100 deutsche Lieblingsfilme #73: Schlußakkord (1936)





In Schlußakkord erstrahlt beinahe jeder Schauspieler als Star, fast jeder bekommt seinen ‘Auftritt‘, einen Moment, in dem er glänzen darf; und wenn die Kamera auf dem jeweiligen Körper ruht, tritt die Figur aus dem Dunkel der Handlung und ihrer Zweckmäßigkeit heraus – scheint es, als drehe sich in diesem Moment alles nur um sie. Wie müssen diese Gesichter früher von den Kinoleinwänden geleuchtet haben, in silbrigen Nuancen schimmernd, von den Projektoren mit Kohlelampen durchschienen!

Verweilen wollte ich bei Else Boys, die den kleinen Jungen als Krankenschwester vorm Einschlafen zudeckte – eigentlich wollte ich gleich einen ganzen Film über ihr Leben sehen! Und einen über Theodor Loos als Professor Obereit, wie er die Kinderklinik leitet; über Walter Steinweg, den Silvester feiernden Eindringling und Zeugen bei Hannas schicksalhafter Verkündung; gemeinsam mit Erich Garvenberg ins Flugzeug steigen und nach Schweden fliegen; und mit Hannas musikvernarrtem, ärmlichen New Yorker Nachbarn Alexander Engel einen ganzen Tag verbringen. Geschichten über Geschichten, die sich kreuzen: Andeutungen, Versprechungen, Hoffnungen, Möglichkeiten, Schicksale, die sich immer wieder vor der Kamera offenbaren und an denen wir Anteil nehmen können.

Selbst über die Hauptfiguren erfährt man wenig, verbringt kaum Zeit mit Willy Birgels Erich Garvenberg oder Maria von Tasnadys Hanna Müller, ganz zu schweigen von Peter Bosse, der als beider Sohn immer nur vorübergehend, als Spielball der Erwachsenen, in Erscheinung tritt. Zwei Mal darf er allein sein: Einmal, in Großaufnahme, die Fische im Aquarium beobachtend und mit ihnen spielend, so wie er bisher beobachtet, wie mit ihm gespielt worden ist. Das andere Mal klettert er – sich selbst überlassen, nachdem er der Vergnügungssphäre der Erwachsenen verwiesen wurde – auf ein imposant-martialisches, einem Hakenkreuz ähnelndes Spielgerät, und bringt es in rasante Drehung.

Einzig Lil Dagover, als Garvenbergs Ehefrau Charlotte, schenkt Detlef Sierck viel Aufmerksamkeit und Verständnis, und sie darf auch durch expressives Schauspiel glänzen. Vielleicht, weil sie sterben muss – das Schneewittchen, das zunächst glaubte, ihren Prinzen gefunden zu haben. Erich und Hanna erscheinen dagegen introvertiert, manchmal sogar statuarisch, blühen nur in der Musik oder im Kontakt mit Freunden auf. Die Einstellungen sind die Gedanken des Regisseurs, die Ausleuchtung „seine Philosophie“ soll Detlef Sierck bezeigt haben.

Über Erichs und Hannas Innenleben erfahren wir hauptsächlich durch ihre scheinbar sparsame Gestik und Mimik, ihr selbstgenügsames In-der-Welt-Sein, ihre beseelte Anwesenheit, die durch Siercks Inszenierung jedoch eine unvergleichliche Stärke des Ausdrucks gewinnt – vor allem, wenn sie miteinander interagieren. Kein Kuss fällt zwischen diesem seltsamen Paar, kein dezidiertes Wort der Liebe richtet sich an den Partner. Keine eindeutigere Geste der Zuneigung als ein Erfassen der Hand ist zu sehen. Und doch erkennen wir ihre Hingabe, offenbart uns Sierck im Grunde alles, lässt er uns in einer Art an ihnen teilhaben, die einerseits das immer Offensichtliche betont und gleichzeitig vielsagend schweigt. Dabei sind ihre Dialoge von einer hintersinnigen Schlichtheit und geschliffenen Brillanz. Sierck lässt gerne die Masken fallen, ohne sie wieder aufzuheben. Der Reigen ist an einem Ende angelangt, und es muss etwas Neues beginnen, sollen die Figuren nicht zugrunde gehen.

