Wunder gibt es immer wieder: Über Brigitte Horney, Kurt Waitzmann und Teddy Naumann in Alfred Vohrers „Neues vom Hexer“ (1965)
„Neues vom Hexer“, neben Harald Reinls in seiner wundervollen Heimatfilmseligkeit im Grunde viel besser zu dieser Zäsur passendem „Der unheimliche Mönch“ der zweite Film des abschließenden Wallace-Doppelschlags der ersten, der argloseren Hälfte der 60er Jahre, markiert in gleich zweifacher Hinsicht sowohl ein Ende als auch einen Neuanfang. Für die langlebigste Filmreihe der alten Bundesrepublik, jedoch ebenso für Alfred Vohrer, ihren vielbeschäftigsten Regisseur. Waren die Filme ab 1962, beginnend mit Vohrers großem Kassenschlager „Das Gasthaus an der Themse“, bereits graduell weniger vorlagengetreu geworden, ist dieser der erste, dessen Drehbuch sich in Gänze von den Situationen, Grundkonflikten sowie Figurenkonstellationen eines Wallace-Romans löst und stattdessen schlicht seinen Titel von dem der deutschen Übertragung der Kurzgeschichtensammlung „Again the Ringer“ (1929) borgt. Vohrer hingegen, seit seinem Einstand mit dem modernen deutschen Horrorklassiker „Die toten Augen von London“ (1961) stilistisch prägender Impulsgeber der Reihe, wurde mit dem Serienausstand des stets zuverlässigen Regiehandwerkers Franz Josef Gottlieb und des dem ernsthaften make believe amerikanischer Vorbilder ungleich stärker verpflichteten Harald Reinl im vorherigen beziehungsweise selben Jahr über weitere Jahre hinweg beinahe alleinig federführender Auteur. Zwischen 1966 und 1969 hatte allein die britische Ko-Produktion „Das Geheimnis der weißen Nonne“ (1966), einer unter sagenhaften acht Filmen innerhalb dieses neuerlichen Ausstoßhöhepunktes also, einen anderen Regisseur.
Vielleicht war es just diese bemerkenswerte Vormachtstellung im damaligen Populärkino, die dafür sorgte, dass sich bestimmte Elemente und Markenzeichen Vohrers Kinos – eine spezifisch metatextuelle Leichtigkeit, Lust am humorvoll gebrochenen Spektakel, dem Einreißen filmischer Räume sowie eine bemerkenswerte Feinfühligkeit im Umgang mit weiblichen, homosexuellen oder körperlich behinderten Figuren beispielsweise – aus dem schelmischen Nebenbei vermehrt, aber kaum weniger verschmitzt im Vordergrund platzieren konnten. Mit „Neues vom Hexer“ probte Vohrer die Hinwendung zur Avantgarde im Massenkino, bevor sie schon wenige Großproduktionen später mit den Proto-Helge-Schneider-Komödien „Winnetou und sein Freund Old Firehand“ (1966) und „Der Hund von Blackwood Castle“ (1968) ihren delirenten Ausbruch erreichen sollte. Von deren unentwegt lärmenden Maschinenpistolen gegen die vierte Wand sind wir 1965 noch ein wenig entfernt, doch auch hier spukt Peter Thomas offensichtlich von früheren Leinen gelassen auf der Tonspur herum, wird jede schauspielerische Geste zusätzlich inszenatorisch über alle gebogenen Balken hinaus akzentuiert, während die Raumausstattung eigenbrötlerischste Blüten treibt und Klaus Kinski eingangs einem Sarg entsteigt, nur um wieder in einem solchen zu landen. Im Gegensatz zu selbst den bereits zunehmend exzentrischen Großtaten des Jahres 1964 ist Vohrers Ton von Beginn an nicht mehr um das make believe oder gewahrte Serienkonventionen bemüht.
