Eine Wurst geht um die Welt – Gedanken zur Krise linker Haltung und Ästhetik aus Oberhausen
- Auch wir sind für Härte
Auch wir tragen Bärte
(Freddy Quinn – Wir)
Viele Emotionen sind hochgekocht im Vorfeld der 70. Oberhausener Kurzfilmtage, als Festivaldirektor Lars Henrik Gass sich kurz nach den Terrorakten des 07. Oktober 2023 unmissverständlich israelsolidarisch positionierte. Genau gelesen nicht einmal übermäßig kontrovers, selbst nach dieser Zäsur nicht von anti-palästinensischem Ressentiment getragen, schlicht humanistisch – ein Aufruf zur Zivilcourage angesichts des Unbegreifbaren, wie er in den meisten anderen Kontexten keinerlei gesondertes Aufsehen erregt hätte, Spöttern womöglich eher als billiger Gratismut gegolten hätte. Boykottaufrufe, zurückgerufene Beiträge, ein Klima des harschen gegenseitigen Misstrauens zwischen ehemals gemeinsam Angereisten, Entfreundungswellen auf Social Media gehörten und gehören bis heute zu den weitreichenden Folgen eines auf knappe Zeilen bemessenen Facebookposts. Die Welt steht Kopf in einem kleinen Teil der großen Welt, der mit den Problemen vor Ort, also im Nahen Osten, bestenfalls entfernt zu tun hat.
Zwischen dem Boykott der einen und der lauten Solidarität der anderen nehme ich am Donnerstagvormittag erstmals in einer der Vorführstätten Platz und merke konfrontiert mit den ersten Kurzfilmen des „Overlooked Films“-Programmes, das Ausgrabungen aus der eigenen Festivalgeschichte präsentiert, rasch: Wirklich Mut beweist ein Festival, wenn es neben einer klaren Positionierung in der Gegenwart auch einen Rückblick in das zulässt, was diese Intervention überhaupt erst notwendig werden ließ. „La fórmula secreta“ (Rubén Gámez, 1965) zeigt eine der üblichen Hundewelten des ausgewiesen politischen Kinos der mittleren 60er Jahre. Zum guten Schluss laufen im Abspann die schnoddrig hingekritzelten Namen zahlloser Großkonzerne als dunkles Kollektiv gewordener Klassenfeind wie ein verfrühter „Star Wars“-Lauftext über die Leinwand, am Anfang gleitet die wohl auf einem Moped motorisierte Kamera minutenlang scheinbar schwerelos, einem von den Ketten gelassenen Nationalvogel gleich – ein Schattenwurf beflügelt zeitweise diese Assoziation – über einen öffentlichen Platz.
- „Eh noch der Condor an Ketten geht
Reißt er sich das Bein mit den Ketten raus
Schwingt sich in den Himmel und blutet aus“,
sang die Klaus Renft Combo in der DDR. So sah das also als Film im tatsächlichen Südamerika aus. So schön, so gut, es soll mir keiner nachsagen, ich sei nicht für revolutionäre Ästhetik zu begeistern. Auch an surrealem Schangel gibt es einiges zu bestaunen. Einmal verselbstständigt sich eine endlose Würstchenkette und bereist gefühlt den gesamten Planeten. Über Teller, Steppe und Asphalt, durch eine Teigknetmaschine oder die Armbeugen von Menschen, zweckentfremdet als lassoesk geworfener Angelköder, nie verspeist. Da fragt man sich doch – wo kommt sie her? Ich selbst frage mich das allerdings nur kurz. Denn in der Szene, in der, parallel montiert zur Fleischeslust zwischen seinem Chef und dessen Frau, ein knapp bekleideter Jüngling eine Kuh ankettet, schlachtet und zerlegt, schließe ich in dem Moment mit einem kleinen Seufzer meine Augen, als er das Messer an die angsterfüllt zuckende Brust setzt. Eine ganze Weile bleiben sie geschlossen, gibt die Tonspur in solchen Augenblicken doch stets einen guten Hinweisgeber ab, wann sie wieder gefahrlos geöffnet werden können. Später wird der Jüngling den zum Verzehr bestimmten Oberkörper auf seinen Schultern zu Markte tragen, während dieser zu den Körpern des nun ebenfalls geschundenen Arbeitgeberpaares morpht. Wir haben es verstanden, irgendetwas verstanden – doch zu welchem Preis?
