Zeitnah gesehen: Der Fall Collini (2019)
Fabrizio Collini (Franco Nero) schreitet stoischen Schrittes durch einen trotz Cinemascope ins Erdrückende verengten Hotelkorridor, die Lichtverhältnisse durch die eigene, von hinten angestrahlten Umrisse ein wenig weiter abdimmend, ganz einem gedungenen Killer aus Hollywoods Thrillerschule gleich. Plötzlicher Schnitt zu dem Mann, der ihn später, da ist er den vorgezeichneten Weg des Mörders längst zu Ende gegangen, vor Gericht verteidigen wird – Jungjurist Caspar Leinen (Elyas M’Barek). Agil graziöse Schlagübungen aneinanderstrickend testet dieser seine Grenzen in einer nach allen Seiten offenen Halbnahen aus, bemerkt dabei gar nicht, wie sich sich von einem Moment zum anderen die Einstellungsgröße verschiebt. Von der Raumdecke aus wirkt das den Boxer so ermächtigende Ringviereck nun winzig, Leinen ist im wahrsten Sinne des Wortes eingefangen worden in einer Supertotalen. Collini indes hat es nach der Tat in die Hotellobby verschlagen, wo er sich in einem bequemen Sessel niederlässt. Cool, calm, collected, würde Mick Jagger das wohl nennen, befreit – man ahnt es lange bevor der Film sich ins Narrative stürzt – von einer Last in einer weiteren halbnahen Aufnahme, die das Treiben um ihn herum schlicht ausblendet.
Die Spannungskinoanwandlungen seiner Eröffnungssequenz mag Marco Kreuzpaintners „Der Fall Collini“ umgehend wieder ablegen, plötzliche Er- und Entmächtigungen durch räumliche Ausdehnung wie Verknappung jedoch, die bleiben. Gleich zweifach wird der existentielle Ringkampf als Motiv wiederkehren: Nachdem Leinen seiner Ziehschwester (Alexandra Maria Lara) die angenommene Pflichtverteidigung des Mannes gesteht, der beider liebendes Familienoberhaupt auslöschte und unmittelbar an den – dankenswerterweise indefinit in der Schwebe belassenen – Bruch mit der Ersatzfamilie gebunden. Dieses Bild ist aber mehr als die bloße Metapher auf einen Mann, der sich gegen alle Widrigkeiten behaupten muss. In einem der bemerkenswertesten Fälle waghalsiger gegen-den-Strich-Besetzung jüngerer deutscher Filmgeschichte gemahnt Elyas M’Barek ausgerechnet an jenen Mann, dessen gleichfalls maskulin-tatkräftiger Leinwandpersona vor mehr als 50 Jahren eine ähnlich innige Publikumsliebe beschieden war. Joachim Fuchsberger. Spezifischer Joachim Fuchsberger in Alfred Vohrers artverwandtem Entnazifizierungskrimi „Sieben Tage Frist“ (1969). Wie der Internatslehrer Hendriks ist Caspar Leinen eine Figur, die allein der Profession wegen im hiesigen Kino unter akkutem Autoritätsverdacht stehen muss, doch bleibt von diesem bei genauerer Betrachtung bloß Schall und Rauch. Hier wie dort ist der in Sachen Ermittlungsarbeit noch allein Handlungsbemächtigte ab dem Moment auf den Seitenrang verwiesen, der den kraft der eigenen Hände Arbeit erst richtig ins Rutschen geratenen Schlamm der Vergangenheit endgültig losbrechen lässt. „Sieben Tage Frist“ und „Der Fall Collini“, sie sind beide zuallererst Filme über das die eigene Rollenzuweisung in der Welt ins Wanken bringende Gefühl der Ohnmacht, welches sich der allumfassenden Erkenntnis über die sagenhaften Abgründe eines als Mensch, viel mehr jedoch als unbedingtes Vorbild bewunderten Übervaters unumgänglich anschließen muss. Mehr als ein Drittel der Laufzeit lässt sich Kreuzpaintner allein für diesen Kampf Zeit, zeigt einen Elyas M’Barek, der so reduziert wie nie zuvor spielt und sich für lange Strecken ganz den – Mann wie Frau – ungleich viriler auftretenden Co-Stars als Spielball unterordnet. Eine mutige Darbietung, die einmal mehr belegt, dass die derzeit beispiellose Kassenträchtigkeit des begehrtesten deutschen Jungschauspielers nicht in seiner Schönheit allein begründet sein kann. Vielleicht, ganz passend zu den sportlichen Intermezzi, auch ein Befreiungsschlag?
