Kinatay (2009)

Er ist schon fast legendär, der Kleinkrieg zwischen Vincent Gallo und Roger Ebert um die völlig missglückte Projektion von The Brown Bunny in Cannes 2003, als Ebert den Film außer sich vor Wut den schlechtesten Film in der Geschichte des Festivals schimpfte. Zwar ist der Streit zwischen den beiden, der zwischenzeitlich in üblen Verfluchungen mündete, längst beigelegt (nicht zuletzt weil Ebert Gallos ein Jahr später in Toronto gezeigte, neue Schnittfassung durchaus gefiel) – den Titel „schlechtester Film in der Geschichte des Fesitvals“ trug The Brown Bunny zumindest in seiner ursprünglichen Version aber weiterhin. Bis dieses Jahr im Wettbewerb von Cannes ein Film des philippinischen Regisseurs Brillante Mendoza lief, der Ebert dermaßen in Rage versetzte, dass er sich bei Vincent Gallo entschuldigte und den Titel für den miesesten Cannes-Beitrag aller Zeiten an Kinatay weiterreichte. Zwar waren die Zuschauerreaktionen insgesamt nicht ganz so extrem und hasserfüllt wie seinerzeit bei Brown Bunny, doch auch aus Mendozas Film sollen die Leute, so wird zumindest berichtet, in Scharen geflohen sein und nach Ende der Vorstellung ihrem Unmut lautstark Luft gemacht haben.

Dieser Schock wirkte beim französischen Produzenten Didier Costet, der bei der Deutschlandpremiere von Kinatay auf dem diesjährigen Münchner Filmfest anwesend war, sichtlich nach und so bat er das Publikum bereits im Voraus sich doch bitte auf die sicher schockierende Erfahrung einzulassen und nicht gleich aus dem Saal zu rennen. Diese Warnung wäre allerdings nicht nötig gewesen, denn obwohl einige wenige Zuschauer das Kino vorzeitig verließen (wenn auch nicht mehr als in anderen Vorstellungen), verlief die Projektion ganz ohne Buhrufe und Radau, stattdessen gab es nach dem Film sogar eine recht angeregte Diskussion mit Costet. Interessant wie sich die Wahrnehmungen des Festivalpublikums in Cannes und München zu unterscheiden scheinen, ob das nun an unterschiedlichem Grad an Leidenschaft liegt oder daran, dass in der Münchner Spätvorstellung verhältnismäßig wenige Sektschlürfer bei verhältnismäßig vielen Cineasten (u.a. Fabrice du Welz) anwesend waren, sei mal dahingestellt.

Angeheizt wurde die Kontroverse in Cannes zusätzlich von der Jury um Isabelle Huppert, die Brillante Mendoza den Preis für die beste Regie verlieh. Kinatay setzte damit den Erfolg fort, den das philippinische Kino mit Regisseuren wie Lav Diaz oder Raya Martin seit langem auf westlichen Filmfestivals feiert. Tatsächlich ist der Regiepreis nicht unverdient und die Empörung um den Film nur schwer nachvollziehbar. Die Hauptfigur von Kinatay, Peping, ist ein junger Familienvater und Polizeischüler in Manila, der in der Ausbildung nicht genug verdient, um seine Frau und seine kleine Tochter ernähren zu können und deshalb nachts einem Zuhälter beim Geld eintreiben behilflich ist. Der Film deckt einen Zeitraum von nur 24 Stunden ab und zeigt zunächst Alltagsszenen aus den Straßen von Manila, dann die Hochzeit von Peping, die wegen des Geldmangels sehr unspektakulär verläuft, aber doch den Eindruck einer harmonischen Kleinfamilie vermittelt. Erst im Wechsel vom Tag zur Nacht liegt ein unvermittelter Bruch: die Nachtszenen sind in HD gedreht, grobkörniger, dunkler, hektischer, nervöser als das 35mm-Material, das am Tag zum Einsatz kommt. Dem formalen Bruch folgt ein inhaltlicher, ein Bruch im Leben zweier Menschen, denn in dieser Nacht geschieht etwas für Peping Unerwartetes: eine Prostituierte, die seinem Boss Geld schuldet, wird in ein Auto gezerrt, niedergeschlagen, gefesselt und entführt. Tatsächlich beginnt jetzt eine Tour de Force für Peping und für den Zuschauer, dessen Perspektive eng an die des jungen Polizisten geknüpft ist. Die 30-minütige Fahrt aus dem Rotlichtviertel Manilas in einen ruhigeren Vorort hat Mendoza in Echtzeit gefilmt, die Straßen und Lichter der Stadt ziehen scheinbar endlos vorüber, während am Boden die geknebelte Frau stöhnt und wimmert. Die Gangster lassen in ihren Kommentaren keinen Zweifel, dass sie etwas Schreckliches mit ihr vorhaben und so sitzt Peping auf seinem Sitz, geschockt, gelähmt, zweifelnd, was er tun soll. Er bekommt eine Gelegenheit zur Flucht, um Hilfe zu holen, er zögert aber und lässt sie verstreichen. Es sind quälende Minuten, in denen der Regisseur den Zuschauer ganz mit Peping und seinem moralischen Konflikt alleine lässt, ohne ihm auch nur den Hauch von Distanz zu ermöglichen.

