100 deutsche Lieblingsfilme #74: Seine gelehrte Frau (1919)





Über 100 Jahre alt, diskursiv so aktuell wie eh und je, in jedweder Hinsicht auf das Rudimentärste runtertranchiert mit der feinen Klinge des frühfilmischen Gestaltens. Sie ist Ärztin vertieft in der allwährenden Krankheitsforschung und nimmt aus kuppelnder Elternhand ihn, Fabrikantensohn wie zur Wonne des seligen Nichtstuns neigender Dulli, entgegen. Er kann den ganzen Ernst des Lebens, die Leere des reich gedeckten Frühstückstisches dann doch nicht so gut verkraften, saugt sich folglich am urbanen Nachtleben sowie einer einer lebensdurstigen Geliebten fest, die alsbald ein Kind erwartet. Wem obliegt in bitter verwechslungskomödiantischer, aber völlig ernst ausgespielter Zuspitzung die unangenehme Aufgage, die andere Frau durch die Müttersterblichkeit zu begleiten und drückt den entwurzelten Nachwuchs in großer Kinoversöhnungsgeste gleich samt Taugenichts ans eigne Herz? Richtig.

Und doch schlittert ängstliches Raunen über feministische Propaganda ebenso elegant an am Kerne von Multistudiosus Eugen Illés zwiebelartig verkomplizierter Denkübung vorbei wie jene Deutung, die das gefürchtete „Woman, know your place!“ wittern würde. Dieser Kern liegt in der Inszenierung an den Chiffren vorbei begraben. Alte Sachlichkeit, ein in beispielloser Konsequenz sowie auf angenehme Weise akademisch gedachter Film; Aufgeregtheit existiert als etwas Figürliches, darüber hinaus nicht – die Regie lässt den Blick frei kreisen und denkt sich ihren Teil über die selbstgeschaffenen Probleme. „Seriös“ ist selten das angemessene Prädikat um die filmische Montage zu beschreiben, hier trifft es den Nagel auf den Kopf. Bewegt zwischen Arbeits- wie Gesellschaftserfordernissen flanieren die Charaktere durch ihre Kulissen – und doch ist alles originär filmisch, als Gesamtkonstruktion investiert, beinahe assimiliert in eine Gesellschaftsschicht weitestgehend fern der wilden Weimarer Jahre.

Eine Spreiztechnik ist es, die Illés einsetzt – der Krug geht in mannigfacher Hinsicht zum Brunnen, bis er bricht. Trotz allem Insistieren von Figuren und Zwischentiteln, allen wörtlichen Elementen in einem Film beim zweiten Blicke so trügerisch karg an ihnen, dass es jedes einzelne gleich doppelt bedeutsam erscheinen lässt, inszeniert er im großen Knotenpunkt der verirrten Lebenslinien nicht Schockverliebtheit in das Wunder des Lebens als Erweckungsmoment der vorgeblichen Karrierefrau. Es gibt schlicht keinen. Die Freuden der Geburt existieren allein als etwas – die dem Stummfilm eigene Verschriftlichung des fließenden Wortes auf eigensinnige Weise nutzend – wortwörtlich von außen an die Frau Herangetragenes. Von Menschen, die sich den règle du jeu bereits gebeugt haben, sie konstituieren oder nie in die Position gelangen konnten, sie in aller Ruhe zu reflektieren – Emporkömmlinge der Arbeitswelt, Männer, Frauen unterm Boden der Nahrungskette. Die inszenatorischen Mittel als feinfühlige Barometer gesellschaftlicher Entwicklungen, das Bedachte ist symptomatisch – Illés arbeitet radikal präzise in dem, was er entgegen dieser Parameter akzentuiert. Nüchtern Sachliches und die Warmherzigkeit des profund Alltäglichen, speziell im milden Blick auf die Schwäche ganz privat, beißen sich munter, sachte humorig, wie ein zwischen den Augenblicken schon wieder vergangenes Minzblättchen.

Schließlich bricht die stroheimeske Natürlichkeit nahezu sämtlicher schauspielerischer Interaktionen mit einem im letzten Bild freudig auf die ungewünschte Mutter zustrahlenden Kindchen und der Stagnation in ihrer Miene. Aus dem Zusammenbruch des Formalen formt sich Gewissheit, die maximal gegensätzliche und doch seltsam vereinte Ergänzung zum schon Generationen an Horrorfans ratlos zurückgelassen habenden Schlussbild aus Lucio Fulcis „Paura nella città dei morti viventi“ (1980). Die Freude ist eine fundamental falsche. Douglas Sirk hätte daraus einige Jahrzehnte später ein saftiges Hollywoodmelodram gemacht, doch wir befinden uns im Jahre 1919 und werden erdrückt von dieser vorrangig intellektuell gefärbten Geste in einem der reinsten Filme über die Disparität der (entworfenen) Bilder.

    „Paura nella città dei morti viventi“ (Lucio Fulci, 1980)


Seine gelehrte Frau/Frauen, die nicht heiraten sollten – Deutschland 1919 – 42 Minuten – Regie: Eugen Illés – Produktion: Eugen Illés – Drehbuch: Edmund Edel, Eugen Illés – Kamera: Eugen Illés – Schnitt: ? – Darstellende: Esther Carena, „Herr Berger“, Blandine Ebinger, „Herr Alma“, Siegmund Aschenbach u.v.a.

Dieser Beitrag wurde am Sonntag, Oktober 10th, 2021 in den Kategorien Ältere Texte, André Malberg, Blog, Blogautoren, Deutsche Lieblingsfilme, Filmbesprechungen veröffentlicht. Sie können alle Kommentare zu diesem Beitrag über den RSS 2.0 Feed verfolgen. Sie können diesen Beitrag kommentieren, oder einen Trackback von ihrer eigenen Seite setzen.

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