Sleeping Johnny…



Sleep

John Giorno, sleeping in SLEEP (1963)

„Schlafe, mein Johnny, schlaf ein…“ – So womöglich könnte die einzige Regieanweisung Warhols bei den Dreharbeiten zu SLEEP geheißen haben, die er 1963 seinem Darsteller John Giorno mit auf den Weg gegeben, ihm mit seiner brüchigen, dennoch sanften Stimme ins Ohr gesäuselt hat… Und wer heute (Donnerstag, 12.12.) abend Zeit hat, den GANZEN Abend Zeit hat, kann sich das Ergebnis, dieses über einen Zeitraum von mehreren Wochen (in mehreren „Sleeping Sessions“) entstandene „masterpiece of quiescence“ (Stephen Koch) im Filmmuseum Frankfurt auf der Leinwand ansehen…

Es werden zwar Snacks gereicht, um die sechs Stunden Film (ach, hatte ich noch gar nicht erwähnt? Sorry!) nicht zur Hungerkur werden zu lassen und den in das Reich der Träume entrückten, dort oben anwesenden, gleichwohl abwesenden Giorno durch lautes Knurren der Mägen in seinem Schlummer zu stören; befürchte aber, dass doch allzu viel Pietät Einzug halten wird und nur leise und wohlerzogen an der Salzstange geknabbert wird, um die andachtsvolle Ehrfurcht vor der Kunst (die immer noch in zu vielen Museen gepflegt wird, die damit wohl den einst sakralen Charakter/Wert der Werke zu reinstallieren trachten) nicht zu stören und als Banause oder Barbar abgestempelt und ob dieser vermeintlichen (!) Missachtung mit der Verachtung der anderen gestraft zu werden.

Über die ersten Vorführungen vor fast exakt 50 Jahren schreibt oben bereits zitierter Stephen Koch:

„One can imagine that hall of 1963. It is small and narrow. Though the tickets have been sold out, there are people in only half the seats. In the lobby, clusters of people stand chatting, smoking, somebody abstractedly tearing the rim of a paper take-out coffe cup he’s using as an ashtray. A man and a woman step to the door of the screening room and stand there a few minutes staring. Then they return for more conversation. Somebody douses a cigarette, cracks a joke, and returns to his seat in the hall. He will be there for another half-an-hour. People come and go.“

Einschub: Nun, soweit (heute) bekannt ist, fand die Uraufführung im Januar 1964 im Gramercy Arts Theatre statt, 1963 war das Theater aber bereits (übergangsweise) Spielstätte der Film-Makers‘ Cooperative. Dort wurden u.a. Scorpio Rising, Twice A Man, Chumlum, Kiss und Flaming Creatures uraufgeführt. Aber zurück zu SLEEP. Der Legende nach hat Jonas Mekas den Meister himself am Abend der zweiten Vorführung mit einem Seil an einen Stuhl gebunden. Als er irgendwann, nach zwei, drei Stunden seinen Platz verließ um nach Andy zu sehen, fand Mekas nur noch das Seil vor, das lose auf dem Stuhl lag…

SO stelle ich mir ein adäquates Screening vor, also im Grunde eher in der Art eines, nun ja, warum nicht: eines Hofbauer-Kongresses (was jetzt nicht heißen soll, dass es dort Usus wäre, Menschen an Stühle zu fesseln – Gott behüte! Es sei denn auf deren Wunsch, um beim Wegschlummern nicht unsanft vom Stuhl respektive aus dem Sessel zu fallen.). Denn nur so kann sich wohl jener eigentümliche Effekt einstellen, den Stephen Koch folgendermaßen beschreibt:

„The film remains on the screen always. Its time is utterly dissociated from that of the audience: The image glows up there, stately and independent. Its cinematic isolation on the screen exerts a bizarre fascination beyond its immediate pictorial allure. Even if one only glances at the image from time to time, it plunges one into a cinematic profundity; in a single stroke, that image effects a complete transformation of all the temporal modes ordinarily associated with looking at a movie. The knot of attention is untied, and its strands are laid out anew. […] as the minutes tick on, the work seems to insist upon its hallucinated literal time as few other films ever do. […]
Sleep has its own temporal pace, of course, and a very different one from our own. But we slip in and out of that time at will. It is a meditative time, erotic, almost necrophilic, while ours is – well, our time is our time, and perhaps the clock’s.“

Wenn es mit der Behauptung seine Richtigkeit hat, dass sich SLEEP tatsächlich lediglich aus wenig mehr als einer Handvoll Einstellungen (16mm-Filmrollen von jeweils knapp drei Minuten Länge, jeweils aus einer anderen Perspektive aufgenommen) zusammensetzt, die verlangsamt abgespielt und wiederholt (also gesampelt und geloopt) werden, ist womöglich in diesem kurzen Ausschnitt in nuce bereits der gesamte Film enthalten:

Allerdings legt der Ausschnitt doch nahe, dass es durchaus mehr als nur ein paar, stetig wiederholte Aufnahmen sind… Ob Warhol allerdings tatsächlich, wenn er technisch dazu in der Lage gewesen wäre, ähnlich wie HIER den schlummernden Giorno (quasi) in Echtzeit festgehalten hätte (anstatt „nur“ mit den Mitteln der Montage diesen Eindruck zu erwecken), lässt sich nicht so ohne Weiteres beantworten (zumindest wird kolportiert, dass Andy nicht selten die Kamera einfach laufen ließ und weg ging – oder gar nicht erst am „Set“ – soweit man die notdürftig zu einem solchen umfunktionierte Factory so nennen kann – zugegen war). Es wäre jedoch (zwangsläufig) ein anderer Film geworden.

