100 Deutsche Lieblingsfilme #24: Unsichtbare Tage (1991)



Eine Theaterbühne, Stimmen aus dem Off. Wir sind bei einer Probe. Wichtig ist jedoch die Inszenierung im Raum, kein Text, sondern Bewegung. Es herrscht Sprachlosigkeit. Die Welt als Bühne, das Leben als Inszenierung, und die Menschen als Statisten. In Eva Hillers faszinierend direktem filmischem Essay geht es um das Funktionieren des Systems, um die technischen Errungenschaften unserer Zivilisation. Um die Geister, die wir riefen, um die Dunkelheit zu bannen, und die wir inzwischen nicht mehr los werden.

Als fieser Zwilling von Chris Markers Sans soleil irgendwo zwischen Nikolaus Geyrhalters Unser täglich Brot und Jürgen Böttchers Rangierer angesiedelt, changiert der Kamerablick immer wieder zwischen Präzision der Kadrierung und Authentizität des Augenblicks, zwischen Travelling Shot und Momentaufnahme, um vor allem die materielle Präsenz der Dinge hervorzuheben, die Gewalt der Oberfläche. Brutal könnte man Kamera und Montage nennen, unbarmherzig, gnadenlos, direkt, denn die Härte des Gezeigten wird in der Inszenierung nicht aufgehoben. Formal werden die Prozesse teilweise nachvollzogen, jedoch ohne ihnen einen konkreten Raum zuzuweisen, ohne die Möglichkeit der Entfaltung. Unmittelbarkeit, Gleichzeitigkeit, Virtualität. Es gibt nichts zu entdecken, alles liegt offen zu Tage, und gerade dadurch überfordern uns die Zeichen und Informationen, die von Maschinen in einer Geschwindigkeit decodiert werden, welche den Moment menschlicher Bewusstwerdung um ein Vielfaches übersteigt, und uns gerade dadurch den evolutionären Prozess der Bewusstseinsbildung permanent schmerzlich vor Augen führt. Die Dinge denken nicht, sie handeln.

Fear and Desire hieß der erste Spielfilm Stanley Kubricks. Die Angst und das Begehren, Furcht und die Erlangung der Macht über die Furcht. Wer die Nacht beherrscht, beherrscht den Tag. Das Kino von Unsichtbare Tage ist, wie das Kino des Stanley Kubrick, ein Kino der Nacht. Und das vielfach benannte Schweigen der Bilder bei Kubrick entpuppt sich durch Hillers Film einfach als das Schweigen des Menschen. Systemzwang, strukturelle Gewalt, die Flucht vor dem Ich, der Wunsch nach Herrschaft über etwas, das sich nicht beherrschen lässt, das Faszinosum, das Paradox der Kontrolle: die ganze Palette von Kubricks Themenkomplexen findet sich in diesem Film wieder, ebenso wie seine Art der Inszenierung. Kubrick in Deutschland? Ja, tatsächlich.

„Schau in die Sonne. Welche Sonne? Na, die Sonne. Ach, das gelbe Ding da oben. Siehst du sie? Aber ja doch, ist doch immer da, seh ich doch immer. Aber schau mal hin, schau mal rein.“ Wenn wir zu lange in die Sonne blicken, erblinden wir. Die Realität die immer vor uns liegt übersehen wir daher bewusst. Denn das Licht der Erkenntnis ist die ständige Präsenz, die immer schon ist, und die uns inzwischen regelmäßig überfordert. Technik ist bei Hiller wie bei Kubrick fahler Ersatz, vergebliche Flucht. Und die Menschheit dadurch ein System, das sich selbst auslöscht. Das Offensichtliche als Offensichtliches präsentieren. Der Leerlauf der Bewegung und die Unmöglichkeit der Ausdehnung des menschlichen Geistes ohne gleichzeitige Ausdehnung des Bewusstseins. Also dehnen wir unsere Körper.

Es ist ein Verschwörungsfilm ohne eigentliche Verschwörung. Ein Film, der vom aus der Zeit fallen erzählt, und dabei selbst aus der Zeit gefallen wirkt. Er hätte auch gestern gedreht werden können, oder morgen. Unsichtbare Tage transportiert keine Ideen, stellt keine Fragen. Er zeigt auf und gibt Antworten. Um dem Tod zu entfliehen, um die Nacht zu zerstören, müssen wir auch den Tag zerstören, müssen wir letztendlich Maschine werden. Also der nächste Schritt in einer Evolution, die die Angst vor der Evolution beseitigen will. Wenn die Sonne eines Tages verglüht ist, glaubt der Mensch weiterleben zu können, indem er die Realität durch die Virtualität ersetzt. Denn wie formuliert es die Sprecherin im Film: Wenn alles Illusion ist, verschwindet die Illusion. Und diese Hoffnung scheint es zu sein, die den Menschen in seiner Flucht vor der Auseinandersetzung mit sich selbst letztlich antreibt.

