100 Deutsche Lieblingsfilme #49: Schleppzug M 17 (1933)



Schleppzug M 17

Der Film wirkt zunächst wie zusammengeschustert, zusammengestöpselt, zusammengeklaubt und zusammengeklebt, aus mehreren Filmen zusammengefügt, und von verschiedenen Händen zusammengesetzt. Alles funktioniert nach diesem Prinzip, der Zentripetalkraft des Kunstwerks, welches imstande ist sich vieles einzuverleiben und sich zu eigen zu machen. Unscharfe Aufnahmen, traumähnliche Ellipsen, im Nachhinein im Synchronstudio gezimmerte Szenenübergänge. Heterogene Elemente werden vermischt, der Film zerfasert, franst aus, birst an allen Ecken und Enden. So flüchtig vieles erscheint, und so rasch die Impressionen auch vorüberziehen, noch lieber verweilt die Kamera auf ausgesuchten Dingen, zeigt sie aus verschiedenen Perspektiven, und lässt manche Sequenz gerne auch laufen, einfach weiterlaufen, ihre Wirkung intensivieren, indem sie Momente streckt und sie innerhalb einer Plansequenz auf der Stelle treten lässt. Ein bisschen merkt man dann, wie das ist im Leben, wenn die Zeit stillsteht und nicht vergehen will, wenn es auf einmal stockt, der Augenblick uns im Stich lässt oder uns einsaugt und sich Gefühle zu dehnen scheinen bis der Raum sich zu dehnen scheint, Nahaufnahmen aus der Totale.

Im Hafen begegnen sich durch Zufall zwei Charaktere, zwei Prinzipien, zwei Klischees, auf den ersten, äußerlichen Blick zwei sehr gegensätzliche. Und zunächst sind es diese Unterschiede, die ihre Anziehung ausmachen, die sie befördern, als Imaginationsräume in die der jeweils Andere sich hineinzubewegen versucht. Doch der arme, griesgrämige, naive, plumpe, introvertierte, massige Alte vom Lande und die reiche, lebenshungrige, abgeklärte, mondäne, extrovertierte, zierliche Junge aus der Stadt sind sich ebenso ähnlich. Während die Wahrnehmung sich ändert und beide sich mehr und mehr als Gefangene ihres Bewusstseins erkennen, entfernen sie sich zunehmend von den auferlegten Rollen als aufrechter Familienvater und verschlagene Kriminelle, Seemann und Prostituierte, finden im Anderen auch sich selbst (einen großen, verschütt gegangenen Klumpen, vielleicht) und versuchen aus den Determinanten ihrer Umgebung auszubrechen, indem sie vor allem ihre Vergangenheit als Potential, als ein weißes, unbeschriebenes Blatt entdecken.

Dennoch: Die eigene Tätigkeit bestimmt und markiert die Figuren, selbst dann, wenn die Handlungen vom Film als Oberflächen enttarnt werden, als erratische, hilflose, schützende Maßnahmen. Wie beim Schälen einer Zwiebel, lässt uns der Film zusammen mit den Figuren an deren Entblätterung teilhaben, aber unter den einzelnen Schichten tritt nichts Konkretes hervor, was am Ende bleibt, sind die Schalen, das Entfernte, das weiterhin insistiert. Was freigelegt werden kann ist eben nicht ein Kern, den es nicht gibt, sondern die Wahrnehmung des Prozesses, als Entstehung, welche uns eine abstrakte Idee davon geben kann, wie wir zusammengesetzt sind, wie wir uns zusammensetzen, komprimierte Zeit, komprimierter Raum, und was bleibt, wenn wir auseinanderfallen.

Manches erinnert an Sternbergs blauen Engel, Waschnecks Carmen von St. Pauli, oder Vigos Atalante. An Filme wie La fille de l’eau oder Maldone. Vor allem aber weht ein Hauch von Jess Franco durch das deutsche Kino der 30er, ein Hauch von Freiheit, Faulheit, Lust, diese ganz eigene Mischung aus Ambition und Sorglosigkeit, Besessenheit und Entspannung, Fürsorge und Vernachlässigung. Der Film als Rumpelkammer, als Material, in dem lange gewühlt worden ist und in dem man sich bereitwillig ausgebreitet hat.

In einer Szene sitzt George betrunken allein am Tisch, ein schauspielerisches Kabinettstück a la Chaplin, mit Salz- und Pfefferstreuer als Fernglas. In einer anderen gibt es eine der schönsten Liebesszenen die ich kenne, lautlos, am Telefon, wenn Blicke sprechen und nicht Worte. Beide Szenen, plakativ und subtil zugleich, könnten so auch aus einem Stummfilm stammen. Der schiefe, krumme und abgehackte Ton, das Rauschen und Knacksen auf der Tonspur, künden von einer Verletzlichkeit und Fragilität, welche das Kino und seine Möglichkeiten wie selbstverständlich miteinschließen und auf die erzählte Geschichte beziehen.

Dieser Film ist der Triumph des Kinos, das Primat der Autonomie des Kunstwerks, auf sich selbst beharrend, aus seinem Sosein schöpfend. Die Widersprüchlichkeit bleibt dabei seine Stärke, indem er Divergentes in sich vereint, ohne darauf aus zu sein etwas vereinen zu wollen. Seine schlichte Uferlosigkeit, der monumentale Schlusspunkt, die konzentrierte und langgezogene Coda, seine Beiläufigkeit und Dauer, schemenhafte Gedanken, präzise Gefühle. Ein lebendiger Organismus, eine Filmkopie, gezeichnet von den bisherigen Strapazen durch alle Entwicklungsstadien hindurch, zusammengehalten mit Heftpflaster und Sicherheitsnadel, mit unmittelbarer Wucht und eingeschriebener Vergänglichkeit, ein Steinbruch aus Willen und Illusion, als Widerhall und Resonanzraum seiner Arbeit, der Einbildungskraft des Menschen.


Schleppzug M 17 – Deutschland 1933 – 78 Minuten – Regie: Heinrich George, Werner Hochbaum – Produktion: P. M. Film, Orbis-Film GmbH, Fundus GmbH – Drehbuch: Willy Döll – Kamera: Adolf Otto Weitzenberg – Schnitt: Ella Stein – Musik: Alex Stone, Will Meisel – Darsteller: Heinrich George, Betty Amann, Berta Drews, Joachim Streubel, Wilfried Seyferth, Maria Schanda, Robert Müller, Kurt Getke, Friedrich Ettel, Hans-Joachim Büttner, Walter Steiner, Alexander Jonas

Dieser Beitrag wurde am Mittwoch, Juli 2nd, 2014 in den Kategorien Blog, Blogautoren, Deutsche Lieblingsfilme, Filmbesprechungen, Sano veröffentlicht. Sie können alle Kommentare zu diesem Beitrag über den RSS 2.0 Feed verfolgen. Sie können diesen Beitrag kommentieren, oder einen Trackback von ihrer eigenen Seite setzen.

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