(Zitate entnommen aus: Stephen Koch: Stargazer. The Life, World and Films of Andy Warhol, London/New York 2002, S. 35ff. Erstmals 1973 mit dem Untertitel „Andy Warhol’s World and his Films“ publiziert.)

Veranstaltungsseite:
Nightwatching. Warhols Film SLEEP oder Über die ästhetische und mediale Grenze zwischen Stillstand und Bewegung

 

P.S.: Womöglich stellt sich eine durchaus vergleichbare Seherfahrung ein, wenn man einfach nur sechs Stunden obiges Bild (übernommen von der Webseite des Filmmuseums) anstarrt… mal wieder wegsieht, es nur in den Augenwinkeln behält… zwischendrin, auf eine Zigarette auf den Balkon verschwindet… oder aufs Klo geht… wer weiß…

 

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Ein (leicht abgewandelter) Hinweis-Text von unserem lieben Freund Marco Histinessi, der ihn zuvor auf „Gesichtsbuch“ gepostet hatte und sich freundlicherweise mit dem Gedanken anfreunden konnte, ihn hier nochmals publiziert zu sehen. 

Dieser Beitrag wurde am Donnerstag, Dezember 12th, 2013 in den Kategorien Ältere Texte, Blog, Blogautoren, Christian Moises, Hinweise veröffentlicht. Sie können alle Kommentare zu diesem Beitrag über den RSS 2.0 Feed verfolgen. Sie können diesen Beitrag kommentieren, oder einen Trackback von ihrer eigenen Seite setzen.

4 Antworten zu “Sleeping Johnny…”

  1. Manfred Polak on Dezember 13th, 2013 at 01:04

    Leute mit weniger Zeit oder Geduld können es ja mal mit FOG LINE von Larry Gottheim versuchen. Den steht man auch ohne Snacks oder Klobesuche durch!

  2. Christian Moises on Dezember 13th, 2013 at 16:00

    Danke für den Hinweis auf diese (Magen und Blase schonende) Alternative! Den Namen Gottheim hatte ich bislang gar nicht auf dem Radar (oder mal gelesen und wieder vergessen), obwohl ich einigermaßen vertraut bin mit der „Materie“ (um jetzt keine Erörterung in Angriff zu nehmen über Sinn und Unsinn solcher Etikettierungen wie „Underground“ oder „Experimentalfilm“ oder „Avantgarde“, etc.). Aber im Grunde ist ein Großteil der zwischen den 1950ern und 1970ern entstandenen Werke und deren Autoren heute vergessen, beschränkt sich die Rezeption und kritische/historische Auseinandersetzung auf die wenigen „Superstars“ der damaligen Szene(n), deren Namen ich hier nicht zu nennen brauche. Aber das ist ein anderes Thema…

    Muss leider gestehen, dass auch ich gestern (wie mehr als die Häfte des Publikums) nicht die ganzen sechs Stunden auf mich genommen habe, da ich die S-Bahn erreichen wollte/musste, um mir nicht alleine den Rest der Nacht im kühlen Frankfurt um die Ohren schlagen zu müssen (Leiden für die Kunst: ja! Leiden für die Kunstrezeption: nur bedingt! Aber darüber ließe sich auch lange und vortrefflich streiten…). Dagegen hatte der Gastredner, der den Film in seinen jungen Jahren, sprich: in den 1970ern zuletzt (angeblich ganz) gesehen hat, sichtlich seine Schwierigkeiten, gegen das Schlafbedürfnis seines Körpers anzukämpfen, wodurch er andererseits seinen Nachbarn in der Sitzreihe für einen kurzen Moment die Gelegenheit bot, ihn wiederum beim Schlafen zu beobachten. Also im Grunde eine zusätzliche Serviceleistung, die für einen Moment der eigenen Seherfahrung eine neue (Vergleichs)Ebene eröffnete. Nun, es sei ihm vergönnt/verziehen, hatte ich doch selbst so meine „problems with SLEEP“ (das Wortspiel funktioniert leider nur auf Englisch)… was zum Teil vielleicht auch mit meinem steigenden Alkoholpegel zu tun hatte, da die Veranstaltung freundlicherweise von einer bekannten deutschen Pils-Brauerei gesponsert wurde… darauf ein Glas R*****r! 😉

    Aber darüber vielleicht an anderer Stelle (oder auch in einem weiteren Kommentar) noch mehr… NEIN, nicht über untergärige Biere, sondern meine Seherfahrung(en)…

  3. Christian Moises on Dezember 13th, 2013 at 18:25

    Hm, andererseits… wäre durchaus auch so manche Überlegung oder gar eine Textserie wert… Bier und/im Kino… wäre auch eine gute Gelegenheit um dem kürzlich 75 gewordenen Grantler Achternbusch Tribut zu zollen, vom (nur eine spontane Auswahl) Andechser Gefühl über Bierkampf bis zu „I know the way to the Hofbräuhaus“…

  4. Manfred Polak on Dezember 13th, 2013 at 21:55

    Freut mich, dass FOG LINE bei Dir Anklang findet. Der wurde dem Vergessen entrissen, indem er auf dieser DVD-Box landete. Zusammen mit weiteren schönen Filmen, wie etwa NECROLOGY, PEYOTE QUEEN oder BRIDGES-GO-ROUND. Und auch ein paar, die ich nur mittelmäßig finde, aber so ist das halt mit solchen Kompilationen.

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