100 Deutsche Lieblingsfilme #36: Mädchen beim Frauenarzt (1971)






MÄDCHEN BEIM FRAUENARZT ist laut „Video Watchdog“-Herausgeber Tim Lucas Ernst Hofbauers „most conspicuous grab for auteur status“. Dem Hofbauer-Kommando ist diese in Ansätzen recht verständnisvolle Behauptung nicht grundsätzlich zuwider – wären da doch nur nicht mindestens zehn weitere chef-d’œuvres, die sich in unserer jungen Vergangenheit dieser doch allzu übervorsichtigen Feststellung bereits als ebenso würdig erwiesen! – denn bei diesem brenzligen Panorama zarter weiblicher Exempel, deren Fälle „geradezu die Norm“ darstellen, dürfte es sich wohl um den experimentierfreundigsten und formal aufregendsten (zumindest im weitesten Sinne:) Report-Film unseres großen „Ernst des Lebens“ handeln: Von der meisterhaft voyeuristisch verdichteten, den Film eine durchdringend lustbehaftete Aura Ammoniakgetränkter Anteilnahme ausdünsten lassenden Erzählperspektive (der Gynäkologe ist unsichtbarer Off-Erzähler, durch dessen Augen, also durchs konsequent subjektive Kameraauge, das herzerweichende Sexual-Folgegeschehen erfasst wird) ist es nur ein kleiner Sprung zu surrealen Annäherungstableaus in Zeitlupe und Veruschka-Ästhetik, einer terrorerfüllt nach PSYCHO-Vorbild montierten Defloration in einem Bahnhof bis hin zu einer frenetisch durchschwenkten und -zoomten, wilden Hatz auf heißen Harley-Öfen!

Nun – bisweilen beschlich uns wohl ein Gefühl der Mulmigkeit, denn die von uns mit genießerisch ausgeseufzter Hingabe goutierte Fassung der um die Erhaltung deutscher Filmkultur belobigenswert bemühten Institution „Alpenglühen TV“ zeigte den Film tatsächlich in der ganzen, fleischigen Pracht der unzensierten Version, uterale Notbohrungen und überaus tiefe Einblicke in schmerzgeplagte Lustkanäle inklusive! Auch der Gestus des sachlichen Gynäkologen verunsicherte mit unberechenbaren Wandlungen des seriösen Temperaments: mal verständnisvolle Schulter für die minderjährigen Patientinnen, auch einfühlsamer Nachhilfelehrer geharnischter Eltern, dann väterlicher Moralist über dem oberlippenbeißenden Antlitz der Mädchen, gestrenger Anstandsonkel für die dummgeilen Freunde, schließlich aber auch chauvinistischer Pädagoge seiner Zeit, der einem Vergewaltigungsopfer – es waren Biker, vier nacheinander, an einem See, statt Baden, natürlich – rät, junge Männer nicht unnötig zu provozieren, übermütig, wie sie doch sind… man versteht ihn nicht recht, aber Hauptsache, die unglücklichen jungen Dinger werden verstanden, denn das haben sie bei all dem Mief, der Empörung, den paarungswütigen Rüden, den Schwangerschaften und Geschlechtskrankheiten, der Tristesse und dem Tripper verdammt nochmal auch nötig und verdient! Ein klein wenig Gerechtigkeit für Frauen, die noch keine sind.

Das Leid beginnt im Großen und verästelt sich ins Kleine: Ein nettes Mädchen namens Renate wird arg geplagt von Ängsten über ihren etwas zaghaft knospenden Busen und findet Momente des Vergessens nur im schäkernden Umhertollen im Park, mit dem niedlichen Rudel von Möpsen, dass ihr anfangs noch empathisch scheinender Freund sich hält. Auf der Lagerstatt erweist er sich jedoch als mieser Rüpel und lacht in einer Weise über die grünen Äpfel, dass sein psychedelisch verkleidetes Apartement erzittert! Sodann verkleckert er beim vermeintlich aussöhnenden Eisessen tags darauf ganz versehentlich einen großen Spritzer Schlagsahne in ein tiefes und wogendes Dekolleté. Gedemütigt von Sahneschmaus und Eiskugeln, sucht Renate das Weite.
Ja, auch in solcher Art unverstandene Maid sucht Trost und Rat in unserer, dank Kamera unserer, Praxis. Und so wird dieser beispiellos an die sachliche Urteilskraft des progressiven Observanten appellierende Bilderreigen flügge werdender Unschuld schließlich noch und doch zum interaktiven Reflexionsraum, der von einem großen Summen erfüllt ist – Summen, das da inmitten des Bildergemenges, zwischen den Zeilen (und einmal nicht aus dem Off!) fragt: Wie urteilen Sie, meine Damen und Herren? Ist es denn, ja tatsächlich, überhaupt erforderlich zu urteilen? Verbieten komplexe Situationen wie diese nicht jedwedes Urteil? Tatsächlich: Ein Film, der zum Nachdenken anregt.

Die Hofbauer-Kommandanten, von jeher entschiedene Gegner von Verurteilungen, ganz besonders moralischer, seufzten erleichtert auf. Selbstverständlich: keines dieser bezaubernden, sensiblen und in der Tiefe ihres Herzens immer noch so unbefleckten Geschöpfe hatte Schuld auf sich geladen. Schuldig war nur einer: ihr in ständiger Bewegung und cineastischer Manie suchender und findender „metteur en scene“ Ernst Hofbauer. Angeklagt der gezielten, stilsicheren Herbeiführung von Ultrakunst durch schweren Missbrauch von Kolportage und Sleaze.


MÄDCHEN BEIM FRAUENARZT – BRD 1971 – 80 Minuten – GynoVision
Regie: Ernst Hofbauer – Buch: Wolf Romberg – Produktion: Luggi Waldleitner – Kamera: Klaus Werner – Schnitt: Ingeborg Taschner – Musik: Erwin Halletz
Darsteller: Monika Dahlberg, Christine Schuberth, Brigitte Harrer, Evelyne Traeger, Marion Abt, Barbara Eickhoff, Trautl Drechsler, Jutta Speidel, Christine Reitmeyer, Brigitte Raimers, Ulrich Beiger, Rolf Castell, Ralph Persson, Stephan Kayser, Thomas Fischer, Peter Heinrich, Michael von Harbach, Sascha Hehn, Gernot Möhner, Stefan Saifert, Christine Grandmontagne

Dieser Beitrag wurde am Freitag, März 9th, 2012 in den Kategorien Blog, Christoph, Das Hofbauer-Kommando, Deutsche Lieblingsfilme, Filmbesprechungen veröffentlicht. Sie können alle Kommentare zu diesem Beitrag über den RSS 2.0 Feed verfolgen. Sie können diesen Beitrag kommentieren, oder einen Trackback von ihrer eigenen Seite setzen.

Kommentar hinzufügen