Film und Buch (#7): Jean-Luc Godard – Einführung in eine wahre Geschichte des Kinos (1981)
Das vorliegende Buch ist nicht, wie man meinen könnte, von Godard geschrieben worden. Nicht nur weil es eine Übersetzung ist, sondern vielmehr – wie es in der wunderbaren Einleitung zu Beginn der deutschen Ausgabe lautet – „die Übersetzung einer Übersetzung einer Übersetzung“, und zwar von einem Medium ins andere. Denn Godard hat das Buch auch nicht in der französischen Originalausgabe geschrieben: er hat es gesprochen.
Ursprünglich war ein Film vorgesehen gewesen, ein Videofilm. 1978 war Godard am Conservatoire d’Art Cinématographique in Montreal, wo er innerhalb einer Reihe von Filmkursen mit seinen Studenten eine Geschichte des Film erarbeiten wollte, die wohl als Vorläufer seiner späteren „Histoire(s) du cinéma“ zu gelten hat. Insofern ist das daraus resultierende Buch ein Protokoll im doppelten Sinne: einerseits als Abschrift und Übertragung von Tonbandaufzeichnungen die während der Gespräche im Seminar in Montreal entstanden sind, wobei im vorliegenden Fall leider nur Godard selbst zu Wort kommt, und die Fragen, Einwände und Eigenleistungen der Studenten weggelassen worden sind. Andererseits ist das Buch aber auch ein beredtes Zeugnis von Godards Lebensprojekt einer Filmgeschichte im und als Film. Was mit dem eigenwilligen Schreiben über Film in den Cahiers du cinéma anfing, und spätestens ab „Außer Atem“ offensichtlich war, lässt sich hier noch einmal detaillierter nachvollziehen, und bietet einen Schlüssel zu Godards gesamtem künstlerischen Schaffen.
Leider ist mir nicht bekannt, wer nun wirklich das Buch geschrieben hat, also den Text, den wir als am Seminar nicht teil-genommene trotz aller gegenteiligen Bemühungen von Godard im Endeffekt als resultierendes Medium präsentiert bekommen haben. Demzufolge schloss ich mich zu Beginn meiner Lesereise dann tatsächlich der Empfehlung von Frieda Grafe und Enno Patalas an: „Sich seiner Filme und Videos zu erinnern, ist bei der Lektüre hilfreich, wie Dialoge aufgenommen und geschnitten sind. Man muß sich die Situation vorstellen, die Anordnung von Stühlen und Tischen in einem Lehrsaal, sich das Schweigen, die Fragen und Gegenreden der Zuhörer dazudenken oder die Schnittstellen – im Buch durch Leerzeichen markiert – spüren, wo die Zwischenfrage weggefallen ist. Wie in A Bout de souffle, wo man beim Dialog immer nur einen von beiden sieht und hört und bei jedem Zeitsprung sein Kopf ruckt.“
Eingeteilt ist das Buch in sieben Abschnitte, die als Reisen betitelt sind, und jeweils einzelne Filme von Godard mit einem oder einer kleinen Handvoll anderer Filme in Beziehung setzen. Zwischendurch ist der Text mit eigenwillig bearbeiteten Schwarz-weiß Bildern durchsetzt, immer nur ein Bild, eine Einstellung, pro besprochenem Film.
Was Godard sich im ersten Kapitel wünscht, wovon er spricht und was er sich herbeisehnt, wurde etwa zeitgleich mit der Popularisierung von Heimvideogeräten möglich, und durch den Computer und das Internet sind dem Individuum inzwischen Werkzeuge in die Hand gelegt, die eine systematische Erschließung der Filmgeschichte möglich erscheinen lassen. Heutzutage gipfelt solch eine Beschäftigung mit einzelnen Filmen wie Godard sie während seiner Zeit in Montreal im Sinn hatte in Videoessays die man, gleichermaßen von Liebhabern und Filmhistorikern hergestellt, zum Großteil kostenlos im Internet begutachten kann (ein solches Werk von Jim Emerson zu Roman Polanskis Chinatown erstellt, habe ich im August an dieser Stelle vorgestellt). Godards Idee hat also Schule gemacht, seine Histoire(s) haben viele Vorläufer und Nachahmer. Ein lohnenswertes Projekt wäre hierbei auch die Betrachtung des Fernsehens, genauer filmgeschichtlicher oder -analytischer Programme im Fernsehen, wie es für den deutschsprachigen Raum zum Beispiel Michael Baute, Stefan Pethke, Volker Pantenburg, Stefanie Schlüter und Erik Stein auf ihrer Internetseite Kunst der Vermittlung in Angriff nehmen.
