Auf Wanderschaft in Ausfluchtslandschaften: La corrupción de Chris Miller (1973)





Glauben Sie, dieser junge Mann läuft vor etwas davon? Ob einer was ausgefressen hat, so heißt es, erkenne man an der Abruptheit der Bewegungen, daran, wie er oder sie rastlos und ohne Plan von A nach B eilt. Auch in Juan Antonio Bardems spanischer Giallo-Variante „La corrupción de Chris Miller“ lässt eine vage Unruhe im Gewissen oder der Vergangenheitsbewältigung zahlreiche Charaktere anlasslos rotieren. Nach seinem Auftaktmord rast in der Creditssequenz ein Zug zu Waldo de los Ríos unruhig-süßlichen Melodien quer durch durch ein Landschaftsstillleben Kantabriens, übergangslos bildlich hervorgegangen aus der noch befußten Flucht des Mörders. Ihm entsteigt Herumtreiber Barney (Barry Stokes), der auf der Suche nach Bleibe bald bei dem ungleich unflexibler im gemachten Nest des abspenstigen Gatten wie Vaters aussichtslos dessen Rückkehr harrenden Mutter-Schwiegertochter-Gespanns Ruth (Jean Seberg) und Chris Miller (Marisol) aufschlägt. Lange bevor Bardem sie auch narrativ zusammenfinden lässt, weiß man, dass Barney und Chris wie geschaffen füreinander sind, bewegt sie sich doch auch mit Gusto auf Pferd oder Rad zwischen den wenigen Ablenkungsorten der Provinz hin- und fort. Doch scheint ihr der Ausritt an sich wichtiger zu sein als die Pferde und der recht zutrauliche Hofbesitzer.

So sehr sich Bardems Film im Laufe seiner weit überdurchschnittlichen Laufzeit auch in die psychologischen Untiefen seiner Figuren vertieft, die Antriebsfeder hinter ihrem unablässigen Wandern legt er bewusst nur unzureichend offen – ihr Niederschlag in lustvoll-heiteren Episoden bleibt ungewöhnlichster red herring eines abseitig kodierten Thrillers. Gleich mehreren Figuren lässt er diese charakteristische Unruhe angedeihen, während er diese und weitere, inklusive der so geschlechtsneutral geheißenen Chris, optisch statt mit den überproportional aufgetragenen Regenmäntel aus Alfred Vohrers „Die toten Augen von London“ mit annähernd ähnlichem Körperbau sowie Variationen der gleichen, beim Verbrechen undeutlich erspähten Frisur ausstaffiert. Allein Ruth kann nie die Mörderin sein, denn Jean Seberg ist blond, kurzhaariger als alle in Frage kommenden Kerle und schleicht mit in der sonst so steten Bewegtheit fast beunruhigend bedächtiger Andacht durch die zertrümmerte Seelenlandschaft namens Landhaus, den seligen Schlaf der Beschwipsten schlafend, immerfort still und heimlich Pläne schmiedend, die in ihrer buchstabenlosen Autonomität vom Geschehen niemanden – auch nicht Bardem oder die Zuschauenden – irgendetwas angehen. Da fehlt mehr als offensichtlich schlicht die Zeit, um im Umkreis von 100 Kilometern unnötig grausame Raubmorde zu begehen.