Und doch spürt man bisweilen noch die tiefe emotionale Aufrichtigkeit des begnadeten Melodramatikers Vohrer, jene ausgeprägte Grundierung unter der grundsätzlich immer schon präsenten Verspieltheit, welche nach 1963 und dem auf diese Weise zugespitzten Frühwerkshöhepunkt „Ein Alibi zerbricht“ erst einmal beinahe zehn Jahre, bis zu den Simmel-Verfilmungen für Luggi Waldleitner, nur mehr selten derart im Vordergrund stehen sollte. In der Zeichnung von Brigitte Horneys Figur etwa, der implizit kinderlosen und unverheirateten Schwägerin des als Auftaktopfer einen ganzen familiären Serienmord lostretenden Patriarchen. Schon früh hatten die Wallace-Filme aus der Mode gekommenen Schauspielerinnen der UFA-Ära eine Nachkriegsheimat geboten. Gerade Vohrers Filme gemahnen hier auf den ersten Blick in ihrer Überspanntheit, der freudigen Reizüberflutung an zeitgleiche Strömungen im amerikanischen Populärkino – Bette Davis in „What Ever Happened to Baby Jane“, Joan Crawford in „Strait-Jacket“ etwa. „Alte Frauen in schlechten Filmen“, so subsumierte Christoph Damke den genüßlichen Camp dieser Filme und ihrer Protagonistinnen einmal. Dabei sind sie bei näherer Betrachtung dessen Antithese – es sind die Verhältnisse um diese Frauen, die überspannt sind oder es zuerst waren.
Auch Horneys sublime Darbietung der Lady Aston könnte allzu leicht mit spezifisch männlich artikulierten Hysteriezuschreibungen verwechselt werden, ist jedoch in jeder gequälten Geste das verblüffend abstrakte Portrait eines Menschen, der sein Leben lang allein in familiärer Einheit Bestand fand und auseinanderfällt, wenn diese zerbricht. Einsickernde Erkenntnisse über die Sinnlosigkeit der Aufopferung im überlebten Verbund triefen aus jeder in eine höchst fragile Fassung geworfenen Pore ihres Gesichts. Und mit jedem Mal, dass ihr Gegenstück, Klaus Kinskis gespenstigen Gleichmut ausstrahlender Butler, fragt, ob sie vor dem Zubettgehen noch etwas benötige, und damit in exakter verbaler Replikation den existenziellen Bruch der ersten Mordnacht heraufbeschwört, dürfen diese Züge auf ein neues entgleisen. Familiäre Abläufe, Generationenschuld, die berühmte Leiche im Keller, Aufopferung, Schutz der Eigenen über jedes Mitgefühl mit den anderen, auch aber die eigenen Grenzen hinaus, der Bruch und die Leere danach. Alles Themen, die Vohrer und Drehbuchautor Herbert Reinecker bereits in „Ein Alibi zerbricht“ erkundet hatten, danach immer wieder – gerade auch in der Arbeit für Reineckers langlebige Krimiserie „Derrick“ (1974 – 1998) – ausloten sollten. Und dennoch sind die anderen gegen Barbara Rütting und Brigitte Horney, die integren oder ihre Integrität wiederentdeckenden Frauen in einem familiären Mordkomplett.
Familie als Verschwörung. Der gestriegelte Neffe des Patriarchen, der alte Freund des Hauses, der Leibarzt, der Butler, die gesetzten, grauen Herren des Filmes, sie sind ja alle auch mit drin, tragen alle den Funkempfängerknopf im Ohr, der sie in diesem Geheimagententhriller über das unstaatlichsten Geheimnis überhaupt als Verschwörer ausweist. Es wäre keineswegs vermessen, gerade Vohrers und Reineckers Kollaborationen der nächsten Jahre als überspitzte Portraits jener strukturellen Gewalt zu lesen, die von patriarchalen Gesellschaften ausgeht. Geht es in „Der Bucklige von Soho“ und „Der Mönch mit der Peitsche“ hinter allem grellen Geisterbahnpomp gar nicht mal so implizit auch darum, wie teilweise konkret gesellschaftlich verortete Männerbünde Frauen für den Wachstum ihres Geldbeutels schinden oder die Schönheit und den Symbolwert gemordeter Frauenkörper als Feigenblatt zur Verdeckung letztlich ganz profaner Gierverbrechen nutzen, so ist es hier noch eine diffus-männliche Weltverschwörung im Kleinklein der vorgeblich sichersten Einheit der Gesellschaft, die zu Werke geht. Bleiben wir erst einmal bei einer simplen Erkenntnis: Wie soll man als Frau da nicht permanent am Rande eines Nervenzusammenbruchs existieren? Da ist der Film auf einmal überraschend ernst. Avantgarde und auf der anderen Seite in maximaler Konsequenz understated – Vohrers Hitchcockfilm. Mit einigen dessen schönster Filme eint ihn eine weitere Frage: Wo soll man hin, wenn das Haus, in welchem man lebt oder aufwuchs, keinen Halt mehr bietet?
- Wieso, was ist denn dran?
Moment, Seite 98.
Um Himmels Willen, der Junge ist in Gefahr, Finch!
