präsentieren sie sich in einem heiteren Ton, welcher sich maßgeblich von dem kurz zuvor unter vergleichbaren Produktionsbedingungen entstandenen Sieben Tage Frist (1969) unterscheidet, einem Film, der das alles zerschmetternde Gefühl, einen aufrichtig bewunderten Menschen nach und nach als Untier entblößt zu sehen, unbarmherziger auf den Punkt bringt, als fast jede andere deutsche Produktion über verdrängte Schuld. Diese Leichtigkeit ist aber auch Fassade. Im Gelben Haus mag es zwar für nahezu jeden erdenklichen Fetisch einen passenden „Erosbruder“ geben – auch in dieser Bezeichnung schwingt wieder die uneingestandene Homosexualität mit, das „Verkommene“ hinter der moralinsauren Fassade, die Männerbünde der Nationalsozialisten, der Eindruck, der Zibell anhängt, wohin er sich auch begibt (dass er von dem unnachahmlich steifen Siegfried Schürenberg gespielt wird, man kann es nur kongenial nennen) – aber eine Befreiung von den Zwängen der Nachkriegsgesellschaft findet nicht statt. Jegliche über den reinen Akt hinausgehende Zuneigung zwischen Kunde und Dienstleister (selten passte dieses Wort besser) untersagen die Hausregeln. Das Eindringen des Privaten in die öffentliche Wahrnehmung ist unerwünscht.

Zementfabrikant – das ist der Beruf, über den der General mit seiner Frau und der nichtsahnenden Tochter ausschließlich diskutieren möchte. Funktionieren tut das Leben so aber nun mal nicht. Und nach und nach muss auch er das einsehen. Erst verliebt sich seine Tochter in einen feschen Studenten (unter seinem nom de sexe „Kolumbus“ jüngster Neuzugang des väterlichen Freudenhauses), dann die Schwägerin in einen Priester. Dem hatten persönliche Schwierigkeiten erst die Stimme, und als direktes Resultat dieser ultimativen gesellschaftlichen Entkopplung dann die gesamte Existenz geraubt. Wo er nun sein Glück versucht, der aufmerksame Leser kann es sich bereits denken. Alle Beteuerungen des Patriarchen doch an den guten Ruf zu denken, werden von den Liebesvögeln gepflegt in den Wind geschlagen – und dann geschieht zu allem Überfluss auch noch ein Mord! Unter den zwei schwulen Haushälterpärchen bahnt sich ein nicht allen genehmer Partnertausch an: etwas ahnend kann sich der Gehörnte zwar gerade noch so mit einer frappierend an einen sogenannten hate fuck erinnernden Staubsaugorgie ablenken; als er seinen Partner aber kurz darauf mit dem Objekt der Begierde im Keller auffindet, spießt er ihn auf. Mit einem riesigen Nagel. Eine höchstgradig befremdliche Szene, die wie Vohrers Das indische Tuch (1963) in der hektischen Verfolgung durch einen Hund auf den Dachboden mündet, wo sich der Gehetzte prompt erhängt. Genrezitate, beziehungsweise Zitate aus dem eigenen Werk wie dieses, werden von Vohrer immer wieder genutzt, um den Tonfall in eine andere Richtung zu stoßen. Das Gelbe Haus wird dadurch auch zum Tanzfilm, zum Horrorfilm – und ist auf eine ganz eigensinnige Art vor allem ein Heimatfilm. Der Anspielungsreichtum dieser kongenialen filmischen Farce zeigt sich nicht zuletzt in einer Szene, in der die „Besteigung“ der neuen Silikonbrüste seiner Stammkundin durch Josef, einen echten bayerischen Pfundskerl, in ihrer Inszenierung der körperlichen Interkation und sprachlichen Artikulation der Figuren den Übergang des kinematographischen Bauerntheaters vergangener Jahrzehnte in den Lederhosenfilm der 70er imitiert, und durch eine subtile Umkehrung bekannter Topoi dessen parodistische Genreelemente zudem noch verstärkt.

Befreit wird der General aus seinem Dilemma erst wirklich (den vorangegangenen Verkauf der geliebten Freistätte bereut er umgehend), als das Haus völlig aus dem Blauen heraus der totalen Zerstörung anheimfällt. Die Handwerker, welche die ganze Laufzeit über unsichtbar unter dem Gebäude gewerkelt hatten (nur ab und an, in Momenten der höchsten Anspannung, ging wie schon bei Edgar Allan Poe ein düster mahnender und doch stets wieder geflickter Riss durch die Wand) werden endlich visualisiert: mit wild geschwungenen Presslufthämmern und Riesenbohrern – die logische Konsequenz unzähliger freudig ins Bild gehaltener Phalli, spätestens seit Der Gorilla von Soho (1968) unverkennbares Markenzeichen des frivolsten deutschen Filmemachers – zerstören sie in einer finalen orgasmischen Eruption die Arbeit vieler Jahre in Sekundenbruchteilen. Der zwischenzeitlich erkrankte Bajuware Josef kommt nur um Haaresbreite aus den Trümmern heraus, und der Katastrophenfilm auf Vohrers Referenzliste hinzu. Schlussendlich gewinnt dadurch auch Zibell seine Freiheit zurück. Wie auch schon der Ex-Priester vor ihm – bei der Hochzeit kam es ihm vor lauter Glückseligkeit plötzlich … das Wort „Ja“ und die Stimme gleich dazu. Und wie auch seine Tochter – aus der väterlichen Obhut entlassen, darf sie mit „Kolumbus“ in eine neue Welt segeln. Eine Welt, in der man einander sagt, was einem auf dem Herzen liegt und zwischen den Schenkeln zwackt. Eine Welt, in der sich niemand für seine Bedürfnisse schämen muss. Das vermeintlich Abseitige, es muss raus aus seinen Kerkern, auf die Straßen, nicht weg von uns, sondern zwischen uns. Nur so kann eine Emanzipation des viel zu lange schon Verdrängten erfolgen. Alle Menschen werden Brüder.


Das gelbe Haus am Pinnasberg – BRD 1970 – 96 Minuten – Regie: Alfred Vohrer – Produktion: Luggi Waldleitner – Drehbuch: Manfred Purzer (als „Ernst Flügel“), Alfred Vohrer, nach dem Roman von Bengta Bischoff – Kamera: Ernst W. Kalinke – Schnitt: Susanne Paschen – Musik: Rolf Kühn – Darsteller: Siegfried Schürenberg, Bengta Bischoff, Gernot Endemann, Tilly Lauenstein, Eddi Arent u.v.a.

Dieser Beitrag wurde am Freitag, November 3rd, 2017 in den Kategorien Ältere Texte, André Malberg, Blog, Blogautoren, Deutschland im Film, Filmbesprechungen veröffentlicht. Sie können alle Kommentare zu diesem Beitrag über den RSS 2.0 Feed verfolgen. Sie können diesen Beitrag kommentieren, oder einen Trackback von ihrer eigenen Seite setzen.

Eine Antwort zu “Deutschland im Film: Das gelbe Haus am Pinnasberg (1970)”

  1. Filmforum Bremen » Das Bloggen der Anderen (06-11-17) on November 6th, 2017 at 18:01

    […] gibt es auch einen sehr schönen Beitrag auf Eskalierende Träume von André Malberg, der sich mit Alfred Vorhers Film „Das gelbe Haus am Pinnasberg“ […]

Kommentar hinzufügen