Die Arbeiterklasse kommt ins Paradies (1971)



Zeitgenössische Kritiken des Films, in denen von einer allzu starken Emotionalisierung des bedeutenden Themas, von peinlichem Overacting des in der Tat geradezu unmenschlich aufspielenden Gian Maria Volontè und unsachlichem Fatalismus die Rede ist, sind zu ärgerlich, um sie ohne weiteres wegzuwischen. In einer Schlüsselszene, deren Vorgänge Lulù (Volontè) dazu bewegen werden, sich den Studenten anzuschließen und die Rebellion der Arbeiter anzutreiben und -führen, ist er immer noch unsicher und verärgert über diese von ihm als lächerlich empfundene Eigenmächtigkeit der lautstarken „Muttersöhnchen“ – „Geh nach Hause zu deinem Papa!“ brummt er und fährt davon. Das gleiche möchte man denn auch jenen Kritikern wünschen, die sich seinerzeit in eben jenen prätentiös-zynischen Elfenbeinturm zurückzogen, den Elio Petri hier bewusst, demonstrativ verlassen hat. Er wollte nicht [nur] einen intellektuellen Aufklärungsfilm drehen, eine verstandesgemäße Aufarbeitung des Themenkomplexes, er wollte viel mehr, er wollte die Wut der Betroffenen filmisch umsetzen, wollte einen Film, in dem die Monotonie der Maschinenarbeit genauso erdrückend wirkt wie die explodierende Energie ihres Aufstandes und des dafür stellvertretenden Lulù ansteckend. Ein Film von einem der führenden linken Regisseure Italiens, nicht für ein ebensolches Publikum sondern auch für die Arbeiterklasse selbst. Die gebündelte Energie, die dieser Film ausstrahlt, der Instinkt und zugleich die trockene Berechnung, mit der er stets die richtigen Extreme wählt, die bestechende Milieu-Schilderung  und die völlig vereinnahmende, unwiderstehliche Unmittelbar- und Aufrichtigkeit, mit der er all das fühlbar macht – mal mit wildem Realismus, mal mit unbehaglicher, surreal anmutender Stilisierung – sollte etwaige Kritik an dieser zweifelsohne auch partiell manipulativen und „entintellektualisierten“ Vorgehensweise eigentlich erübrigen. Denn so zieht der Film direkt an der Wurzel, der ewige Zwiespalt der Arbeiter und des sie bevormundenden Systems wird offensichtlicher als offensichtlich (Zitat RECLAMS FILMLEXIKON: „Manches ist hier doch allzu laut, zu deutlich…“) und die Gewinne wie die Verluste dieser Rebellion bei allem Geschrei, aller Raserei und allem Chaos, stets so formuliert, dass Undifferenziertheit als Vorwurf gegen Petris Idee eines sozialpolitischen Manifests eigentlich nur mit vorsätzlichem Mutwillen und einer ordentlichen Dosis Arroganz aufrecht erhalten werden kann. LA CLASSE OPERAIA VA IN PARADISO ist der absolute Glücksfall eines solchen Films, eines Appells, der sich eben jener einfachen, nahe liegend(st)en Mittel bedient, deren vom bildungsbürgerlichen Konsens angetriebene Verpönung ihre Wirksamkeit und Integrität nur noch indirekt unterstreicht. Einen so couragierten, unverfrorenen und dabei im Kontext beinahe unparteiischen Appell-Film wie diesen bekommt man nur selten zu Gesicht. Kapitalismus-Kritik als melodramatischer Horrorfilm, sozusagen. Die Minorität profitiert von einer biederen und manierlich sachlichen Faktensammlung wie zuletzt unter anderem Volker Schlöndorffs fernsehspielartigem STRAJK, einem beispielhaften Reflexionspräservativ. Jeder kann von einem puren, reinen, echten und rohen Film wie LA CLASSE OPERAIA VA IN PARADISO profitieren und schon alleine der geizige, aber markerschütternde Einsatz von Ennio Morricones frostig-brutal stampfendem, minimalistischen Score sagt hier mehr Essentielles aus als es den meisten entsprechenden filmischen Meta-Diskussionen überhaupt gelingt.

