100 deutsche Lieblingsfilme #64: Nicht verzeichnete Fluchtbewegungen oder: Wie die Juden in der West-Eifel in die Freiheit kamen (1990)





Am Anfang des Kinos war das Licht und es lehrte den Menschen sehen, den Blick solange feinzustellen, bis ihm die nunmehr schwieligen Augen in ihren Höhlen erstarren. Zu Sehen, gründlich, gebrochen und neujustiert, allumfassend, unter Zuhilfenahme der Bogenlampen, Kondensoren, Blenden des Projektors, das ist ein Verwundbarkeit stiftender Akt, in allen außer den Verhärmtesten nährt er eine der mächtigsten Emotionen des Lebens, das Mitleid. Dietrich Schuberts „Nicht verzeichnete Fluchtbewegungen“ handelt von diesen untrennbar verwobenen Wahrnehmungen und Empfindungen. Betulich gleitend tastet sich gleich in einer der allerersten Aufnahmen das Kameraauge am warnschildbehangenen Gitterzaun längs, bevor es, von einem fast schmierestehenden Umschnitt auf den aus der gewählten Perspektive unüberwindbar scheinenden Wassergraben der Feste mit Zugang versehen, ruhigen Schrittes in den tiefschwarzen Eingangstunnel des einst von den deutschen Eroberern zum Auffanglager umfunktionierten Fort Breendonks hineinschreitet. Doch das mechanische Auge ist kein menschliches, eine Gewöhnung an die neuen Lichtverhältnisse bleibt aus. Noch einige Male werden wir im Laufe der folgenden anderhalb Stunden den Aufenthaltsort wechseln, die Dunkelheit indes nie mehr verlassen.

„Nicht verzeichnete Fluchtbewegungen“ ist ein ungleich einsilbigerer, überdies spröderer Film als Dietrich Schuberts hochkomplexes Zeitengemälde „Kriegsjahre in der Eifel“, das – wie man meinen möchte – die bekannten Techniken bestimmt weiter rafiniert haben, fast zwingend nach diesem roheren Werk enstanden sein müsse. Man irrt. Er ist auch ein zutiefst persönlicher Film, der beim Schildern der Raumverknapper Flucht und Gefangenschaft stets ergänzend, im gleichen Atemzug meist, von jenen vielmehr inszenatorischen Verknappern Zeugnis ablegt, die unweigerlich eintreten, hängt man selbst mit drin. Die am redseligen Küchentisch eingefangenen Fotografien, die wie so oft in Schuberts Kino ihr ganz eigenes Leben abseits der Tonspur neu beginnen dürfen, sie zeigen hier eben nicht allein die zu Fluchthelfern gewordenen Elternteile anderer, sondern auch den Regisseur – als glückliches Kind mit dem Vater, in Sicherheit, im Schnee, in Auschwitz, zu dessen Aufsichtspersonal der auf ewig in einem solch fürsorglichen Moment Erstarrte gehörte.

Wie Schubert selbst im Monolog über den in der Kadrage vielfach aus abweichender Perspektive zu greifen versuchten Erinnerungsstücken mutmaßt, ist es wohl diese Vernarbung der eigenen Seele, die in über Jahrzehnte ganz genau hinschauen ließ. Manchmal besonnen, optimistisch, dann zweifelnd, am Rande der Kräfte. Zuallererst ein Kraftakt, das ist dieser Film. Ob er unablässig und sich der Bewegungsfreiheit des Nachgeborenen nur allzu bewusst die Wege Verzweifelter nachläuft, die Kamera eine fragende 180°-Drehung inmitten des unübersichtlichen Unterholzes der Schneeeifel vollführen lässt oder sich, in einer bemerkenswerten Visualisierung der Schubertschen Methodik, die in der Düsternis Fort Breendonks ausgestellte Nachbildung eines Wachmannes unter der unnachgiebigen Brennweite eines zwischen Vitrine und Kamerlinse geschobenen Vergrößerungsglases wiederfindet, das der Kamera statt in fortwährender Erkundungsfahrt dem Innersten hinter Uniform und unverbindlichem Puppenlächeln nachspürt. Die besten Filme Dietrich Schuberts reflektieren die eigene Ratlosigkeit stets ganz genau, lassen andere, manches Mal Entleibte, zu Wort kommen, zeichnen gemeinsam mit diesen eine Verbindungslinie von dem Wunsch, es den aus lebensbedrohlichem Uneigennutz gehandelt habenden Eltern gleichzutun, direkt zu der drohend wabernden Ahnung, es vom Leben auf die Probe gestellt möglicherweise nicht bewältigen zu können. Ist „Nicht verzeichnete Fluchtbewegungen“ unter diesen Filmen der beste – ich vermag es nicht zu sagen. Der unerschrockenste womöglich, der erdrückendste wahrscheinlich – in jedem Falle: einer der wahrhaftigsten der deutschen 1990er.


Nicht verzeichnete Fluchtbewegungen oder: Wie die Juden in der West-Eifel in die Freiheit kamen – Deutschland 1990 – 95 Minuten – Regie: Dietrich Schubert – Produktion: Katharina Schubert – Kamera: Rudolf Körösi, Reinhard Dellit, Dietrich Schubert – Schnitt: Sophie Halpern – Musik: Wolfgang Hamm

[Titelbild Eigentum von SchubertFilm, Kronenburg]

Dieser Beitrag wurde am Dienstag, Mai 21st, 2019 in den Kategorien Ältere Texte, André Malberg, Blog, Blogautoren, Deutsche Lieblingsfilme, Filmbesprechungen veröffentlicht. Sie können alle Kommentare zu diesem Beitrag über den RSS 2.0 Feed verfolgen. Sie können diesen Beitrag kommentieren, oder einen Trackback von ihrer eigenen Seite setzen.

Eine Antwort zu “100 deutsche Lieblingsfilme #64: Nicht verzeichnete Fluchtbewegungen oder: Wie die Juden in der West-Eifel in die Freiheit kamen (1990)”

  1. Filmforum Bremen » Das Bloggen der Anderen (27-05-19) on Mai 27th, 2019 at 17:38

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