Die mit moralischer und intellektueller Überlegenheitsemphase (auf basalster Ebene: Überlegenheit über das Vieh) aufgeladene Tiertötung – Agitpropmobiliarsklassiker im Kunstkino der 60er Jahre. Vielleicht benötigt es den von verträumter Widerstandsromantik weitestmöglich entfernten Zeitgeist dieser Tage, das Zeitalter nicht der Aufklärung, sondern der Abgeklärtheit, damit sie einem als besonders garstiges Sodbrennen im Halse aufstößt. Oder als simple Erkenntnis: Die politische Linke ist traditionell sehr gut darin, reelles Leid als Symbol ihrer humanistischen Anliegen zu missbrauchen. Ob Tiere im Kino oder Tote aller Seiten im Konflikt Israel-Palästina – die bedienten Affekte sind 60 Jahre später auf irritierende Weise ähnlich geblieben. Am Ende des Tages ist man für ein Anliegen gestorben und gestorben worden. Nicht im Leben, aber in der ästhetischen Aufblähung desselben, die alle realen Implikationen überschreibt. Man mag einwenden, dass Tiertötungen auf wie hinter der Leinwand kein exklusives Phänomen des linken Kinos gewesen sind, in einer derart selbstgerechten Ausgestelltheit bleiben sie es jedoch schon. Pferde, die im alten Hollywood über Klippen getrieben oder im Spektakelkino noch viele Jahrzehnte später mit Drahtschlingen zu Sturz gebracht wurden, verweisen in erster Linie auf kapitalistische Wertschöpfung – man ahnt, dass es falsch ist, doch weiß ebenso, dass es effizient ist. Der mögliche Tod des Tieres für diese Stunts ist nicht angestrebt, wird aber billigend in Kauf genommen.
- Der berüchtige Klippensturz in „Jesse James“ (Henry King, 1939), der Bemühungen um den Schutz von Tieren an Filmsets maßgeblichen Aufwind gab.
- Pferdestürze mittels Fallgrube in „Winnetou, 3. Teil“ (Harald Reinl, 1965)
Diese Kosten-Nutzen-Rechnung ist ein Grund dafür, dass die Exploitation rechten, tendenzrechten oder schlicht kapitalorientierten Filmemachens ehrlicher erscheint. Das Tier ist austauschbar, ein Gut; in der Reaktion nicht zuletzt darauf wird es zum Menschen gemacht und wie ein solcher gemeuchelt. Etwas später blieben auf ersterer Seite von dieser Tradition nur noch derivative Überreste. Gerade von kinematografischen Moden befeuerte Vulgärzivilisationskritik aus Europa wie Ruggero Deodatos „Cannibal Holocaust“ (1980) jongliert mit Begrifflichkeiten, präsentiert linke Ästhetik, derer sich das Kapital bemächtigt hat. Die Tiere haben kein herausgestelltes Gesicht, müssen dieses jedoch auch nicht für Symbolhaftigkeit herzeigen. Sie bleiben Schlachtmasse. Wie alles, was kein Geld mehr bringt, sind diese Auswüchse des Populärkinos längst Geschichte, während das auf der Leinwand ausgenommene Tier selbst in vorgeblich erwachten Zeiten eine kleine Bastion altkluger Arthouserowdyness bleibt. Eine weitere simple Erkenntnis: Das eine ist Zeitgeist, das andere indikativ – für eine Geisteshaltung, vielmehr jedoch eine Ästhetik, die das Leid von Lebewesen aus Fleisch und Blut hinter Metaphern und rhetorische Figuren stellt.
