Die Macht der Bewegung – Phenomena (1985)





Hänschen klein ging allein/
in die weite Welt hinein

Die Schweizer Alpen – ein Reisebus schiebt sich langsam durch das reiseprospekttaugliche Panorama, mittendrin steigt ein Mädchen aus. Irgendetwas – man vermag es nicht zu greifen – ist empfindlich anders als bei Argento üblich, deutet bereits auf die Zäsur hin, die Phenomena im Werk seines Schöpfers darstellt. Dann dämmert es einem, es sind die Vorzeichen, man hat sie umgekehrt: nicht alle bis zu diesem Zeitpunkt erschienenen Filme Argentos spielten ihre Gesamtlaufzeit über in der Stadt, aber dieser hier erzählt nahezu ohne Einschränkung vom Ländlichen, und, wichtiger noch, beginnt auch dort. Der Regisseur ist hier nicht weniger außerhalb seines gewohnten Ambientes unterwegs als seine jugendliche Heldin, Jennifer ihr Name, die, auf ein abgelegenes Internat verfrachtet, ohne Vater (ein bekannter amerikanischer Schauspieler, wie zahlreiche Nebenfiguren uns wieder und wieder mit staunenden Augen einflüstern) und die relative Anonymität der Großstadt auskommen muss. Hier kennt sie – präziser: das Bild, das man sich anhand des Vaters von ihr macht – jeder. Was anderswo nicht der Rede wert war, es wird nun zum Reibungspunkt, zum Katalysator in pubertären Distinktionsspielen. Nur die verwegene Zimmergenossin Sophie spendet Beistand und Trost; beim gegenseitigen Beschnuppern im Laufe der ersten gemeinsam verbrachten Nacht gesteht man sich einander die intimsten Träume – die über den berühmten Vater, über das Kino, über die Liebe, über die Dinge eben, die wirklich zählen – aber auch Alpträume.

Jennifers Mutter betrog den Vater, die Trennung war ausschlaggebend für die gegenwärtige Situation. Eine schreckliche Frau muss das sein, eine dieser grausamen Mutterfiguren, die im italienischen Genrekino und ganz speziell bei Argento, dem von anderen geouteten Frauenhasser, stets mit großem Gusto aufgespürt werden, doch – und auch das stellt eine Zäsur dar, eine sehr wichtige sogar – in ihr Gesicht dürfen wir nie schauen. In ein anderes jedoch schon, das des ältlichen Professors John McGregor. Der sitzt seit einem folgenschweren Unfall im Rollstuhl und hilft als Koryphäe auf dem Gebiet der Insektenforschung spezifischer Aasfresser und den Zyklen ihrer Tätigkeit, der Polizei zur Zeit bei der Aufklärung einer anhaltenden Mordserie an adoleszenten Mädchen. Nicht zuletzt tut er dies für Greta, die ihm Nichte wie treue Assistentin war. War, denn von zwei Beamten auf eine vage Hoffnung vertröstet, bricht es aus ihm heraus: All der Schmerz, der Verlust, das unterbewusste Wissen um ihren Tod, manifestiert sich in einem einzigen resignierten „Povera Greta!“. Ein Moment, der in seiner vollkommen aufrichtigen Zärtlichkeit, seiner anzunehmenden Singularität – findet er doch noch einige Filmminuten vor Jennifers Ankunft statt – wie ein eigentümlicher Fremdkörper im Schaffen des Meisters lustvoll zelebrierter Tötungsakte™ erscheint. Doch dann kommt der Auftakt wieder in den Sinn und spätestens nach eben dieser, bereits oben beschriebenen ersten Internatsnacht weiß man dann endlich genauer, was hier wirklich anders ist: Der Blick auf die Menschen, diese emotionale Tiefe, die unverkennbar empfundene Zuneigung zu seinen Figuren, das gab es bei Argento in diesem Ausmaß zuvor nicht. Und es sollten noch viele Jahrzehnte vergehen, Jahrzehnte des mal mehr mal weniger ausgeprägten Zurückruderns für einzig und allein auf seinen kanonischen Suspiria (1977) fixierte die-hard Fans, bevor er sich mit dem vielgeschmähten Dracula 3D (2012) erneut in derart idiosynkratische Gefilde vorwagte.

