Deutschland im Film: Ein Mädchen aus Flandern (1956)




Von den Strapazen des Menschseins

Der Weltenbrand 1914 – den Ton hat Käutner wie immer schnell etabliert: der junge Leutnant Alexander Haller fragt seinen Kameraden Heinz, ob er sich denn nicht über die am Vorabend der großen Schlacht ausgeschenkte Erbsensuppe freue, schließlich handele es sich doch um seine Leibspeise. Schon, aber das habe eben auch etwas von der Henkersmahlzeit eines zum Tode Verurteilten, entgegnet dieser … und fällt kurz darauf. Die große, ruhmbringende Schlacht, sie entpuppt sich als die Schlacht bei Langemarck. Aber Heinz ist nicht allein: singt die ganze Kompanie auf dem Weg in die Schlacht noch aus vollen Kehlen „Deutschland über alles“, muss die Melodie bei der Rückkehr gottverlassen und bedrohlich auf der Tonspur vor sich hingeistern, die jungen Männer, sie sind nicht mehr, liegen niedergemacht unterm sich lichtenden Nebel des Krieges.

Generell der Himmel in diesem Film. Egal ob Alex, enttäuscht von der kraftmeierischen Grobschlächtigkeit um sich herum im „Offizierspuff“ eine traurige Ballade auf dem Klavier anstimmt und sich urplötzlich droben alles zuzieht oder die Sonne beim Anblick der Titelfigur freudig lacht – immer lässt er einen präzisen Blick in die Seelen der Protagonisten zu. Diese kleine Exkursion hat es dem aufmerksamen Leser sicher bereits verraten: ja, Alex hat das Scharmützel überlebt und mit ihm die zart blühende Liebe zu Angeline, einer jungen flämischen Magd, die ihm vor dem Aufbruch in die Dunkelheit ein Glas Cidre kredenzte. Mehr braucht es in dieser tristen Welt gar nicht. Ein Glas Cidre, ein schüchternes Lächeln und schon ist das warme Nest vor der allgegenwärtigen Eiseskälte gefunden.

Und so erzählt Käutner dann von dieser unmöglichen Liebe zweier Menschen, die sich in Friedenszeiten womöglich auf der Straße nicht mal aufgefallen wären (ein Vergleich zu Douglas Sirks düsterem Übermeisterwerk A Time to Love and a Time to Die drängt sich auf). Er, der Sohn eines Generals, ein Kind aus gutem Hause mit Verpflichtungen und einer tiefen Einsamkeit im Trott der immerfort zu bewahrenden Oberfläche; sie, die Tochter einer von den Deutschen in Löwen ermordeten Bauernfamilie, vergeblich versuchend die durchziehenden Soldaten dafür zu hassen, stets an ihrer aufrichtigen Mitmenschlichkeit scheiternd.

Ihre Beziehung wird zum einzigen Kontrapunkt immer und immer wieder vorgetragener, durch die Wirren des Krieges katalysierter Attitüden. Von Alex‘ in Altherrenzoten schwelgenden Vorgesetzten, die geifernd seine Rückkehr an die Front erwarten, um endlich die „Eroberung“ Angelines vollenden zu können (ein Vorgang, den sie offenkundig schon lange nicht mehr von der Schlacht unterscheiden können: „Wenn die Festung erstmal sturmreif geschossen ist!“); zu den Freunden des jungen Mädchens, die ihre Zuneigung und den Rang des Angebeteten zum geschickt verschleierten, revolutionären Munitionsschmuggel nutzen (und sie, von der Enttäuschten damit konfrontiert, kaltherzig abwimmeln: „Du bist doch sicher auch auf deine Kosten gekommen!“). Die Liebe, sie scheint tot zu sein, für immer in den Köpfen ersetzt durch kurzfristige Triebabfuhr.

Wie die meisten von Käutners Filmen ist auch dieser, insbesondere in Anbetracht des Produktionsjahres, ungewohnt direkt wenn Sex zur Sprache kommt. Doch im Gegensatz zu Käpt’n Bay Bay (1953) beispielsweise, seiner transgressiven Ode auf die Individualität in einer auf Vergessen genormten Welt, bleibt hier nur Düsternis. Das befreiende Element – es geht dem Sex hier, zwischen Freudenhaus und Front, völlig ab. Die einzige Ausnahme hält auch schon die Erkenntnis über die wahre Intensität der Gefühle bereit: Alex und Angeline lieben sich nach einem gemeinsam überlebten Bombenangriff erstmals zart in einer halb zerstörten Scheune. Am nächsten Morgen klappt sie das Amulett um seinen Hals auf und blickt einer anderen Frau ins Gesicht. Als er erwacht, entfleucht ihm nur verdattert: „Mutter hat das alles gesehen!?“. Beide lachen, er vergnügt, sie vor Erleichterung, es gibt keine Verlobte daheim.