LA CLASSE OPERAIA VA IN PARADISO – Italien 1971 / Regie: Elio Petri / Drehbuch: Elio Petri, Ugo Pirro / Kamera: Luigi Kuveiller / Musik: Ennio Morricone / Schnitt: Ruggero Mastroianni

Darsteller: Gian Maria Volontè, Mariangela Melato, Gino Pernice, Renata Zamengo, Ezio Marano,  Luigi Diberti

Dieser Beitrag wurde am Freitag, März 6th, 2009 in den Kategorien Ältere Texte, Blog, Blogautoren, Christoph, Filmbesprechungen veröffentlicht. Sie können alle Kommentare zu diesem Beitrag über den RSS 2.0 Feed verfolgen. Sie können diesen Beitrag kommentieren, oder einen Trackback von ihrer eigenen Seite setzen.

8 Antworten zu “Die Arbeiterklasse kommt ins Paradies (1971)”

  1. Sano Cestnik on März 7th, 2009 at 19:05

    Ich dachte der Film wäre ein Klassiker, und ursprünglich besser angekommen. Schließlich hat Petri dafür die Goldene Palme gewonnen, und auch den David für den besten italienischen Film des Jahres -also eher ein Karrierehöhepunkt. Gian Maria Volonté, wohl nicht nur meiner Meinung nach einer der besten und intensivsten Schauspieler, ging auch nicht ganz leer aus.

  2. Christoph on März 7th, 2009 at 19:21

    Sicher, der Film kam ja auch sehr gut an – trotzdem scheinen die beschriebenen Gegenargumente von Kritikerseite in nicht zu knapper Dichte gekommen zu sein. Der Film erschient eben just zu einer Zeit, in der thematisch derart gelagerte Filme gerade eine Hochkonjunktur erlebten in ganz Europa, nicht nur kommerziell sondern auch, wenn man so will, künstlerisch. Und anscheinend – man findet nur sinngemäße Zitate – empfand man den Film damals vielerorts als wahnsinnig plakativ und unangenehm reißerisch. Was, im Kontext seiner Entstehungszeit betrachtet, auch glaubwürdig erscheint. Den Höhepunkt von Petris Karriere markiert der Film zweifellos, zusammen mit dem nicht minder großartigen (m. E. sogar noch gelungeneren) ERMITTLUNGEN GEGEN EINEN ÜBER JEDEN VERDACHT ERHABENEN BÜRGER, der ja den Auslands-Oscar gewann und Petri eine zusätzliche Nominierung fürs beste Original-Drehbuch einbrachte – für einen italienischen Film (und obendrein einen offensiv politischen) damals sicherlich außergewöhnlich.
    Besagte Gegenargumente hielt ich aber eben für derart vermessen und an den Absichten des Films vorbeigedacht, dass ich mich darüber wieder einmal ein wenig ergehen musste;-) Vielleicht sollte ich in Zukunft auch meine vagen Tendenzen in Richtung politischer Ansichten aus meinen Texten ausschließen (bzw. über Filme, die mich dazu zwingen, nicht mehr schreiben), auf überzeugt weltlich-politische Leser kann das eigentlich nur unfreiwillig komisch wirken.

    Für dich dürften diese beiden Petri-Filme (ARBEITERKLASSE und ERMITTLUNGEN) übrigens ungetrübten Genuss bedeuten, man kann durchaus von der „ultimativen Gian Maria Volontè-Show“ sprechen, in beiden Fällen.8-) Ich hätte vielleicht auch noch anhängen sollen, dass Volontè mit zunehmendem Erfolg sich seine Rollen auch immer mehr seinen politischen (linken) Überzeugungen entsprechend auswählte und daher in den 70igern vor allem mit Regisseuren wie Petri oder auch Damiano Damiani arbeitete.

  3. Sano Cestnik on März 7th, 2009 at 21:17

    Meiner Meinung nach solltest du deine hier etwas verdeckten politischen Tendenzen in Zukunft eher betonen. Daß diese auf manche Leser komisch wirken könnten hat zwar seine Berechtigung, aber auf jeden Menschen kann ja prinzipiell alles komisch wirken. Das machen die generellen Unterschiede, verschiedene Sozialisierungen und die Mode.
    Und da du ehrlich aus deiner persönlichen Überzeugung schreibst, spielen sie wohl definitiv eine Rolle. Würde mir persönlich daher wünschen, dass du sie mehr herausarbeitest, wenn sie dir wichtig sind, und nur auf sie verzichtest, weil du verzichten willst. 😉
    Nur keine falsche Scham!