- Anonyme Schildkröte in „Cannibal Holocaust“ (Ruggero Deodato, 1980)
Gegen Ende des Filmes „La fórmula secreta“ wird ein zweites Rind mit einem Lasso – diesmal einem echten, keinem fleischigen – gefangen, verschnürt und blickgerecht im Kameraauge drapiert. Erst bleibt es regungslos liegen, abwartend, was wird der Mensch tun? Dann eskaliert der Atem, zuckt der Körper, fleht der Blick. Meiner verschließt sich erneut, mittlerweile ein wenig genervt. Die Ohren bemerken es zuerst – die Schlachtung bleibt diesmal aus. Macht es das besser? Ich glaube nicht. Verspürt man im italienischen Kannibalenfilm zuallererst geldselige Gedankenlosigkeit, geht es hier um ausgespielte Macht. Macht, die für das Richtige genutzt wird; Macht auch über das Publikum, dem man um jeden Preis etwas von der eifrig projizierten Niederträchtigkeit beweisen will. Auch hier findet linke Revolutionsfilmerei im neueren Arthauskino ihre Erben. Wenigstens lässt ein Regisseur wie Haneke für seine tristen Minimalerkenntnisse über die angebliche Natur des Menschen lediglich das Kunstblut fiktiver Figuren fließen. Mit linker Ästhetik ist es wie mit dieser Würstchenkette – irgendwo taucht sie immer wieder unverdaut auf und plagt uns als Fessel bis heute. Die Würste stehen sinnbildlich für die Rückkehr progressiver Umbruchsästhetik der ausgehenden 60er Jahre als einer aus dem Raum des erst einmal nur Künstlerischen entrissene Gewissheit. Als intellektuelle Diskursverweigerung. Denn diese der reinen Ästhetik entlehnte Gewissheitsgeste, die antrainierte Härte im Umgang mit Projektionen und selbstentworfenen Bildern prägt über alle in der Tendenz linken gesellschaftlichen Räume hinaus gerade jenen Diskurs in besonders erschreckender Weise, der auch Oberhausen erfasst hat.
Primär mag es ein innerlinkes Problem sein. Fragt man herum, so lassen sich immer schnell irgendwo Schuldige an der Gegenwärtigen Misere ausmachen: an der Uni, in der sogenannten Kulturszene, bei politischen Bündnissen und Interessensgemeinschaften. Das mag alles in Teilen stimmen, ignoriert allerdings geflissentlich das große Ganze, jene Rolle, die man selbst in der Verfestigung von Verhältnissen und Denkstrukturen gespielt hat. Derart parteiische Schuldzuweisungen ignorieren den Weg, den Ästhetik und Agitprop zurückgelegt haben, um sich heute als profunde Erkenntnis in weltpolitischen Fragen zu tarnen. In manchen Kreisen würde man die Metapher vom „Schoß, aus dem das kroch“ bemühen.
Begleitet wurde das Filmprogramm der Kurzfilmtage von Podiumsdiskussionen zur eigenen aktuellen Lage sowie der von Filmfestivals im Allgemeinen. Am Freitagvormittag ergattere ich einen der begehrten Plätze im dicht gedrängten Auditorium. Ästhetik, Ästhetik schallt es in diesem Rahmen gleichsam von überall her, der von Dunja Bialas bevorzugt zu wie beim Wort genommene Hans Peter Schwerfel attestiert im Rückgriff auf einen vor einiger Zeit erschienenen Essay aus seiner Feder eine ästhetische Korrektheit, deren Übersetzung in den längst halbverbrannten Kampfbegriff der politischen Korrektheit naheliegt. Diese Forderung nach einem simplen Zurück zur Ästhetik angesichts eines angeblich überkorrekt gewordenen Inhalt ist ein gängiger Trugschluss der innerlinken Debatte; auch er ignoriert tieferliegend Verfestigtes, das aus gemeinhin akzeptiertem kreativem Kanon wie Konsens heraus den Ausdruck von Empfindung prägt. Den, mitunter in ostentativer Weise vorgetragenen, Hang zum weltanschaulichen Pessimismus beispielsweise, welcher „La fórmula secreta“ und so vieles an Kunstwerken mehr prägt. Egal wie hart der Holzhammer schwingt, seit Jahrzehnten ist er Garant für eine in der Gesamttendenz klar wohlwollende Rezeption gegenüber wahrhaftig oder bloß vordergründig optimistischerer Kost. Wolfgang Staudte oder Kurt Hoffmann – diese Frage ist in der Kunstrezeption Nachkriegsdeutschlands stets nur eine rhetorische gewesen. Auch das ist indikativ.