Die Liebe, sie ist doch nicht tot, sie lebt, wie die Hoffnung auf eine andere Zukunft, im Individuum. Ein häufiges Motiv im Werk des aufrichtigsten Regisseurs, den das deutsche Kriegs- wie auch Nachkriegskino kannte. Und plötzlich sind die beiden auch gar nicht mehr so allein. Der letzte Akt lässt uns den belgischen Arzt Dr. Simon und seine Schwester, die Nachtclubbesitzerin Lysette kennenlernen, über die sich die Wege unserer Helden nach einer langen Trennung wiederfinden dürfen. Er musste tatsächlich zurück zur Front, sie badete als Unschuldige die zwischenzeitlich aufgeflogenen Aktivitäten der Schmuggler in einem Arbeitslager aus. Genau so wie auch andere proletarische Figuren – zum Beispiel die Mutter des eingangs erwähnten Heinz, welcher Alex auf Heimaturlaub einige versöhnliche, aber komplett erlogene Worte des Trostes spenden durfte – die Konsequenzen eines Krieges ausbaden müssen, der nicht der ihrige ist.

Obwohl mit dem Aussehen eines stereotypen Stummfilmschurken und einer außerweltlichen Manieriertheit bizarr aus jeder einzelnen seiner Szenen herausfallend, entpuppt sich der vornehme Doktor als unfreiwilliger Heiliger (in eigenen Worten: „Das Schlimmste, das man zu Lebzeiten über einen Mann sagen kann!“). In einem Film voller Entsprechungen und Kontraste ist seine Art sich zu geben nur eine Täuschung – ein Trugbild wie das zum Heldengedenken erfundene Hügelgrab des armen Heinz, von dessen einstiger Existenz in Wirklichkeit nur noch ein Haufen undefinierbarer Extremitäten in einem Bombenkrater zeugte. Fundamentalst unterscheidet er sich auch von Alex‘ Verwandt- wie Bekanntschaften in der Heimat: Sie glauben, die Bodenhaftung noch zu besitzen und sprechen dem nur knapp Zurückgekehrten – in einem Raum voll dekorierter Befehlshaber schmückt ihn nur die Binde um seinen verletzten Arm – doch glatt ihren Neid ob des Fronteinsatzes aus („Warum seid ihr denn dann nicht selbst dort!?“, möchte man ihnen an seiner statt ins Gesicht schreien!), er hingegen tut so als besäße er sie nicht, organisiert aber klammheimlich Hilfe für Bedrohte und Verurteilte.

Am Ende löst sich der Knoten auf, Alex‘ oft im Stillen zweifelnder Vater dankt ab wie Ludendorff. Die kleinen Figuren des Films spiegeln die großen der Wirklichkeit, la guerre est finie. Die Liebenden dürfen heiraten und liegen sich im letzten Shot in den Armen, vereint, wie das eiserne Kreuz und sein belgisches Pendant auf dem Müllhaufen zu ihren Füßen. Eine wunderschöne Utopie, die ergreifendste des deutschen Kinos!


Ein Mädchen aus Flandern – BRD 1956 – 101 Minuten – Regie: Helmut Käutner – Produktion: Herbert Uhlich – Drehbuch: Heinz Pauck, Helmut Käutner – Kamera: Friedl Behn-Grund – Schnitt: Anneliese Schönnenbeck – Musik: Bernhard Eichhorn – Darsteller: Nicole Berger, Maximilian Schell, Viktor de Kowa, Anneliese Römer, Friedrich Domin u.v.a.

Dieser Beitrag wurde am Montag, Juli 17th, 2017 in den Kategorien Ältere Texte, André Malberg, Blog, Blogautoren, Deutschland im Film, Filmbesprechungen veröffentlicht. Sie können alle Kommentare zu diesem Beitrag über den RSS 2.0 Feed verfolgen. Sie können diesen Beitrag kommentieren, oder einen Trackback von ihrer eigenen Seite setzen.

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