100 Deutsche Lieblingsfilme #9: Sylvie (1973)



SYLVIE von Klaus Lemke ist eine Liebeskomödie voll verschmitzter Ironie und sanfter Melancholie. Eine ziemlich waghalsige Mischung aus direct cinema-Doku über den Alltag des Fotomodells Sylvie Winter und fiktiver Liebesgeschichte zwischen Sylvie und ihrem Taxifahrer Paul. Heimlich und leise ist es auch ein Film über das Nord-Süd-Gefälle in Deutschland, und über den großen Sehnsuchtsort Amerika, an dem man doch nie bleiben kann. Und vielleicht ist SYLVIE auch die Verfilmung des Liedes „Backstreet Girl“ von den Rolling Stones, dessen wehmütiges Akkordeon-Solo den Soundtrack liefert.

Paul ist Sylvies Taxifahrer, aber eigentlich ein Seemann und lebt in München bei seiner Mutter. „Er ist ein bisschen schwer von Begriff“, meint sie einmal über ihn und wirklich etwas anfangen kann er mit ihrer Zuneigung dann auch nicht. Obwohl er sie zuerst geküsst und in einem wahren Redeschwall von seinen Seemannsabenteuern in New York erzählt hat. Er will lieber wieder aufs Meer fahren und als sie ihn abends mit zu sich nehmen will, fährt er heim zu Mama. Für ihn ist sie das, was er an Land erlebt hat, das Pin-Up-Girl für einsame Nächte auf See. Eine Sehnsucht, der man besser nicht zu nah kommt. Eine kurze Liebe, ein großes Missverständnis.

Lemke hat wunderbar trockene Dialoge geschrieben, aber es ist vor allem eine Geschichte der Blicke. Die professionellen Blicke, die Sylvie in die Fotokameras und von den Magazincovern wirft, und die zärtlichen, herausfordernden Blicke, mit denen sie Paul anschaut. Die begehrlichen Blicke der älteren Herren und der neugierige, distanzierte Blick von Paul. Vermutlich ist es gerade seine Begriffsstutzigkeit, die Sylvie so an ihm mag, denn ihre Welt ist eine ganz andere: Reiche Männer. Exzentrische Photographen (einer davon gespielt von Werner Bokelberg, dem Society-Fotograf der Sechziger). Champagner. New York.

Bei Lemke in den Siebzigern schreiben immer alle über den Schnitt von Peter Przygodda, zu Recht, aber ich will die knappen Zeilen lieber nutzen um von Lothar Stickelbrucks Kamera zu schwärmen. Als Sylvie in New York ist, gibt es eine unglaubliche Hubschrauberfahrt, um das World Trade Center schwingt die Kamera sich herum bis hoch zum Dach, auf dem gerade die Fotosession stattfindet. Wie er in der Stadt ihre Sehnsucht filmt, wenn sie mit dem groben Fotografen auf die U-Bahn wartet, er unscharf im Vordergrund und sie hinten in die Ferne blickend. Und dann gibt es auch eine Szene in einem New Yorker U-Bahn-Waggon, die damals noch richtig heruntergekommen waren, die Kamera schaut sich neugierig um, den anderen Fahrgästen direkt ins Gesicht. Es ist an diesem Ort, als Sylvie entdeckt, dass sie in Paul verliebt ist, und seinen Namen zu den anderen Graffitis an die Wand schreibt.

Später, wenn er zurück nach Hamburg muss, läuft sie seinem Zug hinterher, aber er besäuft sich lieber als Zeit mit ihr zu verbringen. Er liegt dann betrunken brabbelnd da und sie schaut ihn verliebt an und wirft ihm Schlaftabletten in die Bierdose, in der Hoffnung, er würde die Endstation verschlafen. Das sind vielleicht die schönsten und traurigsten Momente des ganzen Films, denn so schauen wie Sylvie Winter konnte keine Zweite.


Sylvie – Deutschland 1973 – Regie & Drehbuch: Klaus Lemke – Produktion: Harald Müller, Willi Segler – Schnitt: Peter Przygodda – Kamera: Lothar Elias Stickelbrucks – Darsteller: Sylvie Winter, Paul Lys, Ivan Desny, Guido Mangold, Werner Bokelberg, Peter Böhlke, Heinz Badewitz

– SYLVIE ist als selbst gemachte DVD in großartiger Bildqualität bei Hanseplatte erschienen. –

Dieser Beitrag wurde am Sonntag, März 14th, 2010 in den Kategorien Alexander P., Blog, Blogautoren, Deutsche Lieblingsfilme veröffentlicht. Sie können alle Kommentare zu diesem Beitrag über den RSS 2.0 Feed verfolgen. Sie können diesen Beitrag kommentieren, oder einen Trackback von ihrer eigenen Seite setzen.

