Upstream Color (2013) – Von Maden und Menschen
Es ist schon seltsam: ich sehe so viele Filme, die mich beeindrucken, begeistern, vor denen ich am liebsten in die Knie gehen würde, alte wie neue, im Kino und zu Hause und meist fällt es mir unglaublich schwer darüber zu schreiben, mir fehlen die Worte oder alles was mir dazu einfällt klingt abgenutzt und unoriginell, voller Klischees oder ist anderswo schon besser gesagt worden. Oder ich finde den Film wirklich groß, aber kurz nach der Sichtung denke ich schon gar nicht mehr daran, denn der Film hat alles schon sagt, ich habe alles schon während des Films gefühlt und gedacht. Und dann kommt ab und an ein Film, der nicht mal „besser“ sein muss als andere Filme, aber zu dem mir sofort Worte kommen, wie ein nicht enden wollender Strom, ein Film, der meine Denkmaschinerie in Gang setzt, die dann auch erstmal nicht mehr zur Ruhe kommt, fast wie bei Wagners „ewigen Melodien“ oder so und diese Denkmaschinerie bewegt sich zudem auch dauernd vom Film weg, dann aber wieder auf ihn zu und umkreist ihn derart. Ein Film der so etwas bei mir in Gang gesetzt hat war UPSTREAM COLOR oder vielleicht habe ich ihn einfach gerade in einem der wenigen Zeitfenster gesehen, in denen mein Hirn bereit ist für diese Art von Denkkaskaden und was ich hier schreibe ist jedenfalls keine Kritik dieses Films sondern allenfalls ein Erfahrungsbericht. Es geht in diesem Text also mehr um mich oder eher das was in mir vorging während ich UPSTREAM COLOR sah und nachdem ich aus dem Kino kam, was mir durch den Kopf ging, während ich nach Hause fuhr und auch im Bett vorm Einschlafen lange nicht abreißen wollte, der gute alte Bewusstseinsstrom eben, passend zum Titel: stromaufwärts Farbe! – stromabwärts Gedanke, fließfloss fuhrbay an Ev‘ und Adams…
UPSTREAM COLOR ist einer dieser zerfaserten Filme, deren Handlung kaum als solche zu bezeichnen ist, eine Collage aus Ellipsen, die ineinander übergehen, zerrissen durch den Schnitt und doch durch Matchcuts, durch Rhythmus, durch Motive verbunden, also selbst so etwas wie ein filmischer Bewusstseinsstrom nur ohne erlebendes Subjekt oder vielleicht gibt es das doch, nur ist es keine der Figuren, überhaupt kein Mensch, sondern der zeitlose Metaorganismus von dem die erratische log line des Films spricht: „A man and woman are drawn together, entangled in the life cycle of an ageless organism.“. UPSTREAM COLOR ist einer dieser Filme mit viel Handkamera und vielen unübersichtlichen Nahaufnahmen und ganz vielen Unschärfen. Es gibt eine wunderschöne Szene, in der Kris, eine Animationsspezialistin in einer Werbeagentur, die eines Tages in einer Disco, vergiftet, hypnotisiert, ausgeraubt und mit offenbar halluzinogenen Würmern infiziert wird, durch einen Raum schreitet, der voller Menschen ist, die das Gesicht von ihr abgewandt haben, alle im Lichtnebel ätherischer Unschärfe. Doch die Ästhetik von UPSTREAM COLOR ist keine des Traums, nein das ist eher wie das Denken im Halbschlaf, zwischen freier Assoziation, plätschernden Erinnerungsfetzen und einem schwachen Rest Bewusstsein. Vieles scheint zufällig, disparat, absurd. Ich liebe es, nach einem Film den Gesprächen der anderen Zuschauer zu lauschen, auch dann wenn sie eine gegensätzliche Meinung zu meiner vertreten. Zwei mutmaßliche Studenten diskutierten später darüber, welche Teile des Films metaphorisch und welche „buchstäblich“ zu nehmen seien, doch das geht meines Erachtens völlig an UPSTREAM COLOR vorbei. Es gibt hier keine Metaphern und keine Dichotomie von real/bildlich, es gibt nur Bilder und dazwischen Lücken, synaptische Spalte. Es gibt Motive, sicher, es geht um Leben, das Organische und das Leben an sich, um Kontrollverlust und das Wiedergewinnen derselben, es geht darum, wer wir sind, wenn man alles von uns abzieht und wo ich aufhöre und du anfängst. Es geht um Maden und Menschen, Blumen und Schweine und der Rest der Natur ist irgendwie auch sehr wichtig und das große Ganze sowieso.