Sag‘ ich ja die ganze Zeit.
In die Arme der Fremden. Eher unfreiwillig gerät das jüngste, verwundbarste Mitglied der Familie Curtain, der kleine und seit einem Unfall einarmige Lord Charles (der jugendliche Raubtierdompteur Teddy Naumann), in sie. Seine Entführung setzt den Höhepunkt der Vohrerschen Dualitäten in Gang, ist berauschtes Zitat- und Metaschangelfeuerwerk sowie emotionaler Kern des Filmes gleichermaßen, jener Schulterschluss, der Vohrers nie in merkantilen Zynismus abgeglittenen Zuschnitt großen Produzentenkinos von vorne bis hinten auszeichnet. Alles beginnt altbekannt: Ein treuer Langhaarcollie spürt sein Herrchen sogar ruhend im Hotelzimmer auf, gibt ihn durch agitiertes Bellen und Zerren, zu verstehen, dass ein Kind in Not sei. Eddi Arent, der irritierenderweise zum ersten sowie einzigem Mal in seiner langen Karriere ein passendes Backenfell zur Schau trägt, ist die treue Lassie, René Deltgen, der Hexer, sein Herrchen; ihre Interaktionen schreien Hund und Mensch, obwohl sie doch erkennbar letzteres sind. Beider freimütig in den Bereich des Übernatürlichen und Außerfilmischen reichender Spürsinn treibt ab der Rückkehr der Titelfigur die Komik des Filmes mit absonderlichsten Blüten voran. Nach dem Vorläufer, der in der Zeichnung seiner Polizeihelden noch eher zu James Bond tendierte, sind sie nun endgültig vom moralisch ambivalenten Verbrecherduo zum Comicbuchhelden samt Sidekick befördert worden, moderner Fanservice im Erzählen inklusive. Denn seine Informationen zur drohenden Gefahr bezieht Arent ausgerechnet aus Seite 98 der Taschenbuchausgabe von „Neues vom Hexer“. Für ein mit Wallace vertrautes Publikum (dessen Anteil an der einstigen Saalbesetzung gar nicht so klein gewesen sein dürfte, schließlich gehörten die roten Goldmannbücher zu den meistverkauften ihrer Zeit) stellt dieser Quatschbezug auf eine Vorlage, die bloß dem Namen nach eine ist, die Zeitenwende noch absurder heraus. Es mag irritieren, aber 1965 fehlte bei Licht betrachtet für eine kurze Zeit einmal erschreckend wenig, um aus den Wallace-Filmen ein Marvel Cinematic Universe zu machen. Doch der Traum ist längst aus, ein geplanter dritter Hexer-Film wurde nie realisiert.
Den Traum mag Vohrer uns schuldig geblieben sein, ein Wunder lässt er dennoch geschehen. Als unser dynamisches Superheldennduo ein letztes zum kleinen Charles aufschließt, wird dieser gerade von zwei Handlangern der Verschwörer tief in das Innerste einiger auch Zootiere beinhaltender Lagerhallen verschleppt. Der erste dieser gedungenen Mörder fällt rasch den Kugeln des Hexers zum Opfer, der zweite jedoch verbarrikadiert sich getroffen und mit Kind in einem der Räume. Ab diesem Punkt entspinnt sich reine Kinomagie: Vom geheimnisvollen Herrn über die Herren im Ohr zum entschlossenen Handeln gedrängt, richtet der Scherge seinen Revolver auf den Jungen und drückt ohne zu zögern ab. Leer. Ganz im Gegensatz zu den umstehenden Löwenkäfigen, die der gescheiterte Mörder nun aufreißt, um seine Aufgabe zu einem Ende zu führen. Schnell raus, schnell rauf und schon lässt sich die strauchelnde Einheit Familie auf einen guten und einen bösen Ersatzvater aufdividieren, beide über jeden Schritt des Knaben wachend. Der Hexer mit auf die Tiere gerichtetem Revolver am Dachfenster, der Kidnapper am sicheren Absperrgitter des Nebenraumes, wo ihm sichtbar nicht nur die Schwere der eigenen Verletzung bewusst wird. Zu beider Überraschung ist ihre Autorität nicht mehr gefragt. Charles, dem immer wieder von verschiedensten Charakteren des familiären Umfeldes jegliche Eigenständigkeit versagt wurde, besticht die Tiere mit seinem Charme, starrt mit seinen nervösen Augen unmittelbar in ihre Seelen und darf schließlich gar auf einem der Löwen reiten.