Im Reich der Künste noch banal und vorhersehbar, ist es diese negativistische Tagträumerei, die einmal zur unumstößlichen Gewissheit überhöht, im gesellschaftlichen Raum eine nicht zuletzt spezifisch linke Gewaltduldung prägte. Gewalt, Leid und Elend – alles ohnehin in der Welt und übermächtig, was soll man machen? Es hilft nur Gewalt, wo Gewalt herrscht. Immer wieder diese Kaltschnäuzigkeit im Umgang mit Gewalt – die Kaltschnäuzigkeit desjenigen, der sich, der seine Sache insbesondere intellektuell im Recht wähnt. Das Motiv Gaza beflügelt dies wie nichts anderes dieser Tage. Die eine Seite der Linken mag dieses Problem gerade besser unter Kontrolle haben als die andere, schlussendlich betrifft es jedoch alle. Gewalt ist weder simpel als Ausdruck eines gerechten Punktes wegzulächeln, wenn sie die Richtigen trifft, noch wenn sie die richtigen Codes und Zeichen setzt. Hier wie da bleibt von ihr selten mehr als Performance und die Ästhetik der Weiterlebenden – je weiter die Toten weg sind, desto besser. Weisheit vorgaukelnde Zitatkultur, ausgestellte Brillanz der eifrig als unumstößliche Wahrheiten aufgetischten Gedanken, Beflissenheit ohne Gewissenhaftigkeit oder Gewissen, erklärende Pointenbildchen und Wassermelonenemojis: das meiste, was heute in bestimmten – gerade auch unseren – Kreisen hervorgeprustet wird, ist endlose Ästhetik. Sie ist alles, was nicht wenigen von universellem Mitgefühl geblieben ist.
Der Protestakt („im Widerstand“ nennt Schwerfel das auf dem Podium – ein großes Wort, ein zu großes Wort) gegen gewitterten Tugendterror ebenso wie linkes Mackertum mit nobel verschleierter Übergriffigkeit, Frauen als zartes Aushängeschild, die hinter großmäuliger Ablehnung 1:1 kopierten Bilder der neuen Rechten, Baseballschläger als Ausrufezeichen gegen unsichtbare Gegner zur Nachtwache im Linksjugendcamp – samt und sonders sind dies von einem ästhetischen Martialismus her gedachte Gesten. Man wähnt sich wieder im Krieg, während anderswo Menschen in ihm sterben müssen. Spätestens seit der Coronapandemie, einem Novum und einer Zäsur für alle nach der Spanischen Grippe Geborenen unter uns, findet sich allerorten ein mit noch kriegerischerer Vehemenz vortragender Marktschreier, der aller intellektuellen Kürze unserer menschlichen Lebenszeit zum Trotz ganz genau weiß, wie als nächstes vorzugehen ist. Vorgehen – das hat etwas von einer Spezialeinheit und exakt so ist es empfunden. Macker fühlen bloß den eigenen Schmerz, Macker erklären die Welt.