Manchmal bekommt man den Eindruck als schriebe ein Schizophrener, und man ist versucht dies Godard selbst im Akt des Sprechens als Defizit auslegen. In anderen Abschnitten wiederum ist alles sehr einfach und klar. Es scheint vor allem an der Tagesform zu liegen, je nach Vorlesung, nach Stimmung, Interesse, wohl nach Dynamik der gesamten Situation, von der wir ja nur einen Teilabschnitt zum Lesen präsentiert bekommen. Das kann frustrierend sein, aber auch sehr erfrischend, inspirierend. Was überrascht, ist Godard als Idealist. Der Glaube an das Bild, an die Evidenz des Bildes. Etwas was er vielleicht durch Bazin vermittelt bekommen hat, worum es bei Bazin immer geht: was sagt mir das Bild? Als Filmemacher fragt er sich natürlich, was ein Bild aus verschiedenen Blickwinkeln betrachtet, verschiedenen Zuschauern sagen könnte, ZEIGEN könnte. Aber immer im Zusammenhang. Ein Bild spricht selten allein. Man spricht immer zu Anderen. Hier drücken sich auch die Sehnsüchte von Godard aus, die sich als Konstante durch alle Vorlesungen ziehen. Der Wunsch nach Kommunikation, das Bedürfnis nach Kommunikation. Die Vereinsamung der Menschen, vielleicht auch als Folge nicht erfüllter Ideale der 60er, bzw. als darauf folgende Auseinandersetzung mit sich selbst. Sich selbst als Anderen denken. Das führt Godard zumindest wunderbar aus.
Als Work-in-Progress ist das Buch ein Geschenk an jeden Filmenthusiasten. Nicht indem Godard beweist, dass er Antworten hat, sondern indem er ständig fragt. Abbruch, (Neu)Anfang, Versuch. Etwas, was sein Filmschaffen die nächsten 30 Jahre durchgehend prägen wird. Der Idealfall eines Buches, das man wirklich immer wieder in die Hand nehmen kann, um es an beliebiger Stelle aufzuschlagen. Großartig. Und eigentlich müsste man weinen. Die Melancholie, die den gesamten Diskurs durchzieht, wie die Melancholie in Godards Filmen – Godard als Sisyphos, als Idiot, als Narr, als Weiser, der versucht sich gegen seine Ohnmacht aufzulehnen, indem er sich zwingt sie zunächst einmal anzunehmen, um sie dann eingehender zu betrachten, und darüber Geschichten zu erzählen. Denn Godard ist ein eindrücklicher Geschichtenerzähler. Und das Weinen wäre ein glückliches. Eines des Aufbruchs, nicht des Abschieds. Und dann:
Jean-Luc Godard: Einführung in eine wahre Geschichte des Kinos
OT: Introduction à une véritable histoire du cinéma (Tome I)
Editions Albatros, Paris 1980
Aus dem Französischen ins Deutsche übersetzt von Frieda Grafe und Enno Patalas
Carl Hanser Verlag, München Wien, 1981
1. Auflage
PS: Leider ist es mir nicht gelungen selbst ein Bild des Buchcovers zu erstellen. Daher habe ich das beste, das sich im Internet finden ließ ausgesucht. Bei Gelegenheit werde ich vielleicht einen eigenen Schnappschuss machen und ihn nachträglich hier hochladen.
Ich freu mich immer wieder aufs neue, dass Du nach Mainz bist! auf wenn dieser gute Text wenig damit zu tun haben mag.
Aber ich reime mir die Sachen selber zusammen:)
🙂 Danke für die netten Worte. Ist schon gemütlich hier in Mainz – jetzt muss ich ja sogar Filme für die Uni gucken! 😉
Den Text hatte ich übrigens schon seit März fertig auf meiner Fesplatte liegen (hatte es nur vergessen, wegen Umzug und dem ganzen Streß). Heute ist mir das dann zufällig eingefallen, und nach ein paar kleineren Korrekturen und der Bildsuche, ist er dann online gegangen. Interessant auch seine eigenen Sachen zu lesen, wenn man nicht mehr weiß was man geschrieben hatte, und dann auch selbst überrascht ist…
[…] Ich bin über ein lang zurückliegendes Filmstudium an der Filmakademie Wien und über die praktische und theoretische Auseinandersetzung mit “bewegten Bildern” 1990 in der Filmbildung angekommen. Seither agiere ich in einem „Film und Schule“ Kontext, als eine Art von „Zwischenraumgespenst“ (so Robert Rauschenberg) das versucht, die Bedürfnisse, Ansprüche und Erfahrungen über Film und Schule zu bündeln. Dann muss aber alles wieder auseinandergedröselt werden um zu schauen, was mit diesen übrig gebliebenen Resten alles möglich wäre – denn sehr oft herrscht große Unverträglichkeit! Ich möchte hier nun keine Gebrauchsanleitungen liefern und hier soll nicht „Malen nach Zahlen“ vorgestellt werden. Hier möchte ich auch keine Module vorstellen, sondern ich möchte auf modellhaftes verweisen, dass sich vielleicht nicht immer auf den ersten Blick bewährt hat. Aber: „wenn man sieht, wie etwas gemacht ist, dann sieht man auch, wie man es anders machen könnte!“ (so Jean Luc Godard in seiner „Einführung in eine wahre Geschichte des Kinos“ ) […]