100 Deutsche Lieblingsfilme #58: He Joe (1966)



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Samuel Beckett hat mit dem 1965 erschienenen, puritanisch betitelten Film (Regie: Alan Schneider) zum ersten Mal ein Drehbuch geschrieben. Sein erster Kinoausflug, ein Stummfilm mit einem alternden Buster Keaton, der die meiste Zeit nur von hinten zu sehen ist, sollte auch sein letzter sein. Aber der Film ließ ihn nicht los. Im Jahr der Premiere hat Beckett dem Süddeutschen Rundfunk (SDR) angeboten, ein Fernsehspiel zu inszenieren. Das Ergebnis wurde 1966 zu Becketts sechzigstem Geburtstag gesendet: He Joe, ein dreißigminütiger Kurzfilm in Schwarzweiß, mit einem schweigenden Hauptdarsteller und einer unsichtbaren Frauenstimme, die ihm zuflüstert.

Man merkt sofort, dass He Joe nicht für die Bühne, sondern für das Medium Fernsehen geschrieben ist. Der Film bleibt exakt wegen seinem Einsatz der technischen Mittel im Gedächtnis. Eine Kamera bewegt sich (ohne einen einzigen Schnitt übrigens) auf Joes Gesicht zu, während der hauchende Voice Over einsetzt. Je länger das Wispern andauert, umso näher kommt das Kameraauge dem Gesicht, das mehr und mehr wie eine Kraterlandschaft anmutet. Und während der Blick auf dieser kargen Landschaft aus Schatten und Formen verweilt und die weibliche Stimme scheinbar Unzusammenhängendes erzählt, was sich nach und nach in die traurige Geschichte einer unglücklichen Liebe und eines Selbstmords verwandelt, entstehen Bilder vor dem geistigen Auge. So einfach und doch…

He Joe ist ein Film über die destruktive Macht der Erinnerung, über die Seligkeit des Vergessens; eine Meditation über die Einsamkeit, aber auch ein formales Experiment, ein erstes Herantasten an die zahlreichen Möglichkeiten visuellen Erzählens. Der Film wurde auf Video und, aufgrund der technischen Einschränkungen, in einem einzigen Take gedreht. Nancy Illig, die den Part der Stimme übernahm, musste ihren Text live einsprechen, und Deryk Mendel (Joe) hörte diesen mittels Lautsprecher. So hat man die Konzentration und Energie des Theaters und die Mittel des Films, die zusammen eine einzigartige Wirkung erzeugen.

Beckett sollte noch sechs weitere Filme für den SDR drehen, darunter sogar eine Neubearbeitung von He Joe (mit Heinz Bennent als Joe), die dem ersten Film übrigens nicht das Wasser reichen konnte. Dabei hat er seine Linie der Vereinfachung und „Entschlackung“ konsequent weiterverfolgt. Die Fernsehspiele wurden wortarmer, abstrakter, reduzierter. Diese Methode findet in Quadrat I+II ihren Höhepunkt, wo vier Gestalten in langen Gewändern ein Quadrat nach einem festgelegten Muster durchlaufen. Eher eine filmische Installation als ein Film.

Beckett hat seine Filmsprache über die Jahre mehr und mehr verfeinert, doch ist sein erster Film (mag er auch der konventionellste der sieben SDR-Filme sein) der wirkungsvollste. Alles, was er in den nachfolgenden Werken behandeln wird, ist hier bereits ausformuliert, in vielerlei Hinsicht noch etwas roh und einen Tick zu nah an der Bühne, aber von einer brutalen Aufrichtigkeit. Die Sprache ist hier zwar noch das Element, das alles zusammenhält, doch wird schnell klar, dass der Film von der Stille handelt, die das Flüstern, das immer ohrenbetäubender wird, ständig durchdringt.

Die Stille, die filmisch so schwer zu fassen ist, wird hier in ihrer Silhouette sichtbar. Sie ist die große Leerstelle, die die Themen des Films zusammenfasst. Am Ende verstummt die Stimme. Joe lächelt, deutet die Kamera an. Aber es ist ein beunruhigend starres Lächeln. Und dabei noch viel zu laut.

Safarow schreibt

He Joe – BRD 1965 – 29 Minuten – Buch und Regie: Samuel Beckett – Deutsch von Erika und Elmar Tophoven – Produktion: SDR (Süddeutscher Rundfunk) – Kamera: Horst Schalla, Jim Lewis – Darsteller: Deryk Mendel, Nancy Illig

Dieser Beitrag wurde am Freitag, Juni 3rd, 2016 in den Kategorien Blog, Blogautoren, Deutsche Lieblingsfilme, Filmbesprechungen, Sven Safarow veröffentlicht. Sie können alle Kommentare zu diesem Beitrag über den RSS 2.0 Feed verfolgen. Sie können diesen Beitrag kommentieren, oder einen Trackback von ihrer eigenen Seite setzen.

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