Linke Ästhetik der Gegenwart, das ist nicht selten der ungehemmte und exklusiv männliche Geniekult der alten Rechten, zurückgekehrt als Sieg der totalen Selbstgerechtigkeit, die sich für pure Vernunft hält. Es ist eine Ästhetik, der man sich hingibt. Che Guevaras Antlitz, das berühmte Zwillenbild der Antifa, dessen Vorläufer und Derivate, revolutionärer Chic. Einer muss immer Goliath sein, wer es nicht ist, wird automatisch David. Und umgekehrt. Einer die Kuh, einer der Schlachter. Dabei passen beide Bilder in der Realität auf fast gar nichts, bilden sie realexistente Machtgefüge und -gefälle einzig als Pop Art gewordene Wohlfühlfantasie ab. Die linke Sehnsucht nach Einfachheit und Optimismus – sie ist eine eigentümliche, die oft um wahrgenommene Größenverhältnisse kreist. Aus dem kleinen Fidel Castro, der sich mutig gegen westliche Einflussnahme stemmt, wurde der kleine Assad, aus diesem der kleine, namenlose Palästinenser, der als Terrorist für die Freiheit der Seinen mordet – die Ziele wurden kleiner, die Verteidigungshaltung laufend abstruser. Die Faszination für den kleinen Mann teilt dieser Teil der politischen Linken sich mit dem neofaschistischen Teil der Rechten – nur ist er bei der Linken bisweilen ein Diktator, nicht der erhoffte Unterstützer eines ebensolchen. Im Grunde interessiert sich diese Linke weder für den kleinen Palästinenser, der Antworten auf die brennenden Fragen seines Lebens in Terrorismus und fanatischem Antisemitismus findet, noch für die kleine Jüdin mit gebrochenen Gliedern sowie einer Kugel im Kopf auf der Ladefläche eines Pick-ups als Individuen. Es geht lediglich um Größenverhältnisse im Rausch des selbstentworfenen Bildersturms. Kein Wunder, schließlich ist speziell jüdisches Leben seit Jahrzehnten kaum mehr als die menschliche Entsprechung des Stücks Vieh auf der Leinwand gewesen, welches man für das rechte Anliegen schlachten kann.
Keine simple Erkenntnis, dafür eine deprimierende: Die revolutionäre Ästhetik von einst ist im vermeintlich hochgehaltenen reflexiven Verdauungsprozess nichts weiter geworden als Maggi Fix für fertige Gewissheit. Ein gutes Produkt, eine Verkaufsmasche, ein Label, unter dem man Denkverweigerung und mangelndes Mitgefühl als höchsten Ausweis der geistigen Abgeklärtheit veräußern kann. Will die deutsche Kunstszene den aktuellen Akutnotstand zumindest auf ihrer eigenen, kleinteiligen Ebene irgendwie zum Positiven hin auflösen, wird sie nicht umhinkommen, sich mit der eigenen Vergangenheit sowie deren Einfluss auf die Gegenwart zu beschäftigen, sie als mehr denn eine knallige Abfolge starker Bildchen zu reflektieren. Sie muss sich jenem Teil ihrer selbst stellen, der dem von sich verzückten Intellekt meist zu schnöd erscheint: ihrer Ästhetik. Diese muss mehr sein als hohle Tradition im Dienste der eigenen Ansinnen.
Eben dies ist das Fatale an den verhandelten Ästhetikbegriffen unserer Zeit. Letztendlich weisen sie wieder und wieder in die Welt der zu vermittelnden Inhalte zurück. Wir können Ästhetik nicht mehr ohne Inhalt denken, selbst wenn sie ihm und er ihr als Übersetzung nicht gerecht werden kann. Unsere Bild-und-Wort-Schere – jedes Bild muss einen vorab festgelegten Inhalt transportieren, aber ein Bild, welches für sich selbst spricht, kann man nicht deuten oder übernimmt es als der Worte und Weisheit letzter Schluss. Überführung der Gesamtheit des für uns Wahrnehm- und Empfindbaren in unser jeweiliges Narrativ, destilliert in die ewig gleichen, endlosen Worte – mehr als diese unmittelbare Funktionalität fällt Ästhetik selten zu. Dabei darf Ästhetik, das sein, was wir in der Endlosigkeit unserer bedeutungslosen Beteuerungen sowie auf Deutungshoheit hingedrechselten Meinungsäußerungen zu den uns selbst noch fremdesten Problemen dieses Planeten nicht mehr sein können: diffus, unpolitisch, auf den ersten, vielleicht gar auf den zweiten und dritten Blick noch. Gerade die unentwegte Aufladung der Ästhetik, die Vermengung von Kunst, Kultur und Politik zu einem Abhängigkeitsverhältnis, hat diese Krise mit erzeugt.