Was M’Barek unter die Haut geht, perlt bis zu seiner späten Häutung an Franco Nero ab, brütend durch alles hinwegstarrend liest er Gesichtern statt die Wände aus. Immer schon ein auch jenseits umfangreicher Dialogbücher ausdrucksstarker Mime, wagt er sich hier für den überwiegenden Teil seiner Leinwandzeit geradewegs in das Territorium stummer Beredtsamkeit, in dem der gleichfalls eingeknastete Klaus Kinski schon manisch Fliegen von der Wand aß („Count Dracula“ [Jesús Franco, 1969]). Keine Zellenwand könne es vermögen, diese Naturgewalt zu halten – möchte man meinen. Wenn er nur wollte. Sein Kerker ist von der tristen Variante – braun-graues Stein-Beton-Einerlei frei von Annehmlichkeiten, beengend, unwürdig und doch filmt ihn Jakub Bejnarowicz beinahe freischwebend inmitten des Raums, seelenruhig Atemzüge nehmend, die Züge im Stolz ausgehärtet. Kameramann und Regisseur finden Bilder zu Einsamkeit und Befreiung, die das deutsche Kino so schon lange nicht mehr gesehen hat, drehen bereits etablierte Bezüge in kluger Variation mehrmals um. Auch M’Barek wird häufig als Bezugspunkt in einem an Leerstellen reichen Kadragenraum inszeniert, egal ob von vorne oder von hinten, die Kamera isoliert ihn mit steigendem Einsatz für seinen verlorenen Klienten zunehmend von den Menschen um ihn herum. Einmal steht er uns gar frech im Sichtfeld rum, ohnehin schon ganz nah könnten wir uns in der Pathologie mühelos an ihn heranschleichen, die Hand aufmunternd auf die Schulter legen, während die Doktoren seitlich um sein Einzugsfeld sortiert für ihn selbst mit Gummiarmen außer Reichweite wären. Wie schon in der Hotellobby des Auftaktes geht der Film eine Komplizenschaft mit dem Zuschauer ein, positioniert Figuren so, dass wir ihnen Glauben schenken wollen, bevor die Textebene ihr Anliegen überhaupt als gerecht outet.
Generell die elegante Ökonomie der Inszenierung, die Kühnheit Manfred Zapatkas präzise Eleganz im Zungenschlag lateinischer Deklinationsübungen in einer zeitebenensprengenden Montage gleich neben die kühle Präzision der Pathologen beim finalen Abwiegen seiner Innereien zu stellen. So gut wie alle Fallstricke eines redseligen Gerichtsfilmes umschifft Kreuzpaintner meisterlich; knappe zwei Stunden wirken wie 90 Minuten Regellaufzeit, den Text einiger zu wälzender Akten lässt er einfach beiläufig an den Wänden um die Nachforschenden herrunterlaufen, anstatt sie ihnen oder einem Voice-Over-Erzähler in den Mund zu legen. Und immer wieder selbstbewusste Aussparungen: M’Barek lässt sich von einer Pizzalieferantin mit nach Hause nehmen, sein mustergültig gebügeltes Hemd und ihre Netzstrümpfe auf Punkerboots deponieren den Geschmack der Problematisierung schon auf der Zunge, Klassenkonflikt, Sozialdebatten gleich müssen sie sich materialisieren – dann wird einfach zum nächsten Arbeitsmorgen geschnitten. Selbes Spiel bei der Antwortsuche in Collinis Heimat, ein Jugendfreund öffnet die Türe zum NS-Smalltalk und schon fegt der Ermittler zurück in die heimischen Gerichtsgänge. Im deutschen Gegenwartskino mit seinem ausgedehnten Bergbau in Leben und Entwicklungslauf jeder tendenziell unwichtigen Figur, setzt Kreuzpaintner auf elliptisches Erzählen – ausgerechnet bei einer Romanverfilmung. Auch die Verhandlungen selbst, seit jeher größtes Hindernis im Weg eines visuell erzählenden Filmemachers, regiert ein konsequentes An- und Ausknipsen der Gesichter – nur wirklich Involvierte befinden sich scharf im Fokus, der teilweise im gleichen Bild noch wechseln darf, die Reaktionen aller anderen und Ausläufer der zahlreichen Rückblenden auf der Tonspur. Es ist nicht das große Bild der Vorlage, das interessiert, sondern das Seelenleben einzelner Akteure.
