100 Deutsche Lieblingsfilme #48: Laß jucken, Kumpel 5 (1975)



Lass jucken, Kunpel 5

Für Alex P.

Wenn ein Film einen in die eigene Kindheit zurückversetzt und unschuldige Erinnerungen an unbeschwerte Freuden weckt, die sich damals wie selbstverständlich von einem Tag in den anderen ergossen, dann muss er schon etwas ganz Besonderes besitzen, dieses „gewisse Etwas“, welches frei von der Filmhandlung und ihren spezifischen Gegebenheiten eine Assoziationskette der Vertrautheit auszulösen vermag, während der man sich in jeder Situation des Films zu Hause fühlt, ohne sie je (mit)erlebt haben zu müssen. Ein bezaubernder Film ist das, ein Film voll reinem Wohlgefallen, in dem jeder Konflikt ein fröhliches Ende findet, sodass auch die Schurken, liebevoll gezeichnet und voller Verständnis betrachtet, als intergrierte Außenseiter eines harmonischen Ganzen, in ihrer Funktion als Katalysatoren selbst zum kleinen Glück der kleinen Leute beitragen können. Magische Filme sind das, Filme für einen Sonntagnachmittag, zu Hause oder im Dorfkino um die Ecke, mit Kakao und Keksen, Filme wie Pippi Langstrumpf (1969), oder „Der Zauberer von Oz“ (1939), Filme wie Laß jucken, Kumpel 5.

Zur Klarstellung sollte ich vielleicht beifügen, dass ich kein Kind der 70er bin, und durch diesen Film nicht mit sentimental verklärtem Blick über eine nostalgische Vergangeheit reminisziere, und ich den Film auch nicht als Kleinkind in Dauerschleife durch den Videorekorder gejagt oder meine Eltern jedesmal aufs Neue angebettelt habe ihn sehen zu dürfen, wenn er mal im Fernsehen lief. Nein, ich kannte ihn nicht und sah ihn vor Kurzem zum ersten Mal – und doch kommt es mir vor als ob… Jugoslawien in den 80ern.

Ein Wohnhaus. Gerti und Uwe sind gerade eingezogen und erwarten ein Kind, währenddessen die Nachbarn, zum Beispiel Helmut und Ilse, Bauchtänzerin Sevil, oder Kutter der Hausmeister, ebenfalls nicht untätig sind. Dazu gibt es noch den kleinen Thomas, dessen Mutter Gisela sich aus dem Fenster zu Tode gestürzt hat (wie heißt es in einem anderern Text so schön: Suizid aus Verzweiflung), Lola die Hure (die beste Freundin von Uwe) oder Renate, die aus einer Erziehungsanstalt geflohen ist, und in Uwes Bruder Klaus einen Ankerplatz sowie die große Liebe findet.

In Laß jucken, Kumpel 5 treffen beflügelte Sätze in atemraubenden Sequenzen des herrlichen Frohsinns auf kleine, glückselige Inseln, die im allgemeinen, munteren Trubel wie unbedarft durch die Meere treiben, und verbünden sich zu einem vielgestaltigen Strom der Emotionen, der selbst vor historischen Rekonstruktionen nicht halt macht, wenn sich in einem der schönsten Momente des Films Herr Kutter erinnert, wie in den 30er Jahren das freiwillig verordnete Schenken von Kindern an Adolf Hitler mit Tafel und Kreide auf den Punkt gebracht worden ist.

Nicht nur die zahlreichen wie aus dem Leben gegriffenen Szenen erinnern an eine detaillierte Milieustudie, nein, auch die wundersamen Dialoge sind wie aus dem Alltag entlaufen, und vermutlich auf der Parkbank vom Drehbuchautor mitgeschrieben worden. Beim Schauen reibt man sich fest die Augen, und fragt sich immer wieder erstaunt: Ist er das wirklich, der letzte große neorealistische Film? Und das Schönste: Selten haben sich die Fickszenen in einem Porno so harmonisch aus den vorangegangenen Situationen ergeben, selten passten sie in einem Film so selbstverständlich zum Rest des Geschehens. Hier wurde nichts reingeflickt oder abgewrungen, alles ist echt und bescheiden! Die Kontroverse, die sich Anfang der 90er im Zuge einer Schmierenkampagne über Herbert Fux und den Film ergoss („Ich und der liebe Gott, wir sehen alles!“), erscheint Angesichts des Gegenstands der Empörung noch weitaus absurder als sie es sowieso schon war.

