100 Deutsche Lieblingsfilme #46: Haut für Haut (1961)



“I’m innocent
But the weight of the world is on my shoulders
I’m innocent
But the battles started are far from over“  (The Offspring)


Am Anfang: Ein Zug fährt durch eine karge Landschaft, auf ihm bewaffnete Soldaten, sie sind kampfbereit, auf dem Weg, vielleicht an die Front. Der Zug fährt in einen Tunnel, und in der nächsten Szene sind die Soldaten bereits besiegt, bezwungen, tot oder gefangengenommen. Die Kamera fängt scheinbar ikonische Momente ein, die Bilder wirken monumental, erinnern an Kompositionen aus der klassischen Historienmalerei.

Große Ereignisse glänzen jedoch durch ihre Abwesenheit. Wie zu Beginn, werden wir auch bis zum Ende nur das Davor oder Danach erleben, die Auswirkungen von Ereignissen, oder besser gesagt von den Ereignissen die allgemein als wichtig erachtet werden. Der Film ist voller Begegnungen, aber statt Gruppen, begegnen sich Individuen, nachdem der Starre Verbund von Schwarz und Weiß, von „Ihnen“ und „Uns“, sofort nach dem obigen Prolog zu zerfallen beginnt. Beschrieben wird ein Zerfallsprozess, ein Weg der Desillusionierung, das Abfallen aller erlernten Vorstellungen und Ideale, und der Verlust jeglichen Halts; auf Begegnungen folgen immer auch Abschiede und das Epos wird zum Kammerspiel. Konsequent daher das Ende, dass man so oder so interpretieren kann, positiv wie negativ. Für mich war es voller Hoffnungen, ein Anfang, endlich ein Neubeginn, nachdem alle Konventionen über Bord geworfen werden, obwohl sie auf der Oberfläche scheinbar gewahrt worden sind.

Überhaupt, die Klischees. Man könnte sagen, Robert Hosseins Film versinkt in ihnen, ja badet in ihnen und lässt keines aus. Doch wenn man genauer hinsieht, geht es ihm um die permanente Dekonstruktion des Vertrauten, und wenn es darauf ankommt, entscheidet sich die Regie in letzter Konsequenz immer für das Unerwartete, Unerhoffte, Unerwünschte, und Gegenläufige.

Am schönsten wird das für mich in der Liebesgeschichte durchexerziert, ein weiteres Klischee, da der Film auf seinem Weg vom Kollektiv zum Individuum den vorhersehbaren (Um)weg über das Liebespaar wählt. Doch ein Paar ist auch nur ein Kollektiv, ein Zusammenschluss von zwei Individuen, und von dieser reaktionären Ersatzlogik des „make love not war“, von der Revolutionierung der Revolution durch die Liebe, distanziert sich Haut für Haut ebenso wie er sie scheinbar mustergültig übererfüllt.

Das Massaker, das wir zu Beginn des Films nicht sehen, ist offensichtlich, ist „das historische Ereignis“, welches in den Köpfen aller Menschen wohnt und dessen es nicht bedarf. Der Film bedeutet uns: Wir werden das Wesentliche ausblenden um uns fortan dem Wesentlichen zu widmen. Überhaupt, was für ein evokatorischer deutscher Titel, der Parallelentwurf zum französischen „Der Geschmack der Gewalt“, gemeinsam auf die Parabel, den Konzeptfilm hinweisend, der als sinnliches Spektakel inszeniert wird. Mit dem Italowestern, mit dem Haut für Haut gerne in Verbindung gebracht wird, hat er meiner Meinung nach so viel oder so wenig zu tun wie Sergio Leones „Todesmelodie“.

Überhaupt, diese Paradoxa, diese Widersprüche und Fragen die platziert und aufgelöst werden, nur um durch weitere ersetzt zu werden, ohne jedoch auf eine trügerische Einheit des Schönen und Hässlichen, eine Philosophie des Relativismus oder Nihilismus hinaus zu wollen. Alles ist Folge, ist Konsequenz, ereignet sich durch und verweist niemals auf. Das Denken folgt dem Handeln und geht ihm nicht voraus.

Die Kopfgeburt als Versprechen, das Unbekannte als Konzept. Haut für Haut will nichts und niemandem Genüge tun, hat aber zehn aufeinanderfolgende Enden und verweist durch den Exzess der Verknappung, der Überspitzung, aber auch des Verweilens, auf eben jene Lücke, die entsteht, wenn wir einen Film über die Zukunft drehen wollen, indem wir der Essenz ausweichen ohne uns ihr entziehen zu können. Ich blicke immer aus meinem Gegenüber zurück, die Spiegelung ist unausweichlich. Die Leere gibt es nicht. Doch das Kino kann sie darstellen. Der Raum zwischen zwei Bildern ist unendlich und die Distanz die durch die Montage überwunden wird ist eine klaffende Wunde die sich niemals schließen lässt.


Le goût de la violence – Frankreich, BRD, Italien 1961 – 84 Minuten – Regie: Robert Hossein – Produktion: Walter Ulbrich – Drehbuch: Robert Hossein, Louis Martin, Claude Desailly – Kamera: Jacques Robin – Schnitt: Boris Lewin – Musik: André Hossein – Darsteller: Robert Hossein, Giovanna Ralli, Mario Adorf, Hans H. Neubert, Madeleine Robinson, Dany Jacquet

Dieser Beitrag wurde am Sonntag, März 24th, 2013 in den Kategorien Blog, Blogautoren, Deutsche Lieblingsfilme, Filmbesprechungen, Sano veröffentlicht. Sie können alle Kommentare zu diesem Beitrag über den RSS 2.0 Feed verfolgen. Sie können diesen Beitrag kommentieren, oder einen Trackback von ihrer eigenen Seite setzen.

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