Until They Get Me (1917)



Pferde reiten über die Leinwand, Galopp, ein Mann allein, in der nächsten Einstellung die Verfolger, er wird gejagt, er ist auf der Flucht. Weshalb? Wovor? Wohin? Als ich ins Kino komme, läuft der Film bereits. Die Kopie ist wunderbar, 16mm, wenn ich es nicht wüsste, würde ich auf 35 tippen. Alles erscheint klar, man sieht den aufgewirbelten Staub in der Luft, die Gesichter der Männer, grimmig und entschlossen auf der einen Seite, gehetzt auf der anderen. Meine erste Begegnung mit Frank Borzage. Ich komme zu spät. Alles was folgen wird, muss ich mir nun erschließen. Jemand ist tot. Vermutlich erschossen. Soviel scheint ersichtlich. Der Verfolgte wird wohl des Mordes bezichtigt. Ob er schuldig ist? Ich werde es auch am Ende nicht wissen. Doch das ist mir bereits egal. Die Frage der Schuld, zumindest im klassischen Sinn, den ein Western mit dieser Exposition auwerfen könnte, bedeutet mir nichts. Ich erkenne schon während der Verfolgungsjagd, dass der potentielle Mörder mein Mitleid verdient, dass ich hoffe, dass er nicht geschnappt wird. Ein Verdienst von Borzages Inszenierung.

Überhaupt erweist sich der ganze Film als ein Showcase für Borzages Regiekunst. Obwohl ich vermute, dass es eines seiner ersten Werke sein müsste, ist hier nichts Versuch, nichts Experiment, ist kein Suchen nach einer Form zu spüren. Zu Hause lese ich dann: Er hat schon 1913 Regie geführt und bis 1917 bereits über 20 Filme inszeniert. Das erklärt einiges. In diesem Film sitzt nämlich alles perfekt, er zeigt kinematographische Vollendung, einen bezwingenden Stil, einen Willen der auf die Realisierung des Erdachten aus ist. Die Handlung scheint mir nach Ansicht des Film bereits vor dem Dreh im Kopf Borzages Gestalt angenommen zu haben, auch die Perspektiven und Einstellungen, alles bereits erwogen oder zumindest erahnt, die Möglichkeiten die sich einem vor Ort bieten könnten. Until They Get Me ist nicht im Studio gedreht. Die meisten Aufnahmen spielen bei Tageslicht in den Weiten der wechselnden Landschaften. Eine Choreographie der Wege, der Entfernungen, der Stationen, denen wir in diesem frühen Roadmovie in repetitiven Einstellungsfolgen immer wieder begegnen werden, und auf die die Komposition der Geschichte fixiert ist.

Was sich daraus ergibt ist aber kein Gebrauchswestern, kein Genrefilm im eigentlichen Sinne, auch nichts Wildes, nichts Unvorhersehbares. Klischees und Konventionen werden bedient, Typen etabliert, doch der Fokus ist ganz woanders. Borzage nimmt sich die Freiheit im Dargestellten aufzugehen, möglichst jede Szene für sich sprechen zu lassen, dem Zuschauer die Zeit zu geben, sie zu durchmessen. Die Gesichter der Figuren, die Räume in denen sie sich bewegen, kurz, die Orte und Menschen welche die Protagonisten bestimmen in ihrer Fülle erfahrbar zu machen. Obwohl es um Fluchtbewegungen geht, ist das Mittel der Regie die Entschleunigung. Borzage ist ein Meister darin die Zeit zu dehnen, Szenen weit über irgendwelche Notwendigkeiten hinaus weiterlaufen zu lassen, sie aufzuspalten, in mehrere Perspektiven oder Gefühlslagen, wobei er vollkommen darüber im klaren zu sein scheint, dass das eine das andere bedingt. Dass die Emotion eines Schauspielers sich nicht nur in dessen Gestik und Mimik, sondern auch in der kommenden Kameraeinstellung der Orte widerspiegeln kann. Und dass umgekehrt die Geographie imstande ist die Gefühle der Menschen zu lenken und zu bebildern. Dies gelingt Borzage jedoch nicht primär mit den Mitteln der Montage, etwa mit einer Gegenüberstellung, sondern es handelt sich vielmehr um ein Kino der Kontemplation, das heutzutage, angesichts andauernder Insistenz des Verweilens in weiten Teilen des sogenannten „Weltkinos“, ungeheuer modern wirkt.

Die Regie macht hier im Grunde das, was sich inzwischen im etablierten Festivalkino zu einem Hauptstrom des gegenwärtigen Filmschaffens entwickelt hat, nämlich mit den prototypischen Konstanten und den Überresten bekannter Genrestrukturen eine Meditation über Menschen, Orte und Stimmungen, sowie die daraus folgende Ambivalenz gesellschaftlicher Konstrukte zu entwerfen. Was Hou Hsiao-hsien, Bela Tarr, Tsai Ming-liang, Lav Diaz, sowie weitere zeitgenössische Überväter des Kinos der Innerlichkeit und deren Epigonen an zeitgenössischer Seelenforschung betreiben, findet sich bei Borzage bereits in großen Teilen ausgearbeitet. Ich glaube bisher keinen anderen Filmemacher vor 1920 zu kennen, der ein auch nur vergleichbares filmisches Programm vorzuweisen hätte. In dieser Hinsicht erscheint mir Borzage bis dahin singulär, und dies erklärt vermutlich auch, warum mich dieser für manchen Zuschauer vermutlich so typische und unscheinbare Western dermaßen beeindruckt hat. Hier ist nichts von Griffith zu finden. Das ist eine ganz eigene Linie, beinahe eine andere Welt.

