Doppel-Zitat der Woche
„Die Sensationslust ist wie Fressgier. Wer einen appetitlichen Batzen verschlungen hat, den verlangt es nach neuer Kaubefriedigung. Mit der Schaubefriedigung ist es ähnlich. Die Lust am Nervenkitzel ist wie eine Droge, die immer wieder neu injiziert werden muß. Wer Sensationen gesehen hat, will Sensationelleres geboten bekommen.
Jetzt kommt von MONDO CANNIBALE eine Fortsetzung, gegen die der 1. Teil im nachhinein wie ein Grimm’s Märchen wirkt. Was hier zwei Männer im malaysischen Dschungeldickicht sehen und am eigenen Leibe erleben, läßt auch beim hart gesottenen Kinogänger ein eher flaues Gefühl im Magen hochsteigen. Nach 1 ½ Stunden zerreißender Spannung und schauriger Sensationen kann der Zuschauer das in bitterem Lachen aufkommende Gefühl genießen, wieder einmal 100%ig die eigene Nervenkraft getrimmt zu haben. Als Zeuge im Kinoparkett läßt es sich leichter leben, denn als Wissenschaftler, der unter Kannibalen fällt. Die Presse hält diesen Film für das mutigste und gefahrvollste Kinoabenteuer der letzten Jahre.“
– Werberatschlag des deutschen Filmverleihs zum Kinostart von Ruggero Deodatos MONDO CANNIBALE 2. TEIL – DER VOGELMENSCH.
„Kunst und Schund. Ich weiß noch, wie ich einmal mit einem befreundeten Paar ins Kino gehen wollte. Bergmans Von Angesicht zu Angesicht hatten sich die zwei ausgesucht, die beide sehr diskussionsfreudig und problembewußt waren. Auf dem Weg zum Kino kamen wir an einem anderen Lichtspielhaus vorbei, einem richtigen Schmuddelkino, in dem gerade ein Horror-Sexfilm von Jess Franco lief. Die Aushangphotos reizten mich. Ich hatte Lust auf Kino und wollte nicht nur einen Film sehen. Also ging ich in den Franco-Film, das Pärchen in den Bergman. Ich brauchte noch meine Zeit, bis ich Bergman schätzen lernte, bis ich das Phantastische, die Poesie und den Horror entdeckte in Das siebte Siegel, Das Schweigen, Die Stunde des Wolfs. Die Kunst Francos hatte ich längst erkannt. Kunst und Kitsch sind relative Begriffe im Kino, vor allem dem phantastischen.“
– Aus: „Einleitung: Im Reich der Schatten“ in: Hans Schifferle: Die 100 besten Horror-Filme. Heyne Filmbibliothek, 1994, München. S. 11.
Versuch einer Synthese:
(Hans Schifferle zu „Nackt und zerfleischt“ (Cannibal Holocaust); in: Die 100 besten Horrorfilme, S. 118)
„Wir müssen fertig werden mit unserem Ekel und unserer Faszination, wir, DIE KANNIBALEN DES AUGES. Nur einen Ausweg sieht Deodato: die Poesie. Einmal fährt er mit der Kamera an ein Eingeborenen-Mädchen heran, das auf einem Holzpflock aufgespießt ist: ein krasses Märtyrerbild, schmerzlich und beinahe zärtlich.“
Das Schifferle-Zitat (das aus Andis Post) ist die Ultra-Verstehung. Ich spüre das, genau so. Die Vorstellung, eine Kinovorstellung von VON ANGESICHT ZU ANGESICHT einer Kinovorstellung eines Jess Franco-„Horrorsexfilms“ vorzuziehen scheint mir unerträglich. Täte ich es, ich hätte das Gefühl, mich tödlich zu versündigen. In diesem Satz („Ich hatte Lust auf Kino und wollte nicht nur einen Film sehen.“) scheint mir mein persönliches Cine-Ethos (sofern ich eines besitze) nahezu perfekt eingefasst. In deiner Zusammenstellung eben dieser beiden Zitate, in ihrem Zusammenspiel, eine Ideale Verdinglichung der, hm, Reinheit, die du offensichtlich (ich wohl auch) in unseren Exploitation- und Sleaze-Expeditionen erfährst.
