Zeitnah gesehen: Amrum (2025)

Gemeinhin pflegt man heute nicht mehr über den Tod des Führers zu weinen. Und dennoch geht er einem in Stellvertretung ganz nah zu Herzen, wenn man Zeuge wird, wie er sich hier über die Ohren in die Mimik der Menschen schleicht. Der kleine Nanning (Jasper Billerbeck) ist gerade zum Brunnen gegangen, als der Propagandasender im Haus die Nachricht vom furchtlosen Heldentod in Berlin berichtet und rasch von den markerschütternden Verzweiflungsschreien seiner Mutter überlagert wird. Eine ganze Weile lang interessiert sich die Kamera nur für sein Gesicht, auch die filmhandwerkliche Welt dreht sich nicht mehr. Starre Augen und Lippen lassen uns in die Seele sehn – hier bricht das einzige Universum zusammen, das man versteht, in dem man sich zu orientieren gelernt hat.
Obwohl die Menschen, die da gerade vor uns auf der Leinwand leiden, überzeugte Faschisten beziehungsweise deren indoktrinierter Hitlerjugendnachwuchs sind, geht dieser Anblick unweigerlich nah. So sind sie nun mal, die Regeln des Kinos. Es ist ein Bild so rein und gesellschaftspolitisch unschuldig wie die berühmte Einstellung aus Douglas Sirks „The Tarnished Angels“ (1958), in welcher der kleine Christopher Olsen seinen Filmvater Robert Stack mit dem Flugzeug ins Meer stürzen sieht. Hilflos gefangen im einen Augenblick zuvor noch freudsamen, seine Fahrt aber nun einmal noch nicht beendet habenden Jahrmarktkarussell wird ihm in der Kehrtwende eines Blinzelns schlagartig klar, dass die Welt sich weiterdreht, während in den Rotationen des eigenen kleinen Universums der Vater vor seinen Augen stirbt. Eine räumliche Reduktion, das kleine Fahrgeschäft ist groß, das eigentliche Leben klein, wie sie allein das Kino in dieser Intensität beherrscht.

Christopher Olsen in „The Tarnished Angels“
Man tut gut daran, auch die Insel Amrum als Karussell zu begreifen. Das bereitet angemessen auf den großen Karneval vor, die Umkehr und Reduktion, welche Fatih Akin und Hark Bohm nach Hollywoodvorbild betreiben. Denn ist es das große Wunder ihres Filmes, dass er nach diesem erhabenen Moment die Kurve kriegt, ganz richtig abbiegt und der Versuchung widersteht, den graduellen Ansatz eines für Nachgeborene genehmeren Weltbildes im jungen Hirn überhastet sozialdidaktisch auszudeklinieren. Der im Namen des Vaterlandes abwesende Erzeuger und der einspringende Führer – mehr Grundlage braucht man manchmal gar nicht. Stattdessen erzählen sie diese durch unsere eigene Schuld nun für alle Zeit urdeutsche Geschichte als Heldenreise in der Tradition amerikanischer Abenteuerliteratur des 19. Jahrhunderts. Den ganzen Film über jagt Nanning fortan in der Lebensmittelkrise der letzten Kriegstage erst Weißbrot, dann Honig, dann Butter nach, um seine die Nahrungsaufnahme verweigernde Mutter mit dem zu versorgen, von dem sie ganz genau weiß, dass man es ihr nur versagen kann.

Fündig wird er dabei mal im Tauschgeschäft, mal in amoralischer Aneignung à la Huckleberry Finn. Vater und Führer sind auf einer solchen Mission von höchster Dringlichkeit rasch vergessen, das Weltgeschehen bleibt bestenfalls Hintergrundrauschen, schlimmstenfalls ein weiteres Hindernis im Pfad. Wie der Kadaver des tiefenverstrickten Onkels, der irgendwann das in der werdenden Welt sinnlos gewordene Hackenschlagen gegen einen selbstinduzierten Kopfschuss eintauscht. Er bleibt Staffage, das klaffende Loch im Hinterkopf geistert im halbscharfen Vordergrund der Aufnahme herum, das Wesentliche – die so beim Tagesfrühstück nicht mehr vollends geleerte Butterdose – liegt im Frühstücksschränkchen, aus welchem Hannig sie begierig an sich nimmt. Das erinnert ein wenig an den pragmatischen Kannibalismus, der sich in Edgar Allan Poes einzigem Roman „The Narrative of Arthur Gordon Pym of Nantucket“ (1838) irgendwann unter den Überlebenden eines Schiffsunglücks einstellt. Er ist schrecklich, aber zur Kenntnis genommen, die Nahrungsaufnahme bleibt wichtiger, der Akt selbst ein weiteres Schauerbild auf der Seereise ins Erwachsenwerden. Auch Deutschland ist ein Schiffsunglück unterlaufen, zum aus der Bibliothek der belesenen Arier entliehenen „Moby Dick“ (1851) meint Nannings dem eigenen Stand nicht so recht angemessener, aber inselkluger Freund Hermann einmal, dass Kapitän Ahab der Führer sei, sein Schiff das deutsche Reich, Moby Dick dann wohl der Amerikaner, vielleicht aber auch der liebe Gott.

Gerade in solchen lapidar schaurigen Momente und kindlichen Reaktionen auf das Grauen jener Tage ist „Amrum“ ein wunderschöner, großer Film darüber, wie klein die Welt sein kann. Eine willkommene Erinnerung in Zeiten, in denen sie gerade den Jüngsten oft unüberschaubar riesig erscheint; jeder falsche Schritt das Ende, jede Erkenntnis immerfort zu spät. Man spürt in jeder autobiografischen Faser des Stoffs, dass er von einem Menschen geschrieben wurde, der die Welt noch „klein“, auch in schlimmsten Tagen fast wie aus einem spannenden Buch gekannt hat. Aus dieser Altergelassenheit heraus ist Nannings Weg notwendigerweise auch eine Geschichte darüber, wie diese Welt unweigerlich um einen herum wächst, je mehr man beiläufig versteht von den Verstrickungen und Grausamkeiten der eigenen Eltern. Dass sie sich vergrößert, wenn man erwachsen wird, und daran auch nichts Schlimmes ist. Diese Erkenntnis ist das Schönste, was Hark Bohm den nun Jungen hinterlassen konnte, seine allmählich von dieser Erde scheidende Generation immer noch ein wenig kann.

- Für Hark Bohm, 18.05.1939 – 14.11.2025
Amrum – Deutschland 2025 – 93 Minuten – Regie: Fatih Akin – Produktion: Fatih Akin, Lara Förtsch, Herman Weigel, Felix Wendlandt – Drehbuch: Fatih Akin & Hark Bohm, nach dem gleichnamigen Roman von Hark Bohm – Kamera: Karl Walter Lindenlaub – Schnitt: Andrew Bird – Musik: Hainbach – Darsteller: Jasper Billerbeck, Laura Tonke, Lisa Hagmeister, Kian Köppke, Detlev Buck u.v.a.
[Alle Filmbilder Eigentum der Warner Brothers International Deutschland GmbH]
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