Vieles, was Stammzuschauer 1985 eher verhalten irritiert haben dürfte, erweist sich als elementar für diese warmherzige Coming-of-Age-Geschichte. Zu Leitmotiven werden Unverständnis sowie die wiederum durch es bedingte Rebellion insbesondere auch in den wenigen heiteren Momenten, die das Leben für die Bewohnerinnnen der Erziehungsanstalt (ein gleich auf mehreren Ebenen perfekt treffendes Wort) bereithält. Einmal antwortet eine zarte, voll Stolz den feschen Barry Gibb auf ihrem Shirt vor sich hertragende Gestalt auf die Frage nach der Interpretation eines Gedichtes, dass es dasselbe Lebensgefühl anspreche wie ein Song der Bee Gees – allgemeines Gelächter im Unterrichtsraum, unverhohlene Abscheu der Lehrkraft (es geht hier schließlich um Kunst!) – und doch steht sie da zwischen ihren Mitschülerinnen wie ein Fels in der Brandung. Wem das Verständnis des bildungsbürgerlichen Lehrkörpers abgeht, dem bleibt wenigstens die Gunst des Publikums. Und so schleicht sich auch die heimlich rauchende, schon früh am Beischlaf interessierte Sophie nicht nur in unser, sondern auch in Jennifers Herz, aus dem sie nur allzu jäh wieder schmerzvoll entfernt werden soll: Ihr Versprechen, über die Schlafende zu wachen, in den Wind pfeifend, stiehlt sich Sophie davon, auf in den Park, in dem einer ihrer Jungs bereits wartet. War Jennifer schon zuvor schlafend umhergewandelt und dabei unwissentlich Zeugin eines Mordes geworden (eine Odyssee, die sie in ihrem weiteren Verlauf auch mit Professor McGregor zusammenführte), wird sich dieser Vorgang nun wiederholen.

Sind Unzuverlässigkeit und Promiskuität Zeichen eines schlechten Charakters, der erste Schritt auf dem schmerzgesäumten Pfad, der geradewegs im Argentoschen Mütterdasein endet? Auch hier fällt die Antwort anders aus als gemeinhin kolportiert: Der Geliebte will sie am kommenden Tag zu Gunsten des Soldatendaseins versetzen, sie schießt ihn daraufhin schon heute ab – ihre Augen erzählen von ungestillter Sehnsucht und so zieht sie dann ziellos ihre Bahnen durchs Grüne, geradewegs ihrem Mörder in die Arme. Doch ihr positiver Einfluß versiegt nicht im Augenblick des Todes, denn just in diesem Moment eröffnet sich für die allein zurückgebliebene Jennifer eine neue Welt – was sie bis hierhin über sich gelernt hat, das setzt sie nun erstmals um. Mit einem Trick des Professors befreit sie sich aus dem zwischenweltlichen, sie zur Beobachterin wie leeren Projektionsfläche des Zuschauers degradierenden Schwebezustand der Schlafwandelei. Geboren aus der gegenseitigen Anziehung zwischen ihr und Insekten aller Art, manifestiert sich die Fähigkeit der telepathischen Kommunikation. Von einem Glühwürmchen durch das Dunkel des Parks geleitet, vermag sie zwar nicht die Leiche ihrer Freundin, aber einen in der Eile verlorengegangenen, durch und durch madenbesetzten Handschuh zu finden. Ein erster Hinweis auf den Killer und jener Moment, der dessen Ende bereits einläutet.

Entwicklungsstufen wie diese, der Aufbruch in eine selbstbestimmte Zukunft, sind der rote Faden durch das Geschehen und werden nie wieder so eindringlich, aber auch überragend simpel illustriert wie in einem Bild am Morgen nach diesem Einschnitt. Schweigend, klar abgegrenzt von Gelächter, Gequatsche, allerdings auch vom Leben um sich herum, sitzt Jennifer in der hintersten Reihe einer Straßenbahn (oder ist es doch eine Seilbahn? Darüber konnte ich mir nie klar werden – die Richtung jedenfalls, sie lautet aufwärts!) – in Gedanken gibt sie den Inhalt eines Briefes an den Vater wieder, endend mit der Bitte um rasche Heimkehr. Später werden wir sie erneut in einer ganz ähnlichen Lage wiederfinden. Sich der gemeinsamen Bringschuld gegenüber einem geliebten Menschen ermahnend – „Per Sophie!“, „Per Greta!“ – beschließen die beiden großen Außenseiter des Filmes gemeinsam aktiv in den Fall einzugreifen. Sie, die Beine des väterlichen Freundes ersetzend, darf zusammen mit einer in Kadavern larvenden Fliege auf die Hatz gehen und fährt mit dem Bus aus der Eröffnungssequenz eine Linie zwischen den Tatorten ab. Doch sitzt sie nun nicht mehr isoliert am Ende, sondern in der Mitte des Gefährtes, ist vom unbeteiligten Zaungast zur Partizipierenden geworden – selbstbewusster Blick statt innerem Monolog hinter bekümmertem Antlitz inklusive. Einer aufgeregten Alten, die sich am trotzig bei Wind und Wetter geöffneten Fenster stört (Voraussetzung für den funktionierenden Geruchssinn des tierischen Freundes und damit so viel mehr noch), bietet sie – neu erstarkt – Paroli. Geschlossen wird das Fenster schließlich erst, als sie bereits von dannen gezogen ist, ausgestiegen am selben Fleck wie das erste uns bekannte Opfer. Ein Kreis schließt sich.