Ansonsten… Schifferles Grundtenor scheint mir immer wieder dieses „Kino ist Begehren“. In allen Ausführungen und allen Abstufungen von Großartigkeit und Unannehmlichkeit, für mich persönlich. Ein lustiger Zufall, dass du das jetzt postest, Andreas – vor einigen Tagen erst bin ich dank Schifferle endlich wieder in Gedanken auf HOLLYWOOD FLING gekommen und verzehre mich jetzt unter körperlichen Schmerzen nach der offenbar bereits erhältlichen DVD, ungeduldig der späten Starlet-Hiphop-Wackelkamera-Altherren-Ekstasen des Eckhart Schmidt harrend.
Interessant an dem zweiten Zitat finde ich ja das Verhältnis von „Film“ und „Kino“, weil mir da sofort ein anderes Zitat zu Fellinis „Achteinhalb“ einfällt, worin die beiden Begriffe gerade auf genau umgekehrte Weise gegenübergestellt werden:
„Ich finde es schade, daß die meisten Filme so anspruchslos sind. Nehmen Sie dagegen ACHTEINHALB. Als ich den zum ersten Mal sah, war das eine Offenbarung für mich. Alles andere war nur Kino, aber das war ein Film! Heute geben sich zu viele Regisseure damit zufrieden, das Publikum zu unterhalten. Das ist sicher schon etwas. Aber der Idealfall wäre, wenn die Filme die gleiche Wirkung hätten wie ACHTEINHALB, nämlich im Zuschauer eine völlig neue Erfahrung auszulösen.“
(DAVID LYNCH)
@Simon
Der schöne Text zu CANNIBAL HOLOCAUST würde in der Tat gut zum Werberatschlag von MONDO CANNIBALE 2 passen (eigentlich sogar optimal), wobei es natürlich durchaus Absicht waren, lieber zwei Texte zu wählen, die sich nicht ganz so direkt aufeinander beziehen lassen und im Zusammenspiel vielleicht trotzdem eine Perspektive eröffnen.
@Christoph
„Ich hatte Lust auf Kino und wollte nicht nur einen Film sehen.“ ist für mich auch der zentrale Satz, den ich an dem Zitat liebe. Das spricht uns wohl allen irgendwie aus der Seele, wie ich auch mal im Gespräch mit Sano (eben über jenes Horrorbuch und das Zitat) feststellte. Überhaupt diese pure Lust am Kino, an Bildern, an dem Aufregenden, was da im dunklen Saal wartet – das kommt mir bei vielen Autoren deutlich zu kurz oder es interessiert sie vielleicht auch einfach weniger. Das mit der „Reinheit“ (zugespitzt: „die Reinheit des Schmutzes“) könnte hinkommen, irgendwie, ja.
In der Tat hatte der Zeitpunkt des Zitats übrigens auch bei mir letztlich wohl mit HOLLYWOOD FLING zu tun, auf dessen Veröffentlichung mich unsere 70mm-Festival-Bekanntschaft C. hinwies, nachdem wir uns in Karlsruhe über den Film unterhalten hatten. Habe ihn mir dann umgehend bestellt, war beim ersten Reinschauen noch etwas unschlüssig, beim zweiten Nachbohren aber derart angefixt, dass ich ihn mir kurzerhand sogar nach Wien mitgenommen habe, um ihn notfalls sogar dort zwischendurch schauen zu können, was in Erinnerung der nicht sonderlich sleazophilen letzten beiden Viennale-Jahrgänge als dann dringend benötigte Abwechslung doch sehr reizvoll erschien. Zum Glück gab’s allerdings diesmal auch bei der Viennale durchaus immer wieder Sleaze (es muss an diesem Jahrgang liegen, oder an den feinjustierten Antennen :D), und Zeit blieb zwischendurch sowieso nicht wirklich, so dass ich bislang nicht dazu kam. Trotzdem überkam mich in Wien immer mal wieder die Lust auf den Film, sie ist fast ungeheuerlich geworden, so dass ich sie vielleicht erstmal wieder etwas abkühlen lassen sollte, um nicht enttäuscht zu werden. Seit dem zweiten Reinstechen rechne ich eigentlich mit nichts weniger als einer kleinen Offenbarung.