UPSTREAM COLOR ist also einer dieser GGFÜA (ganz große Filme über alles, Copyright: Christian Kessler) und wird nicht ohne Grund von manchem Rezensenten mit Malicks TREE OF LIFE verglichen, was zwar irgendwie als entfernte Näherung Sinn macht, aber natürlich beiden Filmen nicht gerecht wird. Was dem Malick sein knuffiges CGI-Dinosaurierbaby ist dem Carruth sein verwesendes Schwein könnte man sagen. So schief der Vergleich, so aussagekräftig dennoch. Denn zu sagen UPSTREAM COLOR sei schwer verdaulich ist eine Untertreibung. Es wundert noch immer, wie wenige der Zuschauer den überraschend vollen Kinosaal während der Vorstellung verließen, doch der geradezu in homöopathischer Dosis von ihnen emitierte Applaus gereichte dazu das Wort „verhalten“ neu zu definieren. Anders als THE TREE OF LIFE oder andere mindestens halbwegs massenkompatible Welterklärungsfilme offeriert UPSTREAM COLOR keine religiösen oder anderweitig kulturell eingeübten Deutungsfolien, keine katalogfähigen Naturverklärungsikonen und schon gar keinen kitschigen „Strand des Lebens“. Auch gibt es hier keine paternale Stimme aus dem Off, die dich oder mich an die Hand nimmt. Man wird in den Wust aus Bildern geworfen, wie die kleinen Ferkel im verschnürten Sack in den Fluss geworfen werden von dem unheimlichen Mann, der in den Credits „Sampler“ heißt und der Experimente mit Würmern, Menschen und Schweinen macht und sie dabei irgendwie miteinander verbindet. „Alles hängt mit allem zusammen. Das soll uns der Film wohl sagen. Was für eine tiefe und nützliche Erkenntnis.“ sagte sinngemäß und voll beißenden Spottes ein anderer Zuschauer, der mit mir im Kino saß. Doch was verbirgt sich hinter solchen Aussagen wirklich? Oft genug bekomme ich das zu hören, wenn Jemand einen Film abqualifizieren möchte, den ich anpreise: „die Aussage xy ist doch ziemlich banal, oder?“ und ich fühle mich immer für einen kurzen Moment ertappt und fühle mich wie ein dummer Junge, der von etwas ganz und gar Alltäglichem oder Trivialem, jedenfalls Altbekanntem hingerissen ist, von dem man nur so begeistert sein kann, wenn man in der Frühpubertät oder eben darin zurückgeblieben ist. Als ob es gute Filme ausmache, dass sie jeweils eine tatsächlich ganz neue und völlig revolutionäre Erkenntnis oder gar Weltsicht offenbarten, statt einer solchen künstlerische Gestalt zu verleihen. „Alles hängt mit allem zusammen“ ist so gelesen eine Banalität, fügt man noch den Zusatz „im Leben“ hinzu wird es ein abgeschmackter Eso-Kalenderspruch. Aber uns das, was daran dennoch wahr ist fühlen zu lassen, fast mit Ehrfurcht und ohne eine Spur von Peinlichkeit, das kann eben nur Kunst und oben genannter Kommentar des Zuschauers heißt also übersetzt eigentlich: „Bei mir ist dieser Film damit gescheitert, mich etwas Besonderes fühlen zu lassen. Er ging mir eher auf die Nerven und das worum es ging erschien mir dadurch eher trivial, statt ergreifend.“
Ein gutes Mittel (auf das Malick gleichwohl ebenso verzichtet) den Zuschauer einzunehmen ist die Inklusion von Humor, das Aufbrechen des Pathos, die ironische Brechung, mittlerweile fast schon Pflicht des post-postmodernen Spektakels. Humor gilt heute beinah automatisch als Zeichen der Reflexion, aber er ist oft nahe am lächelnden Schuldeingeständnis: „ja Leute, ich weiß, so großspurig und pathetisch kann man eigentlich nicht mehr über Gott und die Welt sprechen/filmen, wie ihr seht nehme ich das zu eurer Beruhigung selber auch nicht so ernst.“ Dazu fällt mir ein lange zurückliegendes Gespräch mit Sano ein, in dem er sagte, er möge nur Filme die bierernst sein. Auf meine Nachfrage, wie dann Chaplin zu seinen absoluten Lieblingsregisseuren zählen könne, sagte Sano sinngemäß, Chaplin nehme das Leben durchaus bierernst, nur eben auf humorvolle Weise! (Der Sano Lama ist übrigens eine unerschöpfliche Quelle derart verblüffender Cine-Zen-Weisheiten.) Und ist UPSTREAM COLOR überhaupt so humorfrei, wie er auf den ersten Blick wirkt? Eine Frau und ein Schwein, durch einen meterlangen Wurm verbunden, der über eine Kabelspule gelegt ist, trifft da nicht AMERICAN PSYCHO auf Monty Python? Überhaupt dieses Dasein als Aufs-Schwein-Gekommen-Sein des Films, elegantester Nonsense der bierernsten Sorte.