Nach diesem Film tut es einem beinahe Leid um die verkannte Größe und die selten gewürdigte Karriere von Franz Marischka, denn in ihm schien bisweilen ein kinematographisches Genie zu schlummern, welches mit Hilfe eines gekonnten, gerne auch selbst verfassten Drehbuchs sowie eines talentierten Kameramannes wahre Kabinettstücke der Schauspielkunst auf die Leinwand zu bringen verstand, und dessen pulsierender inszenatorischer Zauberstab erst richtig zu glühen begann, wenn seine anarchische Phantasie die Grenzen des guten Geschmacks in tausend Stücke sprengen durfte. Laß jucken, Kumpel 5 ist eine Sternstunde des deutschen Films, gleichermaßen herzzerreißend wie liebevoll, und ich möchte wagen zu behaupten, hätten alle Eskalierenden Träumer dieses Kleinod bereits 2010 in ihren Händen gehalten, Alexander P. hätte mehr Gehör gefunden und die Hofbauer-Kontroverse wäre mit Sicherheit anders verlaufen (zumal Gunter Otto, Franz Marischka, und angeblich sogar Hans Henning Claer(!) zusammen mit Hofbauer-Regular Günther Heller für dessen Wenn die prallen Möpse hüpfen das Drehbuch verfasst haben). Ich kann es jedenfalls kaum noch erwarten demnächst im Gasthof der spritzigen Mädchen einzukehren.


Laß Jucken, Kumpel 5 – BRD 1975 – 87 Minuten – Regie: Franz Marischka – Produktion: Dynamic Film GmbH – Drehbuch: Gunter Otto, Franz Marischka – Kamera: Gunter Otto – Schnitt: Michael Laske – Musik: Dave Apfelbaum – Darsteller: Gisela Krauss, Carl-Heinz Kühn, Daniela Sander, Ludwig Vogl, Heide Albinsky, Marie-France Morel, Ralf Melvin, Herbert Fux, Peter Steiner, Johannes Buzalski, Christine Frank, Elvira Jentgens, Elke Boltenhagen, Michael Schiemainski, Jean Droze, Ernest Menzer, Gunter Wallace, Cornelia Schiemainski

Dieser Beitrag wurde am Dienstag, September 24th, 2013 in den Kategorien Blog, Blogautoren, Deutsche Lieblingsfilme, Filmbesprechungen, Sano veröffentlicht. Sie können alle Kommentare zu diesem Beitrag über den RSS 2.0 Feed verfolgen. Sie können diesen Beitrag kommentieren, oder einen Trackback von ihrer eigenen Seite setzen.

10 Antworten zu “100 Deutsche Lieblingsfilme #48: Laß jucken, Kumpel 5 (1975)”

  1. Schwanenmeister on September 25th, 2013 at 00:23

    Als ob ich bis zum Schluss geblieben wäre. Danke dafür. Und es passt perfekt zu der Versöhnungsgeste, die sich in meine Textüberschrift drüben eingeschlichen hat. 😉

  2. Sano Cestnik on September 25th, 2013 at 14:33

    Dein ganzer Text ist überraschend versöhnlich, ja beinahe schon euphorisch ausgefallen. Ich habe ihn mit verzücktem Erstaunen gelesen. Bisher hatte ich eher angenommen, du betrachtetest das Treiben mit einem fröhlichen und einem skeptischen Auge. 😀 Aber um die Präsentation obskure(re)n deutsches Kino haben sich die Jungs inzwischen in der Tat sehr verdient gemacht – und nicht nur auf den Kongressen. Und diesmal waren da für mich vor allem die letzten zwei Filme, Es war nicht die Nachtigall von Sigi Rothemund, und eben Lass jucken Kumpel 5 die zwei größten deutschsprachigen Offenbarungen. Es lohnt sich also immer, bis zum Schluss zu bleiben, da das Beste bekanntlich oft… 😉

  3. Schwanenmeister on September 26th, 2013 at 01:13

    Ich bin da wie der Graf von Luxemburg: entweder hui oder pfui. Aber als ich kurz darüber sinnierte, dass das Hofbauer-Kommando für mich persönlich eigentlich ein halbes Jahrzehnt zu spät kommt und mir dabei der Totalverriss gedanklich zu einer ekligen Nabelschau geriet, habe ich noch mal neu angesetzt. 😉

    Was man dir jedenfalls niemals absprechen können wird, ist deine ziemlich exklusive Filmhaltung, die mich dieses Jahr eventuell sogar noch den Rothemund und den Marischka nachholen lässt.