@Settembrini
Das ist in der Tat interessant, weil die Begriffe dabei mit Sicherheit jeweils nochmal anders aufgeladen sind (schon allein, weil es sich in dem Fall um eine Übersetzung handelt), man es also nicht eins zu eins vergleichen kann. Mir scheinen das zwei Perspektiven zu sein, die jeweils für sich etwas entdecken – im Kino, im Film -, und sich darin vielleicht ähnlicher sind, als die Begrifflichkeiten anzudeuten scheinen, auch wenn die Richtung erstmal eine andere ist. Wobei ich nicht verleugnen kann, dass mir das abwertende „nur Kino“ im Lynch-Zitat unsympathisch ist, fast dünkelhaft anmutet, auch wenn er dabei wiederum natürlich einen anderen Bezugsrahmen als Schifferle aufmacht. In dem Zusammenhang fällt mir auch die Unterscheidung zwischen „film“ und „movie“ im Englischen ein, die Tarantino in Bezug auf NATURAL BORN KILLERS mal besonders betont hat, wenn ich mich recht erinnere. Etwas ganz anderes wäre noch der puristische Aspekt, die Unterscheidung zwischen „Film“ (auf Filmmaterial gedreht) und „Video“ (auf Video bzw. digital gedreht), unter dem betrachtet „Film“ schon sehr bald schon aus ganz anderen Gründen etwas sehr rares, außergewöhnliches sein wird. Und in diesem Sinne dann auch eher synonym mit „Kino“ gebraucht wird, wie z.B. die Flyer fürs Hamburger Monster-Festival anschaulich machen, auf denen ein Stempel prangt mit der Aufschrift: „35mm – Echter Film! Echtes Kino!“ Über diesen Weg lässt sich das also durchaus zusammen führen.
Diese Anekdote von Hans Schifferle ist eine meiner liebsten Kino-Anekdoten überhaupt, und beschreibt auch ganz gut meine eigenen Einstellungen. Nichts gegen Bergman und Co. aber wenn ein Franco im Kino läuft, und dann auch noch in dieser (vermutlich idealen) Bahnhofskino-Situation – wer könnte da widerstehen?
Das von Settembrini angeführte Zitat von Lynch kann ich andererseits auch gut nachvollziehen, da ich die beschriebene Erfahrung aus persönlicher Erfahrung sehr gut kenne. Denke aber dass Lynchs Zitat (ohne dass ich jetzt Andreas‘ wunderbarer Interpretation in Kommentar Nummer 4 nicht auch einiges abgewinnen könnte) aus einer anderen Situation und Perspektive heraus argumentiert. Bei Lynch geht es meiner Meinung nach um eine beginnende Filmleidenschaft/Cinephilie (zudem aus der Perspektive eines [angehenden/potentiellen] Filmemachers, während Schifferle einen Ist-Zustand eines langjährigen Cinephilen (und somit passionierten Zuschauers!) beschreibt. Ich denke uns allen ist klar, dass Cinephilie im forgeschrittenen Stadium seine ganz eigenen Gesetze entwickelt. 😉
Grundsätzlich empfinde ich aber beide Zitate (unabhängig möglicher unangenehmer Beigeschmäcker Richtung „elitärer“ oder „anti-elitärer“ Filmrezeption) als ebenfalls sehr ähnlich und in ihrem Enthusiasmus und ihrer Begeisterung für Film oder Kino (ein in diesem Konext wie ich finde synonymer Begriff für exakt das Gleiche) äußerst bereichernden Kommentar in Bezug auf die möglichen Entwicklungen und Perspektiven im Bezug auf den generellen Filmkonsum.
Dank auch an Simon zum ergänzenden Zitat Schifferles zu Deodatos CANNIBAL HOLOCAUST. Die beiden Kannibalen-Filme von Deodato sind natürlich über jeden Verdacht erhabene Meisterwerke der siebten Kunst, und Schifferles vorzügliches Horrorfilmbuch der eigentliche Ausgangspunkt und heimliche Pate der deutschen Lieblingsfilme-Aktion auf ET. 🙂