Und doch kommt man um das immerzu im Hintergrund lauernde dritte Reich und Wirtschaftswunderdeutschland freilich nicht herum. Beide existieren als filmische Paralleluniversen, in die durch fließende Übergangstore mühelos eingetaucht wird. Passiert Elyas M’Barek den Türrahmen der vaterhäuslichen Bibliothek findet er sich sogleich um Jahrzehnte verjüngt in ihrer BRD-Inkarnation wieder. Gekleidet in die bläulichen Töne alten Agfa-Gevaert-Materials (ob authentisches Filmmaterial oder eine geschmackvolle Emulation mit nur zaghaft eingefügten Staubartefakten vorliegt, lässt sich anhand des gleichmachenden DCPs leider nicht so recht beantworten) heben sich diese Kindheitserinnerungen stets als wohlige Verklärung von ihrem vielmehr in sattem Schwarz badenden Rahmen ab. Der völlige Verzicht darauf, Mordopfer Jean-Baptiste Meyer (Zapatka) nach seiner posthumen Enttarnung als Kriegsverbrecher auch in diesen mit reichlich erklärendem Charakterschwächenballast zu behängen, ist das deutlichste Warnschild, dass es hier nicht um die Gesellschaft als Ganzes, sondern zwei auf verschiedene Arten am Verlust- und Einsamkeitsschmerz erkrankte Menschen geht. Die unvermeidlichen Kriegserinnerungen Collinis schließlich verzichten auf auf allzu artifiziellen Schmuck, sind streng auf wahrheitstiftender Einheit mit den Tönen der narrativen Gegenwart, bleiben so, noch größerer zeitlicher Distanz zum Trotze, als gegenwärtig verortet. Visuelle Konzepte wie diese machen es abermals deutlich: Marco Kreuzpaintners Kino ist die einige Jahre zu spät aufgeschlagene deutsche Variante des französichen cinéma du look, dessen Vertreter wie Luc Besson oder Leos Carrax bevorzugt und sich der damit einhergehenden Missverständnisse bewusst geschniegelte Oberflächen für Inhalte sprechen ließen. Er entkernt das starre Korsett Ferdinand von Schirachs Romanvorlage und erkundet an den fasrigen Rändern entlang die fast systemimmanenten Außenseiterrolle des verteidigenden Juristen, das Gefühlschaos des in Ungerechtigkeit Sozialisierten. Fixierungen auf ewigliches Händchenhalten unter den Feigenblatt „erzählerische Logik“, juristische Genauigkeit und so manche Auflösung werden außen vor gelassen wie das Kamerauge, das den in veritablen Hektolitern drängenden Starkregen und die ballernde Sonnenflut Italiens auf Leinens Autoscheibe nicht so recht durchblicken kann.„Der Fall Collini“ ist keine bloße Adaption, er ist eine Übersetzung zwischen zwei grundverschiedenen Medien, wie man sie gerne öfters wieder aus Deutschland sehen würde.
Der Fall Collini – Deutschland 2019 – 118 Minuten – Regie: Marco Kreuzpaintner – Produktion: Marcel Hartges, Martin Moszkowicz, Christoph Müller, Kerstin Schmidbauer – Drehbuch: Robert Gold, Jens-Frederik Otto, Christian Zübert, nach dem gleichnamigen Roman von Ferdinand von Schirach – Kamera: Jakub Bejnarowicz – Schnitt: Johannes Hubrich – Musik: Ben Lukas Boysen – Darsteller: Elyas M’Barek, Franco Nero, Alexandra Maria Lara, Manfred Zapatka, Pia Stutzenstein u.v.a.
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