100 deutsche Lieblingsfilme #72: Phantasmagoria (2017)




    Und die Möwen, froh und heiter,
    kleckern öfter was auf’s Deck,
    doch der Moses nimmt den Schrubber
    und fegt alles wieder weg.
    Holahi, holaho, holahia, hia, hia, holaho!

    (Eine Seefahrt, die ist lustig – deutsches Volkslied)

Schaut man zwischendurch mal ein Stündchen Youtube, Internetpornografie oder vergleichbar kleinformatig produziertes Entertainment, fällt ein bemerkenswerter Widerspruch rasch ins Auge: Obwohl das Aufnahmeequipment in den letzten Jahrzehnten selbst verglichen mit analogen 16- oder gar 8mm-Kameras immer noch rasend handlicher, portabler, schlicht auch agiler wurde, unterliegt die Bildgestaltung dieser Formate nicht selten geradezu konservativen Erwägungen. Viel hermachen muss sie, Produktionswerte betonen in einer ruhigen, bloß nicht strauchelnden Kameraführung, die eher an schwer zu schulterndes 35mm-Arbeitsgerät erinnert, anstatt die Vorzüge der leichteren Handhabe wie einstmals experiemtierfreudig und von wortwörtlicher Erleichterung beflügelt auszuspielen.

Die Filme des interdisziplinär tätigen Cosmotropia de Xam nun entstehen auf einigen der handlichsten Aufnahmegeräte, die findigen Filmschaffenden derzeit zur Verfügung stehen und speziell der immerhin bereits aus einer mehr als zehn Filme umfassenden Weiterentwicklung des eigenen Stiles hervorgegangene „Phantasmagoria“ wurde – wie Besonders-Wertlos-Kurator Kai Krick zu berichten weiß – schlicht und ergreifend mittels der Linse eines iPhone 6 zu kinematografischem Leben erweckt. Ein entschieden digitaler Look, Überbelichtung, wechselnde Schärfegrade bilden die unauweichliche Konsequenz, die einmal nicht notdürftigen Kaschierungsversuchen unterworfen wird, sondern vielmehr selbst das Geschehen auf der Leinwand unterwirft.

Unnatürlich kränklich schaut alles aus, was die Radioreporterin Diane Cooper (Rachel Audrey) auf der Suche nach den Ursachen unspezifizierter Seltsamkeiten in Łódź so unter die Augen kommt. Matte Häuserfassaden, Brüche in Wänden, löchrige Schneepampe wohin die Füße reichen und immer wieder Pfützen, Rinnsale, Regenrinnen, die ihren Inhalt noch zusätzlich in die Matschewelt ergießen – alles deprimierend, alles schmucklos digital. Da wird’s einem ja übel. Dementsprechend verhält sich das Kameraauge wie eine marode Barke im rauen Seegang. Sie schaukelt auf die Figuren zu, wieder fort, von links nach rechts, schlingert, droht zu kentern und stößt Audrey im Kampfe um Fassung beinahe den Bug ins Gesicht.

Derart wasserbasiert zeigt sich die gesamte Narrationswelt. Es sei eine ominöse Verunreinigung des Wassers, die Exzentrik und Bedrohungspotenzial in den doch stets unsichtbar bleibenden Mitmenschen hervorkehre, werden Diane und ihre einzige Interviewpartnerin Valentina (Mari K.) nie zu versichern müde. „Phantasmagoria“ ist der seltene vornehmlich im Vagen bedrohliche Horrorfilm, dem eine relativ ausgeprägte Beredsamkeit zum Vorteile gereicht. Ganz einem metaphorischen Wasserfall gleich drängen Dianes Beobachtungen ins Dictaphone, solange, bis einen das inszenatorische Insistieren auf den Verfall vorbehaltlos glauben lässt, was die Figuren unentwegt nur behaupten. Dabei scheint unsere Hauptfigur eine ausgesprochen unzuverlässige Erzählerin zu sein, noch in der Pretitle-Sequenz erwarb sie als Durstlöscher für den Flug Persil gleich in der lang vorhaltenden Barkeeperflasche. Eingespieltes Sitcomgelächter – dieser Frau ist nicht zu traun.

Zwischen diesen Spannungspolen, beläufig gesäter Zweifel und unbedingt glauben müssen, bewegt sich die Inszenierung der ersten Filmhälfte bis zur zunehmenden Verfestigung des Glaubens. Dann wird klar, um was es geht. Staumauern – ein jeder Mensch trägt sie als Miniaturen im Kopfe mit sich herum. Wird der Druck der Fluten zu enorm, brechen sie und lassen den Kopf absaufen. Es ist ein Einreden, ein Anstacheln in den Wahn, dem sich Diane und Valentina in der Einsamkeit hingeben. Die Exorzismen, expressiven Bilderfluten und ziellos kreisend um die Kadrage herumschwimmenden Rahmen sind bloße Konsequenz, sich allmählich Bahnen brechend durch ausgeklügelte Schleusenbilder. Fischaugenobjektiv, eine vorwärts, später auch rückwärts absolvierte Fahrt durch edrückende Alleen, das iPhone, das endlich alle Vorstäuschung von Intimsphäre treiben lässt, um Mari K. in den zappendusteren Rachen zu steigen und hinter der Dunkelheit in der filmischen Vergangenheit auf der anderen Seite wieder aufzusteigen. Jede dieser visuellen Schockerfahrungen kommt einer narrativen Eskalationsstufe gleich, am Ende dieser Kette, dem kaum mehr zu sortierenden E- wie Affektoverkill des Finales, schließlich liegt der Hund begraben: Mentaler Niedergang, komplette Verflüssigung des Gedankenapparates. „Phantasmagoria“ ist einer der am schönsten in und aus Form übersetzenden Filme über das betuliche Abtauchen in die schwimmflügellose Paranoia der letzten Jahre.


Phantasmagoria – Deutschland, Polen, USA 2017 – 71 Minuten – Regie: Cosmotropia de Xam – Produktion: Cosmotropia de Xam – Drehbuch: Cosmotropia de Xam – Kamera: Cosmotropia de Xam – Schnitt: Cosmotropia de Xam – Musik: Mater Suspiria Vision – Darsteller: Rachel Audrey, Mari K.

Dieser Beitrag wurde am Freitag, Dezember 13th, 2019 in den Kategorien Ältere Texte, André Malberg, Blog, Blogautoren, Deutsche Lieblingsfilme, Filmbesprechungen veröffentlicht. Sie können alle Kommentare zu diesem Beitrag über den RSS 2.0 Feed verfolgen. Sie können diesen Beitrag kommentieren, oder einen Trackback von ihrer eigenen Seite setzen.

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