100 Deutsche Lieblingsfilme #60: Melodie des Herzens (1929)




In Bo Arne Vibenius Thriller – En grym film, einem der niederschmetterndsten Kunstwerke des 20. Jahrhunderts, gibt es auch eines der niederschmetterndsten Filmenden zu bestaunen. Christina Lindberg, allein, mit sich selbst, ihrem Peiniger, und einem Pferd. Eine ins Surreale galoppierende, existenzialistische Versuchsanordnung, die in Melodie des Herzens auf vielgestaltige Weise vorweggenommen wird. Auch hier steht am Ende ein Pferd etwas verloren auf einer Wiese herum, und ähnlich wie Lindbergs Peiniger bei Vibenius, erstarrt auch Willy Fritsch im Angesicht des Unfassbaren, des Unbegreiflichen. Seine Seele spiegelt sich im arglosen Tier, er ist den jüngsten Ereignissen ebenso hilflos ausgeliefert. Eine bittersüße Erkenntnis. Denn das Schild, welches das Pferd um den Hals trägt, hilft ihm zwar vordergründig, die Situation zu entschlüsseln (und dem Zuschauer, sie emotional zu durchdringen) – doch die im Leben so ersehnte Sinnhaftigkeit lässt sich dadurch auch rückblickend nicht erschließen. Wie das Pferd den Menschen, sind auch wir einander ausgeliefert. Einen Überblick, gar die Kontrolle über die eigenen Handlungen zu besitzen, erscheint als Illusion. Diese Ménage-à-trois, unsere unheilige Allianz von Gesellschaft, Mensch und Tier, spricht von Trost und Einsamkeit. Um den Hals fallen dem Pferd aber weder Lindberg noch Fritsch. Beide denken an zwei gänzlich unterschiedliche Hälse.

Überschneidungen, Überlappungen. Der tönende Film. Hanns Schwarz ist hier mithilfe dreier Kameramänner zunächst eine Stadtsinfonie, dann, nach der Choreografie der Räume, eine Choreografie der Gesten, eine psychologische Studie gelungen. Vom Symbolismus zum Realismus, vom expressionistischen Gestus der Montagekunst zur Innerlichkeit des verweilenden Individuums. Über der das Geräusch – und sein Klang! – als Anwesendes wie entscheidend auch als Abwesendes, majestätisch schwebend, wie ein junger Kalif den Thron der Kinematographie besteigt.

Kleine Preziosen, wenn beispielsweise der Ton das Rededuell zweier Väter, auf einer Bank, vor dem Hause sitzend, Pfeife rauchend, mit einer unnachahmlichen Lässigkeit ins Bild setzt, werden so zu neuartigen künstlerischen Offenbarungen: Die rein filmische Dauer, als Anmutung von Präzision in Bild und Ton, welche sich nur in dieser symbiotischen Verflechtung als Eigentliches manifestieren kann. Anwesenheit in Echtzeit suggerierend und dabei gleichzeitig als kabarettistisch absurdes Filetstück funktionierend. Ein mit filmischer Urkraft umgesetzter Naturalismus, als monumentales technisch-kapitalistisches Unterfangen.

Während wir bei Vibenius am Ende in die Augen Lindbergs Blicken, bevor sie auf der leeren Landstraße den Film gen Horizont verlässt, und der Wind durch die kahlen Äste eines einsamen Baumes am Straßenrand pfeift, zeigt uns Hanns Schwarz in Melodie des Herzens zunächst wieder eine Trauerweide in ihrer ganzen Pracht – die gleiche Einstellung wie zu Beginn des Films – bevor die Blühende nach einer Überblendung kahl vor uns erscheint. Ein Übergang, vom Anfang zum Ende, eine Erinnerung, als Sinnbild und Abgesang: Das Schwanenlied des Stummfilms.

Das mag der Antrieb gewesen sein, ein Antrieb, der es ermöglichte, dass ein aus heutiger Sicht so unermesslich experimentell erscheinendes Bestreben, nicht nur in Angriff genommen, sondern auch in diese überbordend strenge wie ausufernde Form gegossen wurde. Und daraufhin die Lichtspielhäuser der ganzen Welt erobern durfte, in einer Zeit, als die kommerziellsten Elemente zeitweise die künstlerischsten Blüten trieben.

Vielleicht gehören gerade auch deshalb die ersten Jahre des Tonfilms, Ende der Zwanziger, Anfang der Dreißiger Jahre, zum Schönsten was die Filmgeschichte bis heute hervorgebracht hat. Melodie des Herzens ist der lebende, atmende Beweis.


Melodie des Herzens – Deutschland 1929 – Regie: Hanns Schwarz – Produktion: Erich Pommer – Drehbuch: Hans Székely – Kamera: Günther Rittau, Hans Schneeberger – Musik: Werner Richard Heymann – Ton: Fritz Thiery – Darsteller: Dita Parlo, Willy Fritsch, Gerö Mály, Marcsa Simon, Janos Körmendy, Juliska D. Ligeti, Anni Mewes, Tomy Endrey, Ilka Grüning

Dieser Beitrag wurde am Samstag, August 19th, 2017 in den Kategorien Blog, Blogautoren, Deutsche Lieblingsfilme, Filmbesprechungen, Sano veröffentlicht. Sie können alle Kommentare zu diesem Beitrag über den RSS 2.0 Feed verfolgen. Sie können diesen Beitrag kommentieren, oder einen Trackback von ihrer eigenen Seite setzen.

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