Was Mendoza in Cannes von Roger Ebert und anderen vorgeworfen wurde, war neben technischen Argumenten wie der angeblich unprofessionellen Beleuchtung und Wackelkamera in den Nachtszenen, vor allem die Brutalität und der angebliche Zynismus, mit der der Regisseur der im Film gezeigten Gewalt gegenüberstehe. Kinatay ist allerdings weder brutal, noch zynisch und auch nicht wirklich pessimistisch, er ist im Gegenteil ein zutiefst moralischer und engagierter Film. Dass man die Vergewaltigung, Ermordung und Zerstückelung einer jungen Mutter ohne ironische Brechung, ohne splatterhafte Übertreibung und ohne Verfremdung zeigen kann, dass man noch dazu rigoros und ohne Distanz den Blickwinkel eines erst unfreiwilligen, aber eben doch beteiligten Helfers einnimmt, das scheint offenbar viele Zuschauer zu verstören. Dass die Eskalation von Gewalt und Folter etwas Beiläufiges hat, ist nicht zynisch, sondern ehrlich. Man sollte sich immer wieder vor Augen führen, dass das, was Mendoza zeigt, eigentlich keine mystifizierte Reise ins „Herz der Finsternis“ ist (wie viele Kritiker in ihren Besprechungen suggerierten), die man danach mit einem wohligen Schaudern wieder von sich stoßen kann. Nicht umsonst hat er gerade die düsteren Szenen in HD gedreht, ein Material das man fast instinktiv mit Adjektiven wie „realistisch“ und „dokumentarisch“ in Verbindung setzt, demgegenüber die Szenen am Tag in gestochenem 35mm schon eher etwas Unwirkliches an sich haben. Die Gewalt, die Mendoza zeigt, ist schlicht Alltag – Alltag in Manila, aber auch überall sonst auf der Welt. Und so sehr der Film auch ein Porträt der philippinischen Gesellschaft ist, der Korruption, dem Alltag zwischen postkolonialer Moderne und nur oberflächlich verdrängter Gewalt, so ist er in seinem Kern universal. Die gesellschaftliche und finanzielle Abhängigkeit, die die ethischen Werte des Einzelnen untergräbt, und der fehlende Widerstand dagegen, der sie unwiederbringlich zerstört, das ist kein Thema, das sich auf die Philippinen beschränkt. Dabei ist Kinatay in der Wahl seiner Mittel eigentlich ein einfacher, recht unspektakulärer Film. Was ihn interessant macht, ist die Unbeirrtheit und die Gnadenlosigkeit, mit der Mendoza verdrängte Mechanismen der Gewalt – in der Gesellschaft und in jedem Einzelnen – beobachtet und ans Licht holt. Die Aufregung, die er verursacht hat, liegt vielleicht tatsächlich darin begründet, dass der Film den Zuschauer involviert, ihm keine Ausflüchte und kein Verdrängen lässt, sondern die inneren Konflikte Pepings zu denen des Publikums macht, dass sich den implizierten moralischen Fragen selbst stellen muss.

Es ist wohl leider nicht zu erwarten, dass Kinatay eine große Festival- und Kinokarriere beschieden sein wird, trotz oder wegen des Theaters in Cannes. Umso verdienstvoller, dass das Münchner Filmfest ihn dieses Jahr in seiner neuen Fokus Fernost-Reihe laufen ließ und Mendoza schon seit Jahren fördert und immer wieder einlädt – 2009 gab es mit Serbis sogar noch einen zweiten seiner Filme im Programm. Auf den Philippinen selbst wurde Kinatay zunächst mit einem Aufführungsverbot belegt (Mendoza hat inzwischen erreicht, dass es für fünf Jahre ausgesetzt wird) und auch im westlichen Festival- und Arthausbetrieb, in dem Publikum und Macher nach mehr Realismus im Weltkino rufen und damit meist leider doch nur mehr Selbstbestätigung und Exotismus meinen, wird einem wirklich unbequemen Film wie Kinatay wohl leider nur eine Randstellung beschieden sein.

Der Hollywood Reporter analysiert jedenfalls schon mal in der ihm eigenen, in seiner vollständig auf Wirtschaftlichkeit ausgerichteten schonungslosen Offenheit: “Unlike such other Mendoza works as „Foster Child“ or „Serbis,“ which capture with warmth or exotic social phenomena distinctive to the Philippines, „Kinatay’s“ sketchy slice of crime world nastiness can be found anywhere. This makes it a hard sell even to art houses, as their target audience often looks for stronger cultural flavor.”