Felssplitter



Sano: Der Felsen war der erste Film von Dominik Graf, bei dem ich auf den Namen geachtet habe: Dominik Graf. Ich weiß nicht, ob davor oder danach. Aber auf jeden Fall war dann alles anders. Also noch einen tollen deutschen Regisseur entdeckt. DV war da ja noch nicht so alt, überhaupt digital. Das war das erste, was mich überrascht hat. Die Ästhetik. Die Bilder sind etwas, was ich mit Heimvideo, Urlaubsaufnahmen, im Grunde misslungenen Versuchen etwas einzufangen assoziiert habe, das man dann zu Hause doch guckt, weil man hat nichts anderes. Es sind ja Urlaubserinnerungen, Familienerinnerungen, oder so was. Also wichtig. Oder es interessiert einen zumindest. Jedoch nicht ästhetisch. Bei Der Felsen waren die Bilder wunderschön, durchkomponiert aber flüchtig, gewollt und zufällig. Aber dennoch DV. Das hat mich überrascht. Trotz Dogma, oder vielleicht wegen Dogma. Denn das war etwas vollkommen anderes. Etwas Neues. Ich glaube ich habe mich da in die Filme von Dominik Graf verliebt. Ich musste dann nur noch die Anderen schauen, irgendwann. Dennoch hätte ich nicht gedacht, dass die anderen Filme genauso gut sind. Jetzt beim wieder sehen, nach Jahren, empfinde ich den Film als typischen Graf. Damals dachte ich: sowas gibt es nur einmal. Oder, so etwas gelingt einem nur einmal, so etwas Außergewöhnliches. Aber beim Zweiten Gesicht, den ich zuletzt gesehen habe, ist das genauso.

Alex: Für mich war Graf schon ein bekannter Name von dem ich auch zwei oder drei Filme kannte, als ich das erste Mal Der Felsen im Fernsehen gesehen habe. Graf galt mir bis dahin sozusagen als Garant für „gute Fernsehfilme“. Aber Der Felsen war ganz anders, als die bisherigen Filme die ich von ihm kannte, jedenfalls hatte ich damals das Gefühl. Was mich auch jetzt beim erneuten Anschauen wieder berührt und auch völlig verblüfft hat ist diese Intimität und Zärtlichkeit die hier eigentlich von Beginn an den Umgang mit den Figuren auszeichnet, eine unerhörte Nähe, der der Zuschauer hier ausgesetzt wird. Deswegen kann ich deine Assoziation auch vollkommen nachvollziehen, dass du den „unfertigen“ und „zufälligen“ Look des Films, zudem die DV-Optik mit der Betrachtungsweise persönlicher Andenken, Urlaubsfotos usw. verbindest. Gerade diese Zufälligkeit der Geschehnisse, ja jeder kleinsten Entscheidung, jedes noch so unscheinbaren Moments, thematisiert und reflektiert „Der Felsen“ ja auf eine ganz elegante und unangestrengte Weise, nämlich durch den „Rahmen“ des Offkommentars und des Erzählspiels mit den Gegenständen, das gleich zu Beginn ein afrikanischer Strandverkäufer erklärt. Die Meisterschaft dieses Films drückt sich für mich auch unter anderem in diesen unaufgelösten Paradoxien dar: einerseits reflektiert der Film sich selbst als abstraktes Erzählspiel, andererseits erzeugt er größtmögliche emotionale Intimität zwischen Zuschauer und Figuren, einerseits hat er diese private Schnappschussaura, andererseits wirkt jede Einstellung aufs schönste durchkomponiert und absichtsvoll. Siehst du dieses Paradoxa auch so und ist das nicht vielleicht ein wesentliches Merkmal der Grafschen Filmpoesie?