Wie ihre intimsten Geheimnisse liegt auch des Rätsels Lösung in „La corrupción de Chris Miller“ jenseits der visuell durcherkundeten Pfade. Im bloß angedeuteten Zwischenraum, der mittig der prominenten Inszenierungspole Ent- und Beschleunigung im Schatten operiert. Eine Reihe vertrackter Täuschungen, so beispiellos ausgetüftelt wie das ganze Arsenal wiederkehrender Motive auf der Handlungsebene und doch komplett isoliert von dieser. Geschickte Verzahnung lässt am Ende alles ineinander greifen, Bardems einziger (zieht man „La campana del infierno“ ab, dessen Teile er für den vorverstorbenen Claudio Guerín zusammenfügte) durch und durch vom damaligen Genrewind erfasster Film gehört zu den wenigen Spannungsfilmen, deren mannigfache Hinweise nicht einmal bloßes, spätestens beim Wiedersehen rasch als konstruiert entlarvtes Ablenkungsmanöver im Dienste einer vermeintlich cleveren Geschichte sind, sondern sich in manchmal zwischen den Ebenen befindlicher Verkehrung als befremdlich zutreffend erweisen. Die Aversion gegen das Töten von Tieren, erst scheinbar allein ausgespielt, um im Gegenzug Barneys Potenzial zu Grausamkeit auszuspielen, dann wiederauferstanden, umgedeutet zu etwas ungleich Tiefgreifenderem, Schockierendem. Wie die von der Bewegung faszinierte Montage, die Kontinuitäten nahelegt, wo Brüche regieren und die Vertreibung aus dem Paradies einer der Hauptfiguren, deren zornigen Trott unmittelbar in die Subjektive des motivisch noch nicht ausgefüllten Mörders ausbluten lässt. Das außen vor Gelassene, je weiter sich das Geschehen zuspitzt, desto merklicher beansprucht es die Deutungshoheit für sich. Entlarvt wird am Ende der Mensch, dessen Bewegungsprofil Bardem diebisch unterschlagen hat, doch da ist längst aufgegangen, um was es ihm eigentlich geht. Innere Rastlosigkeit als Katalysator äußerer Umstände, letztlich kann sie jeden von uns zum Verbrecher werden lassen. Eine virulenter Keim, der ganz wie die zum guten Schluss im Zeitraffer ausgespielte metaphorische Saat einer Bewegung führt, die Unschuldigen zur Schuld, die Polizei zum falschen Täter im falschen Verbrechen im falschen Moment – dem gewähnter Sicherheit, äußerlich wie innerlich.


La corrupción de Chris Miller – Spanien 1973 – 114 Minuten – Regie: Juan Antonio Bardem – Produktion: Xavier Armet – Drehbuch: Santiago Montaga – Kamera: Juan Gelpí – Schnitt: Emilio Rodríguez – Musik: Waldo de los Ríos – Darsteller: Jean Seberg, Marisol, Barry Stokes, Perla Cristal, Miguel Bardem u.v.a.

Dieser Beitrag wurde am Dienstag, September 17th, 2019 in den Kategorien Ältere Texte, André Malberg, Blog, Blogautoren, Filmbesprechungen veröffentlicht. Sie können alle Kommentare zu diesem Beitrag über den RSS 2.0 Feed verfolgen. Sie können diesen Beitrag kommentieren, oder einen Trackback von ihrer eigenen Seite setzen.

3 Antworten zu “Auf Wanderschaft in Ausfluchtslandschaften: La corrupción de Chris Miller (1973)”

  1. Manfred Polak on September 25th, 2019 at 22:44

    Es könnte sein, dass ich den vor sehr langer Zeit mal gesehen habe, aber ich bin mir nicht sicher. Denn wenn mich die Erinnerung nicht täuscht, wird in dem Film, den ich meine, der junge Herumtreiber am Ende in irgendeiner nordspanischen Hafenstadt von der Polizei mit MP-Salven durchsiebt, nachdem eine der beiden Frauen ihn verpfiffen hat. Aber in der IMDb fand ich Hinweise auf ein ganz anderes Ende. Genauer gesagt auf zwei Enden, in denen die Leiche eines jungen Mannes (Barney?) auftaucht oder auch nicht auftaucht und die beiden Damen belastet (oder eben nicht). Also vielleicht war das doch ein anderer Film. Ach, das Gedächtnis …

  2. André Malberg on September 26th, 2019 at 13:40

    Ohne Mitlesenden zu viel zu verraten, kommen die IMDb-Varianten deutlich besser hin. Die vage Erinnerung aber klingt für mich verdächtig nach „¿Quién puede matar a un niño?“ (1976) von Narciso Ibáñez Serrador, auch wenn es sicher kein Rumtreiber ist, der dort am Ende im Hafen durchsiebt wird.

  3. Manfred Polak on September 27th, 2019 at 00:55

    Nein, der ist es nicht. Nach dem, was ich gerade gelesen habe, scheint das ja sowas wie eine spanische Variante von VILLAGE OF THE DAMNED zu sein, nur wahrscheinlich blutiger. Den hab ich jedenfalls nie gesehen.

    Entweder gibt es da noch einen Film, der inhaltlich große Überschneidungen mit LA CORRUPCIÓN DE CHRIS MILLER hat, oder in meiner Erinnerung vermischt sich dieser mit einem weiteren Film mit dem Maschinenpistolenschluss. Der müsste dann auch aus Spanien sein, denn ich bin recht sicher, dass das in einer Hafenstadt in Asturien/Kantabrien/Baskenland spielt.

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