  4. Christoph on März 8th, 2009 at 04:35

    Das hat mit Scham gar nichts zu tun sondern eher mit einer Differenz in der Wahrnehmung. Ich bezeichne mich in der Regel als unpolitisch, gewisse Ideale decken sich aber auffallend mit Grundsätzen / Leitmotiven real existierender, klar abgesteckter politischer Strömungen mit denen ich mich aber nicht verbrüdern möchte (anders gesagt: praktisch gesehen könnte man mich quasi als linksgerichtet bezeichnen). Genau aus diesem Grunde können Äußerungen meinerseits aber leicht naiv, undifferenziert, unpassend „emotionalisiert“ (siehe Text) o. ä. wirken, weil man sie assoziativ / automatisch in diesen „offiziellen“ politischen Kontext setzen würde. Womit ich meine: Was für mich nur persönliche Weltanschauung, Philosophie, Überzeugung etc. ist, wird von anderen vielleicht in einem politischen Licht gesehen, was ich u. U. gar nicht möchte, weil es sich in diesem politischen Licht allzu impulsiv ausnehmen könnte. Ich möchte sozusagen nicht, dass meine Ansichten und Empfindungen „politisiert“ werden und in theoretische Denkansätze dieser Art „gepresst“ werden.

    Wenn die Frage aufkommt, welche „politischen Filme“ ich schätze, nenne ich ja stets Damiano Damiani. Und obwohl der vermutlich selbst durch und durch link ist, sind seine Filme doch in letzter Konsequenz die völlige Dekonstruktion von Politik als Konzept / System / Patriarchat. Und deswegen (nicht nur, natürlich) schätze ich sie so ungemein.

  5. Scott on April 30th, 2009 at 23:33

    Einfach so nen Kommentar: Der Film ist sehr hintergründig. Vor allem die Darstellungen der Studenten und der Frau vom Dingens, also von dem Hauptcharakter.
    Als Informatiker finde ich natürlich auch die Beschreibung der Arbeit sehr interessant. Heutzutage würde sowas längst von Maschinen erledigt werden. Im Grunde ist das Dasein der Arbeiter in der Fabrik von Vorne bis Hinten sinnlos, was auch kurz angesprochen wird 😉

  6. Frage on Oktober 22nd, 2009 at 12:30

    Hallo

    Ich habe den Film vor Jahren gesehen und er hat mir gut gefallen.
    Er hat mich an die „Goldene Horde“ erinnert, einem Buch von Primo Moroni und Nanni Ballestrini über die radikale Linke in Italien.
    Wie kann ich an den Film wieder ran kommen?

    Paul

  7. Sano on Oktober 24th, 2009 at 09:19

    Hallo Paul,

    Meines Wissens ist es zur Zeit etwas schwierig in Deutschland an den Film ranzukommen. Er lief zwar im Februar dieses Jahres im Filmmuseum Wien, ist aber noch nicht im deutschsprachigen Raum auf DVD erschienen. Es gibt (glaub ich) eine italienische DVD die momentan OOP ist – am 25. November erscheint jedoch in Italien eine neue Ausgabe in der Reihe „Minerva Classic“, die man z.B. unter diesem Link vorbestellen kann: http://www.ibs.it/dvd/8032706213721/classe-operaia-va-.html?shop=1563

    Desweiteren gibt es noch eine brasilianische DVD (Regionalcode 4) mit portugiesischen Untertiteln. Hier eine Möglichkeit sie zu bestellen: http://dvdworld.com.br/mail_dvdworld.hts?+VS17150+acha

    Die neu erscheinende italienische DVD könnte englische Untertitel haben (einige Titel der Reihe haben definitiv welche), und die Bildqualität dürfte wahrscheinlich auch recht gut werden.

  8. Christoph on September 12th, 2012 at 06:16

    Nachtrag (überflüssig, da der Film im Dezember in Deutschland auf DVD erscheint): die zweite Auflage aus der Reihe „Minerva Classics“ bietet sowohl zum Hauptfilm als auch zum Bonusmaterial englische Untertitel (sowie ein sehr schönes bilinguales Booklet.)

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