Unsichtbare Tage oder Die Legende von den weißen Krokodilen – Deutschland 1991 – 75 Minuten – Regie und Produktion: Eva Hiller – Drehbuch: Eva Hiller, Wolfgang Kabisch – Kamera: Thomas Mauch – Musik: Matthias Raue – Schnitt: Stefan Beckers – Ton: Michael Busch – Sprecherin: Renan Demirkan

Bildquelle: derkrieger – http://tinyurl.com/4nmtaq2

Dieser Beitrag wurde am Montag, März 7th, 2011 in den Kategorien Blogautoren, Deutsche Lieblingsfilme, Filmbesprechungen, Sano veröffentlicht. Sie können alle Kommentare zu diesem Beitrag über den RSS 2.0 Feed verfolgen. Sie können diesen Beitrag kommentieren, oder einen Trackback von ihrer eigenen Seite setzen.

2 Antworten zu “100 Deutsche Lieblingsfilme #24: Unsichtbare Tage (1991)”

  1. Whoknows' Best on März 8th, 2011 at 09:42

    Der Film ist – vielleicht bezeichnend für die „Vielfältigkeit“ unserer kulturellen Interessen – offenbar so wenig bekannt, dass du die erste längere Besprechung im ganzen Internet zu bieten hast. Alle Achtung!

  2. Sano on März 8th, 2011 at 12:50

    Habe im Netz selbst auch nichts gefunden,aber vielleicht hat der Film-Dienst in seinem Archiv eine Rezension zu bieten? Ein Kurzkommentar seht zumindest im Kabel 1 Filmlexikon. Es erscheint schon verwunderlich, dass ein so brillianter Film inzwischen völlig in der Versenkung verschwunden ist. Zu seiner Zeit ist er ja wahrscheinlich auf einigen Festivals zu sehen gewesen, und mit dem Hessischen Filmpreis hat er auch eine Auszeichnung vorzuweisen (die aber wohl eher rein finanzieller/ideeller Art war, da er vom hessischen Rundfunk co-produziert worden ist).

    Ich denke der Essayfilm an sich ist aufgrund seiner Herangehensweise ein ungeliebtes Filmgenre, das zwischen den Stühlen sitzt. Wie heißt es so schön bei Wikipedia: „Der Essayfilm (von frz.: essai = Versuch) ist eine experimentelle Filmform zwischen den Filmgattungen Spielfilm und Dokumentarfilm, in welcher der Regisseur mit betont subjektiver Betrachtungsweise aus den Zwängen der Erzählmuster ausbricht.“ Als solches findet ein Film wie UNSICHTBARE TAGE dann wohl auch nur in einem breiteren Werkkontext mehr Beachtung, z.B. wenn die Regisseurin über mehrere Jahrzehnte hinweg eine größere Filmographie angesammelt hätte, an der man dann fast nicht mehr vorbei kommt (siehe Farocki oder Bitomsky). Ich bezweifle aber, dass es viele Leute gibt, die ein halbes Dutzend von Eva Hillers Filmen gesehen haben, sondern die Regel wohl eine (einmalige) Einzelwerkbetrachtung ist. Und dann spielt wahrscheinlich auch der Zufall eine große Rolle. Ich persönlich habe zudem das Gefühl, dass die 90er Jahre im deutschen Nachkriegskino das zur Zeit am wenigsten beachtete Jahrzehnt darstellen. Da denken die Meisten vielleicht, dass es ja noch zu früh ist sich damit mal eingehender zu beschäftigen, und die Filmeindrücke von damals verblassen zwar schon, sind aber noch nicht vollständig aus dem Erlebnis geschwunden.

    Und prinzipiell hat man doch ständig das Gefühl, dass sich Abseits von den wenigen finanziell erfolgreichen deutschen Filmen, und einem vielleicht gerade angesagten ästhetischen Diskurs, nur einzelne Individuen für die deutsche Filmproduktion als solche interessieren.

    Im Münchener Filmmuseum wird es demnächst eine Retrospektive zu Willi Forst geben. Bin mal gespannt, wie die Resonanz darauf ausfallen wird.

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