Sano: Ja, kann sein. Ich musste damals an Godard denken. An Fragmentierung, an bewusste Distanz, das Spiel mit den Formen, um verschiedene Perspektiven einnehmen zu können. Inzwischen sehe ich das anders, auch wenn Godard das natürlich auch immer macht. Es geht vielleicht ganz einfach in erster Linie um die Illusion von Zufälligkeit. Von Versuchen die Welt zusammenzusetzen, eine Geschichte zu erzählen. Vom immer wieder Ansetzen, da eine Geschichte ja an jedem Punkt beginnen kann. Auch die Geschichte von Der Felsen könnte schon früher beginnen, oder erst später. Früher, zum Beispiel im Büro von Eichhorn und Herforth, wie sie sich anblicken, während sie miteinander arbeiten. In Gegenwart der Anderen, aber auch privat. Das habe ich mir zum Beispiel während des Films ganz natürlich vorgestellt. Weil er ja eben durch diese Erzählkonstruktion, das Vorher immer schon mit einbaut. Und das Nachher auch. Das Nachher ist dann aber ein Geschenk, eine Überraschung, oder vielleicht auch eine Illusion. Auf jeden Fall wissen wir, dass es ein Nachher geben wird. Daran habe ich zum Beispiel nie gezweifelt. Denn wenn ein Film so tief anfängt, mit der Trennung der Liebenden – dann kann es eigentlich nur noch besser werden. Vielleicht nicht für die Figuren die Ihnen begegnen. Aber für die Protagonisten, oder in diesem Fall die Protagonistin, Karoline Eichhorn. Es ist ja eine Entwicklungsgeschichte. Für sie ist es, als ob sie aus einem langen Traum erwacht. Allmählich, infolge vieler Erschütterungen, aber definitiv. Am Ende gibt es keinen Traum mehr. Nur noch die Erinnerung an einen Traum.

Alex: An Godard habe ich auch denken müssen, aber die Fragmentierung hat bei Graf ja wie du andeutest, eine ganz andere Funktion und Wirkung. Ich empfinde sie auch gar nicht so sehr als Distanzierung, sondern der ab und zu aufblitzende Offkommentar, das Auftauchen der weiterhin noch „bedeutsamen“ Gegenstände, scheinen mir eher ähnlich der Filmmusik wie eine zusätzlich tiefere, sagen wir mal poetische oder traumlogische oder noch eher „hyperluzide“ Ebene der Geschichte aufzuschließen. So eine ganz grundlegende philosophische Problematik, wie die von Zufall versus Schicksal, wird hier mit einer unpathetischen Leichtfüßigkeit, fast unmerklich in die Geschichte eingewoben. Was du gerade über die Zeitdarstellung bzw. das vom Film vermittelte Zeitempfinden gesagt hast, finde ich sehr interessant, dass man eben gerade nicht das Gefühl hat, „hier muss die Geschichte anfangen“, „hier muss sie aufhören“, es gibt auch keine klassische Dramaturgie, in dem Sinne, dass sich das Nachher als irgendwie zwingende Schlussfolgerung aus dem Vorher enwickelt, auch wenn es natürlich Entwicklung gibt und auch um Entwicklung, gerade der Protagonistin, geht. Aber diese Entwicklung ist für mich nicht damit zu Ende, dass sie, wie du es treffend formulierst, aus dem Traum erwacht. Der Film endet ja sehr offen, eigentlich in einem perfekten Moment, wo alles oder zumindest ganz viel möglich ist, als Katrin mit dem kleinen Kai da im Restaurant sitzt, der noch nichts vom Tod seines Bruders weiß. Davor gibt es immer wieder Momente, wo die Figuren selbst sich darum bemühen solche Momente der Offenheit ganz bewusst für sich herzustellen indem sie ihre Leibeigenschaft an das geplante und vorgebuchte Nachher aufkündigen, indem sie etwa ihre Tickets verbrennen oder zerreißen, ihr Auto in den Abgrund fahren lassen und scheinbar bar jeder Vernunft aus allen Zwängen ausbrechen. So gesehen ist Der Felsen auch eine Feier der Entscheidung – der Entscheidung die sich frei gemacht hat von allen gutgemeinten Entscheidungshilfen, die der gesellschaftlich anerzogene gesunde Menschenverstand bereitstellt.