Der Fortschritt, der in dieser rasch übersehenen Dualität des Sitzens zum Ausdruck kommt, ist so ziemlich der einzige in einem Film, in dem sich alles zu bewegen scheint, aber doch fortwährend nur Stillstand erzeugt wird. Fast alles geschieht hier zweimal, manches gar noch öfter. Zwei Mal zeigt uns Romano Albanis Kamera die Welt aus der Sicht der Tiere, zwei Mal wird Jennifer Zeugin eines Mordes, zwei Mal sehen wir Inga, die zahme Affendame des Professors, ein Messer apportieren (beide Male scheint sie die Gefährlichkeit der Klingen nicht zu begreifen). Immerfort laufen die Figuren weg, wandeln umher, fahren große Distanzen ab. Doch wirkliche Auswirkungen hat das nie, es kommt dem Gleiten in einer gänzlich abgetrennten Traum- oder Gefängniswelt (je nach Gusto) gleich – die bestechende Schnitttechnik der Traumsequenzen vermag es besser zu erklären als ich: Momente des Übergangs, der Vorwärtsbewegung werden ausgespart, die Kontinuität mitunter gebrochen. In einem Shot sehen wir Jennifer, sie erhebt sich aus ihrem Bett: Umschnitt auf einen im Raum laufenden Fernseher. Im nächsten Augenblick befindet sie sich an gänzlich anderer Stelle, fortteleportiert statt gegangen, das Außerweltliche des Schlafwandelns im Bild einfangend, eine Ästhetik wie in zeitgenössischen Musikvideos. (Sehr, sehr schön in dieser Hinsicht auch ein höchstgradig ausgedehnter tracking shot hin zu einem röhrenden, chromglänzenden Auspuff, der sich, der Erwartungshaltung entgegen, nicht als der des Killers entpuppt.) Wie die Bee Gees und der ausführliche nächtliche Filmtalk der beiden Mädchen ein weiterer Irritationspunkt, der die Grenzen zwischen Argentos Märchenwelt und der unsrigen verwischt, Platz schafft für die Projektionen Heranwachsender. Wenn das italienische Horrorkino einen Jugendfilm kennt, dann ist es dieser. Der donnernde Heavy Metal, den Argento in vielen aufwühlenden Szenen von Jagd, Tod und Rebellion auspackt, und der ihm oft negativ ausgelegt wurde, er könnte treffender nicht sein.

Schließlich führen ihre Ermittlungen Jennifer geradewegs zur Konfrontation in die Höhle des Löwen, eine der vielzitierten Mütter – da unterscheidet sich Phenomena nicht von vielen vorangegangenen und folgenden Argentos. Andernorts allerdings gewaltig, verkehrt er doch die Aufopferung für die Mutter (Gabriele Lavia in Profondo Rosso (1975) kommt zuvorderst in den Sinn) in ihr Gegenteil. Das Böse kommt in kümmernder Gestalt – Frau Brückner, die einzige aufopferungsvolle Betreuerin, die Strenge des übrigen Personals ist dem Grauen hinter der Fassade nicht gewachsen. Die Tiere wussten es wieder einmal besser: die Unruhe einer Hornisse im Umfeld der ersten Begegnung, sie war eine Warnung für Jennifer. Getrieben von Schuldgefühlen gegenüber ihrem missgebildeten Sohn, der Frucht einer Vergewaltigung, wurde Frau Brückner erst zur Mitwisserin in dessen Treiben, später ebenfalls zur Mörderin. Und dennoch – wenn sie da steht und mit künstlicher Autorität verkündet, dass sie nun die Gewalt über das Leben ihrer Gefangenen habe, wundert man sich. Ist sie Täter, ist sie Opfer? Wütend zerschmettert sie eine Kinderpuppe am Boden, konstatiert nach dem Tod des Kindes, er wäre ein Monster aber auch ihr Sohn gewesen, und geht zum Angriff über. Es stoppt sie der Affe, ein weiteres Mal ein Messer in der Hand, diesmal weiß er, was er tut. Ein Fortschritt. Jennifer entsteigt wie weiland Ursula Andress – nur im züchtigen, weißen Nachthemd – den Fluten, sie hat sich verteidigt, behauptet gegen die Gräuel der Welt. Würde Phenomena in einem Bus oder einer Bahn enden – sie säße ganz vorne.


Phenomena – Italien 1985 – 116 Minuten [italienische Originalversion] – Regie: Dario Argento – Produktion: Dario Argento – Drehbuch: Dario Argento, Franco Ferrini – Kamera: Romano Albani – Schnitt: Franco Fraticelli – Musik: Simon Boswell, Claudio Simonetti, Goblin, Bill Wyman, Iron Maiden u.v.a. – Darsteller: Jennifer Connelly, Daria Nicolodi, Donald Pleasence, Dalila Di Lazzaro, Patrick Bauchau, Michele Soavi u.v.a.

Dieser Beitrag wurde am Montag, August 7th, 2017 in den Kategorien Ältere Texte, André Malberg, Blog, Blogautoren, Filmbesprechungen veröffentlicht. Sie können alle Kommentare zu diesem Beitrag über den RSS 2.0 Feed verfolgen. Sie können diesen Beitrag kommentieren, oder einen Trackback von ihrer eigenen Seite setzen.

Kommentar hinzufügen