100 deutsche Lieblingsfilme #70: Mord und Totschlag (1967)
Bambule in der alten Bundesrepublik, doch Anita Pallenberg will nicht im Gefängnis trommeln und macht sich trotzig daran, ein in diesem Tonfall ganz sicher nicht zu verschleierndes Verbrechen zu vertuschen. Volker Schlöndorff, der mal rebellischeren Wind ins deutsche Kino wehte, als ihm im Allgemeinen nachgesagt wird, hilft ihr dabei, ist trotz Platz auf dem Regiestuhl nur willfähriges Instrument. So fasziniert ist sein Film von, so auf Anstoß wartend durch eine maximal unentschlossen agierende Frau, dass er sich kurzerhand ihren Macken angleicht.
Plötzliche Piroutten, Halbkreise, die Umkehr mitten im Schritt, ein Schlenkern, Taumeln, Irrlichtern – Pallenberg erobert jeden Raum, in den sie Fuß setzt, bezirzt die allzu offensichtlich mit ins Verderben laufenden Kerle … durch Unsicherheit. Hans Peter, Manfred, auch Volker. Sein Film weigert sich einzusehen, den Tatsachen ins Gesicht zu sehen, wie man so schön sagt, stürzt sich stattdessen Seite an Seite mit seinen Figuren in Weltüberschreitungen.
Im Grunde ist „Mord und Totschlag“ die freche Antwort auf eine Frage, die man im deutschen Filmwesen des ausgehenden cinéma de papa leider zu stellen versäumte: Wie würde ein bundesdeutscher Pippi-Langstrumpf-Film von einem dieser jungen Radikalen aussehen? Ganz einfach: Er folgt Anita und ihren zwei Tommys bei Akrobatik und Dehnübungen, beim Rollen und Herumtollen, dabei schlicht, wie man sich die trübe Wirklichkeit ganz nach Vorbild der halbwüchsigen, im Gesto dafür umso höher gewachsenen Philosophin aus Schweden umgestaltet.
Warum die Brücke entlang trotten, wenn man auch über ihre Begrenzung balancieren kann, warum die Treppe nehmen, wenn es der beherzte Satz auf einen Baumstumpf auch tut, warum überhaupt gehen, wo man doch auf Kabeltrommeln herumreisen kann? Nicht filmische Bewegung ist es, die das Geschehen lenkt, den Fluß des Filmes bestimmt, es sind die vielmehr die motorischen Ausfälligkeiten seiner Protagonisten und Brian Jones erratische Klänge klinken sich vergnügt ein.
Trocken-weltfremder Traumtanz, Überschwang, der sich den Rahmen Film untertan macht und doch mit ebensolcher Leichtigkeit aus diesem entspringt. Mehr noch als viele Kollegen und Kolleginnen, die diese Frage politisch, vor allem aber mit dem Intellekt, nicht den Beinen, angingen, erzählt Schlöndorff vom Überkommen der Verhältnisse, gleich des gesamten Hemmschuhs Realität, gegen die er filmischen Protest leistet.
„Mord und Totschlag“ gehört zu den seltenen Filmen, die sich völlig unmittelbar in das Wirken und die Präsenz seiner Darstellenden ergeben. Nur was von ihnen körperlich affirmiert wurde, existiert auch wirklich, ihr Gutdünken ist Naturgesetz. Die Situation bleibt verfahren, doch bietet das Ende keine Auflösung. In puppenhafter Unbewegtheit baumelt Werner Enkes so leicht nicht abzuschüttelnder Leichnam vom Haken, prominent am Himmel, über den Dingen, aber ohne die alltägliche Ruhe um ihn herum zu brechen, Anitas Mühen im Nachklapp zu entwerten. Es keimt noch Hoffnung: So lange du dich nicht rührst, kann dich auch keiner sehen. Erwachsene Kinder wissen eben, wie die Welt läuft.
Mord und Totschlag – BRD 1967 – 87 Minuten – Regie: Volker Schlöndorff – Produktion: Rob Houwer – Drehbuch: Arne Boyer, Niklas Frank, Volker Schlöndorff, Gregor von Rezzori – Kamera: Franz Rath – Schnitt: Claus von Boro – Musik: Brian Jones – Darsteller: Anita Pallenberg, Hans Peter Hallwachs, Manfred Fischbeck, Werner Enke, Angela Hillebrecht u.v.a.
[…] – Oha, der liegt hier auch noch eingepackt. Felix und André Malberg schreiben auf Eskalierende Träume unter dem Motto 100 deutsche Lieblingsfilme über Schlöndorffs „Mord und Totschlag“ von 1967. […]