Sano: Hm, ich weiß nicht. Ich sehe das etwas kritischer. Das perfide ist ja eben, dass die Entscheidung nur scheinbar frei ist, oder besser frei macht. Denn, Ironie des Drehbuchs, ist es doch das Schicksal das letztendlich alles bestimmt. Die Freiheit ist eine Illusion, die der Mensch aber zum Leben braucht. Also, ich entscheide, ich bestimme. Was daraus folgt ist aber schwer absehbar. Von daher hast du schon recht, dass es für das Selbstverständnis der Protagonisten wichtig wird, frei zu entscheiden, also irgendwie von sich aus, von Innen heraus. Aber nur als Moment. Ich stimme dir zu: Der Moment der Entscheidung wird als selbstgefällter Akt teilweise zelebriert. Führt aber wie gesagt unter anderem zum Tod von Wanneks Figur. Ich verzettel mich da jetzt irgendwie. Und der Film stellt das ja aus. Aber ich finde nicht subtil, sondern demonstrativ. Was man selbst für Schlussfolgerungen daraus zieht, weiß ich nicht. Daher vielleicht auch das offene Ende als passend. Ich denke aber schon, dass am Ende des Film etwas „zu Ende“ gegangen ist, im Sinne einer Abgeschlossenheit. Man kann den Film da beenden. Das Wesentliche zu Eichhorns Figur ist herausgearbeitet worden.

Alex: Ich habe das nicht so gesehen, dass Maltes Tod am Ende schicksalshaft, also quasi vorherbestimmt oder unausweichlich wäre, obwohl der Film, wenn ich darüber nachdenke, auch diese Lesart zulässt, dass alle Freiheit eingebildet ist. In jedem Fall geht es aber, da stimmst du mir ja zu, schon sehr um die subjektive Seite der „freien Entscheidung“, ob sie nun objektiv frei ist oder nicht. Jednfalls sehe ich das als ziemlich zentral für den Film an, auch für die Entwicklung von Katrin. Die Geschichte wird ja auch von einer Entscheidung in Gang gesetzt, nämlich der von Jürgen, sich gegen sie und für seine schwangere Frau zu entscheiden, und später macht sie dann eine Bemerkung, dass es im Grunde die Ganze Zeit ihrer Beziehung zu Jürgen wie ein geheimer Wettkampf zwischen ihr und seiner Frau war, wer als erstes schwanger wird um ihn an sich zu binden, ein ganz schrecklicher Gedanke, wie ich finde, weil er größtmögliche Unfreiheit und Abhängigkeit von instinktgesteuerten Gesetzen der Evolution impliziert. Und erst als Jürgen diese Entscheidung gegen sie fällt, und ihren gemeinsamen Urlaub zum „angenehmen Abschied“ umzumünzen versucht, wird ihr das langsam klar, und sie fängt – ob bewusst oder unterbewusst – mit einer Suche an, nach dieser aufgegebenen Freiheit. Am Ende des Films hat sie die zwar wieder fühlen gelernt, aber andererseits natürlich die bittere Erfahrung ihrer Konsequenzen zu spüren bekommen. Insofern stimme ich dir zu, etwas ist vorbei in diesem Moment, als sie von Maltes Tod erfährt. Aber die letzte Szene mit Kai im Restaurant, könnte auch schon wieder der Beginn von etwas Neuem sein, so banal dies klingen mag. Der abschließende Zoom aufs offene Meer drückt das für mich teilweise aus, diese Möglichkeit ihrer Weiterentwicklung. Sie hat erkannt jetzt, dass ihr Verhältnis zu Jürgen schon längst nicht mehr Liebe war, sondern vielleicht etwas das mehr mit Gewohnheit und Sicherheit, und eben auch Unfreiheit und Zwang zu tun hatte, sie hat Freiheit und Ausbruch und das Leben im Augenblick kennengelernt, und dann eben auch die schlimmstmögliche Folge davon, und was jetzt eben kommt, ist etwas was der Film nicht mehr darstellt.

Dieser Dialog ist im Sommer 2012 entstanden. Beim erneuten Schreiben über den Film, bin ich auf meinem Laptop zufällig darüber gestolpert. (Sano)

Dieser Beitrag wurde am Dienstag, Juni 16th, 2015 in den Kategorien Alexander Schmidt, Ältere Texte, Blog, Blogautoren, Filmbesprechungen, Filmschaffende, Sano veröffentlicht. Sie können alle Kommentare zu diesem Beitrag über den RSS 2.0 Feed verfolgen. Sie können diesen Beitrag kommentieren, oder einen Trackback von ihrer eigenen Seite setzen.

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