- Corpus delicti: Lars Henrik Gass am 20. Oktober 2023 auf dem Facebookaccount der Internationalen Kurzfilmtage Oberhausen
Überträgt man diese Überlegungen auf den Stein des Anstoßes, wird deutlich, was Lars Henrik Gass‘ unmissverständliche Worte zumindest in den mit umfassenderer Aufmerksamkeit bedachten Teilen des deutschen Kunstbetriebes zu einer singulären Geste, gleichzeitig zu einem Affront ungeahnter Größe gemacht hat. Gass verzichtet in Gänze auf forsche Ästhetik und kleidet sein Anliegen der Mitmenschlichkeit sowie seine zugelassene, nicht in Bildern kanalisierte Wut in eindeutige Sprache, die allein missverstehen kann, wer es von vornherein bewusst darauf anlegt. „Neuköllner Hamasfreunde und Judenfeinde“ sind ein ganz konkreter Menschenschlag, der am 07. Oktober 2023 ganz konkret in Erscheinung trat, sich ganz konkreten Affekten hingab. Keine pauschalisierte Summe an Menschen, kein Bild. Einige dieser Affekte decken sich abermals mit den hier beschriebenen, alle verweisen sie erneut auf das Grundproblem unserer gegenwärtigen Kommunikation: Ein jeder wähnt sich im Widerstand. Dieser wird geschätzt, gehört zum guten Ton, doch zumeist genau so lange, bis er konkreter auftritt denn als schwammige Revoluzzergeste aus einem Comicbuch mit aufgetürmten Leichenbergen.
Das Festival schließlich, welches sich Gass‘ Worten und den Reaktionen auf sie anschloss, stimmt verhalten hoffnungsfroh, kontrastiert es Wort und Bild doch auf die in diesen Stunden einzig zielführende Weise. Viel Sorge bereiteten mir im Vorfeld die zahlreichen Gesprächsrunden – können sie in diesem Kontext, inmitten des Boykotts mehr sein als durch das angereiste und dem Festival deshalb weiterhin geneigte Publikum zwangsläufig bedingtes preaching to the converted?
Vielleicht nicht in Gänze. Aber sie können den Diskurs, die Anliegen und die Gewalt streng im Raum des klar Verbalisierten halten und den Filmen damit ihren eigenen Kommentar ermöglichen. Weitestgehend ungestört von Manipulation durch vollends Ausdeutende oder Brüllende vor der Tür, aus analoger Materialität und ihrem eigenen Kontext heraus. In seinen besten Momenten lotet dieser Kommentar aus, was man gemeinsam hat, nicht abzuschütteln vermag, weil es mit der DNA auch von Oberhausen verwoben ist. Es macht keinen Sinn, sich von gewissen Resultaten linker Geschichte freizusprechen, man kann sich bloß so gut es geht gegen sie positionieren. Im Wort – in dem also, was miteinander, untereinander bei so vielen derzeit versagt. Die Probleme sind hausgemacht. Und just an diesem Punkt betritt die Ästhetik einmal wirklich den Raum des Weltlichen. Denn dieser Rückblick auf sie steht allein denen frei, die ihr eigenes Archiv öffnen und es der Öffentlichkeit gegenüber in Zukunft offen halten. Zur Übersetzung der Diskrepanzen zwischen Inhalt und Ästhetik. Am Alten und scheinbar Vergangenen fallen sie stets leichter ins Auge.
- Mit besonderem Dank an Rainer Knepperges, Felix Mende, Tilman Schumacher, Fabian Tietke, Gary Vanisian und Carolin Weidner, die in kürzeren oder längeren Festival- und Frühstücksgesprächen erheblich zur Verfestigung der Gedanken beigetragen haben. Sowie an Andreas Beilharz und Lukas Foerster für Redigate und alle räumlichen Rahmen übersteigenden Input.
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