10 Antworten zu “100 Deutsche Lieblingsfilme #9: Sylvie (1973)”

  1. Sano on September 16th, 2010 at 16:51
  2. Sano on Mai 30th, 2011 at 21:59

    Gerade einen tollen Text zu SYLVIE von Lukas Foerster auf seinem Blog entdeckt!

    Das liest sich für mich so hemmungslos wie man das Leben manchmal gerne hätte, und wie ich mir den Film vorstelle (den ich immer noch nicht gesehen habe). 🙂

  3. Klaus Lemke on Januar 30th, 2019 at 18:55

    DANKE! LEMKE. „ROH. UNKOMPLIZIERT. GENIAL. SCHNELL.“

  4. Manfred Polak on Mai 15th, 2019 at 23:49

    Klaus Lemkes ROCKER ist gerade in der Mediathek von 3sat zu finden:

    http://www.3sat.de/mediathek/?mode=play&obj=80816

    Übrigens im Rahmen einer Reihe mit deutschen Filmen aus Ost und West, die aus Anlass der doppelten Staatsgründung 1949 läuft. Da liefen in der Abteilung „Ost“ in den letzten ca. 2 Wochen schon DER GETEILTE HIMMEL (Konraf Wolf), DAS KANINCHEN BIN ICH (Kurt Maetzig) und BÜRGSCHAFT FÜR EIN JAHR (Hermann Zschoche), in der Abteilung „West“ NEUN LEBEN HAT DIE KATZE (Ula Stöckl), JAGDSZENEN AUS NIEDERBAYERN (Peter Fleischmann) und ROCKER. Und alle sind in der Mediathek als Stream und Download verfügbar, ohne dass 3sat übermäßig offensiv darauf hinweisen würde. Kann sein, dass ich noch ein oder zwei Filme übersehen habe. Jetzt läuft gerade Fassbinders ANGST ESSEN SEELE AUF, und es sollte mich wundern, wenn der nicht auch morgen in der Mediathek auftaucht. Mal sehen, was die Reihe sonst noch bringt.

  5. Manfred Polak on Mai 15th, 2019 at 23:59

    Und schon ist mir ein Film eingefallen, den ich gerade vergessen hatte, nämlich Frank Beyers SPUR DER STEINE.

  6. Manfred Polak on Mai 20th, 2019 at 15:48

    Tja, wenn mein erster Kommentar hier nicht freigegeben wird, dann sieht der zweite so isoliert ziemlich blöd aus und sollte vielleicht auch gelöscht werden. Da weiß ja außer mir keiner, worum es überhaupt geht, und das Thema hat sich eh bald erledigt.

  7. Alexander P., Christoph und Sano on Mai 21st, 2019 at 16:06

    Hallo Manfred Polak, ich kann leider keinen weiteren Kommentar von Dir im System finden. Zurückgewiesen wurde hier nichts…

  8. Manfred Polak on Mai 23rd, 2019 at 16:56

    Der Kommentar wurde von mir ein paar Minuten vor dem zweiten (dem mit SPUR DER STEINE) abgeschickt, also am 15. Mai. Er enthielt einen Link, und als er nicht sichtbar wurde, dachte ich, dass er erst freigegeben werden muss. Wenn bei euch keiner etwas davon gesehen hat, wurde er entweder gleich vom System verschluckt, oder solche Kommentare auf Abruf bleiben nur kurz in der Warteschleife und werden dann automatisch gelöscht.

    Wie auch immer, es hat sich eh erledigt. Es ging darum, dass Klaus Lemkes ROCKER und ein paar andere interessante deutsche Filme in der Mediathek von 3sat abrufbar waren, was 3sat aber nicht an die große Glocke gehängt hat. Und die meisten dieser Filme, auch ROCKER, sind schon wieder aus der Mediathek rausgefallen. Nur Ula Stöckls NEUN LEBEN HAT DIE KATZE ist noch drin. Der bekommt anscheinend einen Bonus bei der Haltezeit.

  9. Manfred Polak on Mai 23rd, 2019 at 17:24

    Jetzt habe ich ausführlich auf den Kommentar von Alexander, Christoph und Sano geantwortet, und der Kommentar erscheint auch schon wieder nicht. Also irgendwas läuft da schief …

    Mal sehen, ob wenigstens diese Antwort erscheint.

  10. André Malberg on Mai 23rd, 2019 at 19:08

    Huhu, war gerade ohnehin hier am Basteln, als Ihr erster Kommentar quasi vor meinen Augen in den Spamordner gewandert ist. Nun ist er hier und nach einiger Goldgräberei (uns erreichen täglich zahllose richtiger- und gnädigerweise umgehend getilgte Nachrichten) hat sich auch der Kommentar vom 15. gefunden. Alles ergibt somit nun einen Sinn.
    Danke für die wie immer interessanten Beiträge und die besten Grüße,
    André

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