Die Verbindung von Musik und Leben erfolgt – wie in den besten Musikerfilmen – durch das Ineinanderweben akzentuierter Kunstmomente mit scheinbar von ihnen losgelösten. Konkret wird das immer wieder gezeigt: Etwa in der seelischen Auferstehung der innerlich erloschenen Charlotte durch Beethovens 9. Sinfonie, wenn sie beispielsweise beim Hören im Bett ihren Körper emporstreckt; oder sinnlich erfassbar im Umblättern der Notenblätter ihres Nachbarn, wobei seine Finger das Papier streicheln und seine Blicke sich in die Partitur ergießen, absichtlich betont durch wagemutige Einstellungen aus seiner Subjektive. Sierck ist ein Meister der Montage, ein versierter Weber innerer wie äußerer Vorgänge, und das Ende ist, wie zuvor der ganze Film, eine offensichtliche Ins-Bild-Setzung der ihm zugrundeliegenden symbolischen Ordnung und ihrer Verquickung mit dem Imaginären, die Aufhebung des Realen durch seine Herausstellung: Das Leben ist tatsächlich Kunst, der ganze Film ein Oratorium.

Ähnlich faszinierend wie die Geschichten der einzelnen Protagonisten des Films waren auch die Biographien der Filmschaffenden. Detlef sollte über Umwege nach Amerika entschwinden, wo er in den nächsten 20 Jahren, an der Westküste der USA, zahlreiche ähnlich schöne Filme drehte wie zuvor in Deutschland, Frankreich und den Niederlanden. Maria ließ sich von Bruno Duday, dem Produzenten von Schlußakkord scheiden, heiratete den angehenden ungarischen Filmkünstler Géza von Radványi – den Bruder Sándor Márais, welcher zuvor mit der Tochter Lil Dagovers verheiratet gewesen war – und spielte seit dem gemeinsamen Umzug nach Ungarn zunächst Hauptrollen in den ersten Filmen von André De Toth, bevor ihr Mann sie in seinen Erstlingswerken besetzen konnte. Lil, 1887 in Indonesien geboren, war eine der wenigen Stummfilmstars, denen eine lange Laufbahn als Filmschauspielerin vergönnt war, und die immer wieder jüngere Figuren verkörpern durfte – ein Privileg, welches auch heute noch meist männlichen Berühmtheiten vorbehalten bleibt. Willy, dessen Filmkarriere damals gerade erst begonnen hatte, blieb in Deutschland, und wurde einer der Publikumslieblinge des deutschen Kinos.


Schlußakkord – Deutschland 1936 – 102 Minuten – Regie: Detlef Sierck – Produktion: Bruno Duday – Drehbuch: Kurt Heuser, Detlef Sierck – Kamera: Robert Baberske – Schnitt: Milo Harbich – Musik: Kurt Schröder – Darsteller: Lil Dagover, Willy Birgel, Maria von Tasnady, Maria Koppenhöfer, Theodor Loos, Peter Bosse, Albert Lippert, Kurt Meisel, Hella Graf, Erich Ponto, Paul Otto, Alexander Engel, Walter Werner, Eva Tinschmann, Carl Auen, Margarete Arndt-Ober, Erich Bartels, Johannes Bergfeldt, Hellmuth Bergmann, Werner Bernhardy, Else Boy, Ursula Deinert, Peter Elsholtz, Ly Eyk, Robert Forsch, Hildegard Friebel, Martha von Kossatzky, Heinz Könecke, Liselotte Köster, Kurt Lenz, Richard Ludwig, Odette Orsy, Hermann Pfeiffer, Ernst Sattler, Walter Steinweg, und viele andere

Dieser Beitrag wurde am Mittwoch, April 8th, 2020 in den Kategorien Ältere Texte, Blog, Blogautoren, Deutsche Lieblingsfilme, Filmbesprechungen, Sano veröffentlicht. Sie können alle Kommentare zu diesem Beitrag über den RSS 2.0 Feed verfolgen. Sie können diesen Beitrag kommentieren, oder einen Trackback von ihrer eigenen Seite setzen.

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