Vohrer inszeniert diesen Moment als eine hypnotische Unglaublichkeit von Gesten, Blicken und dem Glauben an die Welt, der aus ihnen spricht, als einen jener Augenblicke, in denen die Kraft des Kinos den allgemeinen Lauf der Dinge überschreibt. Ein Erweckungserlebnis. Der totale Triumph des Underdogs, ohne dass er irgendetwas besiegen, seine Gegner bezwingen, eine filmische Selbstbehauptungsreise antreten muss, stattdessen seltsam verspielt im Angesicht des nahenden Todes für einen Moment alle Geschicke dieser Erde lenkt. Womöglich die schönste Einzelszene Vohrers gesamter Laufbahn, sicher aber die intimste, anrührendste, zärtlichste. Auch im Hinblick auf eigene Verwundungen. Sie lässt tief in die Seele des nur mehr einarmig aus Russland zurückgekehrten Regisseurs blicken. Und sie ist noch nicht vorbei, erfasst nicht bloß uns, sondern auch die auf der Leinwand. Obwohl schwer verwundet, enden alle Anstalten des Verbrechers, die eigene Haut zu retten oder in das Geschehen einzugreifen, in der Sekunde, die ihn am diesem Wunder teilhaben lässt. Das Wunder der Erkenntnis aus dem anderen, man sieht es in jeder Aufnahme der nervös staunenden Augen. Hier lernt einer Substanzielles über sich selbst und ein anderer, der sich längst fertig mit der Welt wähnte, versteht in der Beobachtung dieses Prozesses endlich einmal wirklich etwas von ihr. Und dieses Wunder steckt allein in dem, was der Film nicht erzählt, sondern nur zeigt: Etwa, dass dieser Schurke später endgültig dem Tode nahe wieder aus genau jener Türe stürzt, die beide eingangs nahmen, er also an dem jungen Lord und seinen Tigern vorbei musste, weiterhin hätte versuchen können, seine ursprüngliche Drehbuchpflicht irgendwie zu erfüllen, wenn es ihm wirklich noch darauf angekommen wäre. Darin, dass Heinz Draches Inspektor ihn nicht zwingen, nicht einmal mit Worten zur Kooperation überreden muss, diese aus ihm selbst herauskommt. Schließlich darin, dass er nach knapper, aber entscheidender Mithilfe in der Auflösung des Falles wortlos seiner Verletzung erliegt, eine für das Publikum zu Sätzen und Erklärungen geronnene Läuterung ausbleibt.
Was genau sich alles an diesem Fenster zu einem anderen Leben im offensichtlich zunehmend involvierten Gesicht des verdienten Wallace-Kleindarstellers Kurt Waitzmann abspielt, das gehört in letzter Konsequenz nur seiner lediglich mit dem generischen Wegwerfschurkennamen Lanny bedachten Figur selbst. Die letzten Minuten im Leben und der Tod dieses gewöhnlichen Handlangers tragen wie die Selbstrettung des kleinen Lords, oder im geringeren Maße auch Brigittes Horneys wesentlich narrationssrelevanterer Ausbruch aus dem männlichen Blick, ein außergewöhnliches Gewicht auf den Schultern. Das größte Maß an Unabhängigkeit, an Agens, das für narrativ klar untergeordnete Skizzen, Menschen, die üblicherweise mehr zum Mobiliar denn den handelnden, denkenden und empfindenden Figuren des Kinos gehören, möglich scheint. Eine der mannigfachen Arten, auf die „Neues vom Hexer“ sowie Alfred Vohrers weitestgehende Übernahme der beständigsten Filmereihe der Rialto-Film offen mit den ausgetretenen Konventionen und geordneten Bahnen seines Genres in Dialog tritt. Exakt hier, an diesem Schnittpunkt im Koordinatensystem, finden alle vorherigen und zukünftigen Vohrermotive zusammen, um sich zu häuten und Papas verschmähtem Kino endgültig sein vielleicht radikalstes Gesamtwerk zu schenken.
Neues vom Hexer – BRD 1965 – 95 Minuten – Regie: Alfred Vohrer – Produktion: Horst Wendlandt – Drehbuch: Herbert Reinecker – Kamera: Karl Löb – Schnitt: Jutta Hering – Musik: Peter Thomas – Darstellende: Heinz Drache, Barbara Rütting, Brigitte Horney, René Deltgen, Eddi Arent, Kurt Waitzmann, Teddy Naumann u.v.a.
- Der große einarmige Bandit des deutschen Nachkriegskinos in seinem Cameoauftritt
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