  4. Sano Cestnik on September 26th, 2013 at 10:03

    Einen Totalverriss zum Kommando würde ich aber äußerst gerne lesen. Von mir aus auch nur einen Verriss. 😉 Bisher findet man zu ihren Aktivitäten, soweit ich das überblicken kann (zumindest „offiziell“ bzw. öffentlich zugänglich) nur Lobeshymnen oder Verständnisversuche. Die Kritiker und potentiellen Nestbeschmutzer halten sich zumeist noch bedeckt und haben ihre konträre Meinung entweder vorläufig für sich behalten, oder warten mit bereits verfassten Stellungnahmen in der Schublade auf die passende Gelegenheit, um den Kommandanten und ihrer Sippschaft den endgültigen Garaus zu machen. Man wird sehen… Aber wie gesagt: Von mir aus immer her mit den Verrissen! 😀

    Ansonsten: Dazu sind sie ja alle da, die Texte auf Eskalierende Träume, dass man sich im Idealfall die Finger leckt, der Sabber von den Lefzen herabtropft, und man sich so verzehrt, nach den vielen vielen filmischen Schätzen, dass man irgendwann nicht mehr kann, der Versuchung erliegt, und sich endlich auch selbst von den bewusstseinserweiternden Facetten und einschlägigen Qualitäten unserer angepriesenen Ultrakunst verwöhnen lässt. Also bitte nicht exklusiv sondern immer schön inklusiv bei der Haltung und beim Geschmack bleiben. 😀 Zumindest sehe ich das so – aber das brauche ich dir ja nicht zu sagen. 😉

  5. Silvia Szymanski on September 26th, 2013 at 11:02

    Ich mag deinen Text und auch den Film. Wirst du auch etwas zu ES WAR NICHT DIE NACHTIGALL schreiben, Sano?

  6. Sano Cestnik on September 27th, 2013 at 23:43

    Ich hatte es vor, und würde mich auch freuen wenn bei einem Schreibversuch zum Rothemund immer noch etwas herauskommen würde. Aber die Zeit verrinnt, neue Filme und Eindrücke gesellen sich dazu, und die Zuversicht schwindet von Tag zu Tag. Noch ist aber nichts gegessen, und ich merke auch jetzt wie die Nachtigall mich lockt.
    Aber die viel wichtigere Frage scheint mir: Wann veröffentlichst du etwas zu diesem Kongresshighlight, Silvia? Vielleicht kann ich mich daraufhin von dir inspirieren lassen und mit leichterer Hand eine Replik verfassen. 😀

  7. Robert on September 29th, 2013 at 17:56

    Nein, Sano, ich will. Ich muss jetzt noch etwas arbeiten und werde es nicht sofort schaffen, aber über die Nachtigall werde ich schreiben und wenn ich es einfach illegal an deinen Artikel dranhängen muss. 🙂

  8. Sano Cestnik on September 30th, 2013 at 01:29

    Das ist doch super! Zwei Texte sind immer besser als einer. 😉
    Und ich lasse dir in diesem Fall gerne den Vortritt. 😀

  9. Silvia Szymanski on Oktober 2nd, 2013 at 14:48

    Ich hoffe, dass ich auch etwas über den Kongress hinkriege. Ich habe einen Artikel angelegt, aber es ist aus, hm, psychologischen Gründen schwierig diesmal 😉 … zum Glück schreiben über diesen Kongress aber schon so viele andere, dass es nicht schlimm wäre, wenn ich einmal aussetzen würde.

  10. Sano Cestnik on Oktober 3rd, 2013 at 22:58

    Aber Silvia, du darfst mich doch mit dem Kumpel nicht alleine lassen. Mir glaubt ja eh keiner, ich brauche deine sanftmütige Verstärkung!

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