An was ich auch denken musste waren die Brüder Lumière, und mit ihnen ein dokumentarisches Kino, das dramaturgisch nicht auf einer Aufeinanderfolge von Ereignissen aufgebaut ist – bei dem es nicht heißt: „und dann“ – sondern bevorzugt den einzelnen Moment über die Handlung stellt, beziehungsweise die dramaturgische Kraft aus einzelnen voneinander unabhängigen Situationen zu schöpfen vermag. Wie die ein-Minuten-Filme der Brüder Lumière, so scheint sich Borzages Aufmerksamkeit immer wieder zur Gänze auf jede neue Szene fokusieren zu können, auf eine Art und Weise, die alles andere neben dieser Handlungseinheit, das übliche Davor und Danach, vergessen macht.

Einzelne Sequenzen und Handlungsabläufe in Until they Get Me sind nüchtern betrachtet auf den ersten Blick völlig unsinnig und unlogisch zusammengesetzt. Zahlreiche Szenen dauern tatsächlich ‚zu lange‘, vor allem wenn es um Verfolgungen, Bewegungen und das Verweilen an Orten geht, in Momenten also, in denen die erzählte Zeit mit der Erzählzeit weitgehend übereinstimmen sollte. Zumindest ist man das als Filmzuschauer in ähnlichen Fällen in anderen Filmen so gewohnt. Es wird daher bei genauerer Überlegung deutlich, dass es Borzage vermutlich oft um ein anderes Zeitverständnis geht, dass er also innere Vorgänge, die Wahrnehmungen und das Zeitempfinden der Figuren betreffend, als Äußere darstellt.

Und das ist das Wesentliche. In diesem narrativ scheinbar klassischen Film ist die Narration vielfach außer Kraft gesetzt. Nach und nach wird klar (und das abrupte, und in dieser Funktion großartige Ende ist ein weiteres Indiz dafür), dass es gar nicht darum geht, was passiert, und wann die Figuren an ihre Ziele gelangen, sondern wie die Dinge geschehen. Relevant ist kurz gesagt zweierlei: Das Nachvollziehen und Erleben der inneren Vorgänge der Figuren und ihrer Lebenswelten, sowie die Darstellung des Umgangs der Figuren untereinander. Ersteres gelingt wie bereits beschrieben durch spezifische Techniken der Zeitdehnung und der Repetition, letzteres durch die Konzentration auf wenige Hauptfiguren, die aber dennoch ein divergentes Ensemble bilden, welches beispielsweise sehr stark auf die späteren familiären und quasi-familiären Konstruktionen der Filme von John Ford verweist. Wie bereits gesagt, scheint es bei Borzage keine Lückenfüller und keine Zufälle in der filmischen Konstruktion zu geben, so dass jede Szene eine Miniatur für sich darstellt. Zumindest in dieser Hinsicht ist er vom Resultat vielleicht doch mit einem seiner Zeitgenossen vergleichbar, nämlich mit Chaplin und dessen späten Kurzfilmen.

Was bleibt am Ende des Films in Erinnerung? Grandiose und inzwischen klassische Westerntableaus, etwa im Vordergrund der Kadrierung der Protagonist, während im Hintergrund die Reiter am Horizont auftauchen, sowie Blicke durch Rahmungen, durch Türen. Details die nicht als sinnstiftende Einschübe verwendet werden oder dem Zweck von Etablierungen durch Schuss/Gegenschuss-Konstruktionen dienen, sondern als eigenständige, bisweilen monumentale Knotenpunkte innerhalb von Totalen beschworen werden, von denen konkrete und potentielle, im gegenwärtigen Handlungsgefüge jedoch nicht realisierte oder realisierbare Erzählstränge emanieren, die den Zuschauer parallele Geschichten und alternative Möglichkeiten des Handlungsverlaufs ersinnen lassen (womit wir zum Beispiel auch bei Malick, dessen fragmentarischer Vielschichtigkeit, sowie der teilweise symbolischen Notwendigkeit von natürlichem Licht angekommen wären). Vor allem aber: Blicke, Gesichter, Gesten, die Sehnsucht die nach Außen dringt. Until They Get Me ist auch ein Liebesfilm, ein Film über die Liebe zwischen den Menschen, ein utopischer Film. In dem die Menschen einander beseelen sowie von der Landschaft beseelt werden. In dem alles von allem durchdrungen ist, und das Ziel der simplen Geschichte möglicherweise die Annäherung der drei Protagonisten darstellt. Der Verfolgte und sein Verfolger, sowie die Frau zwischen den beiden, großartig verkörpert von Pauline Starke. Die Kamera zeigt sie auf ähnliche Weise wie beispielsweise bei Godards Le petit soldat oder Vivre sa vie Anna Karina in Szene gesetzt wird. Wenn Starke auf der Leinwand erscheint, wird es noch klarer als sonst, dass ihre Präsenz das Thema ist, dass der Moment durch sie bestimmt wird. Borzage sieht sie mit besonderen Augen. In der Imdb lese ich, dass die beiden noch mindestens in drei weiteren Filmen zusammengearbeitet haben.

Until They Get Me – USA 1917 – 65 Minuten – Regie:: Frank Borzage – Drehbuch: Kenneth B. Clarke – Kamera: C.H. Wales – Darsteller: Pauline Starke, Jack Curtis, Joe King, Wilbur Higby, Anna Dodge, Walter Perry

Dieser Beitrag wurde am Donnerstag, April 26th, 2012 in den Kategorien Ältere Texte, Blog, Blogautoren, Filmbesprechungen, Sano veröffentlicht. Sie können alle Kommentare zu diesem Beitrag über den RSS 2.0 Feed verfolgen. Sie können diesen Beitrag kommentieren, oder einen Trackback von ihrer eigenen Seite setzen.

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