„Ich muss mich entschuldigen, ich habe einen Geburtsfehler, mein Kopf ist aus dem gleichen Material wie die Sonne gemacht, du musst deinen Kopf abwenden, wenn du versuchst mich anzuschauen.“ sagt der Unbekannte zu Kris, während massenhaft Eiswürfel in einem Krug nicht aufhören wollen zu rotieren. Wenn der Körper fremdbestimmt wird, wenn die Würmer in uns eindringen, schon bei lebendigem Leib, wenn der Körper sich in Tumoren selbst verzehrt, wenn die Blumen ihre Schönheit nur ihrem parasitären Wuchern auf den Wurzeln eines Baumes und ihre Farbenpracht den Verwesungsgasen toter Schweine verdanken, wenn ein Fremder bestimmt, wann die himmelhohe Mauer einstürzt, die eben noch Hunger und Müdigkeit ferngehalten hat, dann ist das massivster Kontrollverlust, ist auch Brücke, ist Verdautwerden und Transformation, das Nomadische des Lebens, grausam und prächtig. Wir sind nicht das woraus wir bestehen, nach spätestens vier Jahren ist kein Atom in uns, das zu dem Menschen von damals gehörte, wir sind eher eine Welle oder Sanddüne, die durch diese Welt zieht.
Wer bin ich, wenn ich alles abziehe von mir? Alles was mich ausmacht. Meine berufliche Existenz, mein Hab und Gut, selbst die Erinnerungen, die nicht mehr ganz meine zu sein scheinen. Der Ruf der Natur und die Rückkehr zu ihr werden immer wichtiger für Kris und Jeff; WALDEN von Henry David Thoreau ist eine Referenz die UPSTRAM COLOR ständig aufruft, ein Buch dass ich zwar nicht gelesen, über das ich aber gelesen habe, bei Auster kommt es zum Beispiel in seiner NEW YORK TRILOGIE vor und ich weiß nur, es geht darin um die Rückkehr zur Natur und darum, alles hinter sich zu lassen, eine Bibel für Aussteiger, aber ein schwärmerischer Aussteigerfilm ist UPSTREAM COLOR nun wirklich nicht. Die Bilder von Maden im Fleisch und verwesenden Schweinen im Bach sind kaum idyllisch, doch bei allem Ekel, den sie evozieren auch verstörend schön. Zersetzung und Neuformation, Auseinandernehmen und Zusammenfügen das sind die Prozesse der Natur und der Kunst, die Carruth hier immer wieder durchspielt. Und die Rückkehr zur Natur oder vielmehr die Verbundenheit entspringt hier auch keiner freien Entscheidung eines zivilisationsübersättigten Individuums auf der Suche nach sich selbst. Nein, im Gegenteil, Kris wird zum Opfer, sie muss die halluzinogenen Würmer der Erde in sich aufnehmen, immer wieder und wieder, in der Kapsel, die ihr der bedrohliche Unbekannte – ist es wirklich nur ein Kleinganove oder Agent einer höheren Macht? – in der Disco verabreicht und dann nochmal durch die Atemmaske, die er ihr zur vermeintlichen Rettung aufsetzt und vielleicht ein weiteres mal, als sie sich gierig wie ein Tier am offenen Kühlschrank satt frisst an dem Essen, das vergiftet ist, wie der Mann gesagt hat, der den hypnotischen Bann ihres Hungers wieder gelöst hat. Und sie muss WALDEN abschreiben. Shane Carruth hat in einem Interview beim Sundance Festival wohl gesagt WALDEN sei ein Buch, mit dessen Lektüre man jemanden foltern könne und so ist es nur folgerichtig, dass Kris aus den zusammengefalteten und zu Ringen zusammengeklebten Seiten, die sie aus WALDEN abgeschrieben hat Ketten fertigen muss. Oder sind das gar keine Gefängnisketten, sondern Sinnbilder für die sich überlagernden ineinander verschlungenen Geister der Menschen (und Würmer und Blumen und Schweine) die von dem großen mysteriösen zeitlosen Organismus befallen sind, der vielleicht nichts als das Leben selbst ist, das Leben als Infektion und als ständige Verwandlung des Einen zum Anderen. Alles ist Subtext, nichts ist greifbar in dieser Eloge des Organischen und des Parasitären, jedes Indiz verschwimmt in der Unschärfe.
Der „Sampler“, der mysteriöse Mann, der Menschen mit dem seltsamen Wurm infiziert und sie dann an das Schicksal von Schweinen koppelt ist keine eindeutig böse Figur, auch wenn er später erschossen wird. Er ist auch ein Musiker, doch setzt er hauptsächlich Töne, die die Natur selbst hervorbringt, amplifiziert sie, verzerrt sie und mischt sie. Die Noten, die er selbst auf einem niedlichen Minikeyboard hinzufügt erkennt er bald als überflüssig, wirft sie von einer Brücke herab. Es geht ihm vielleicht eher darum, den Atem der Natur wieder hörbar zu machen, die Menschen zu zwingen wieder darauf zu hören. Möglicherweise ist der der ökologisch bewusste Bruder des Spielmeisters aus SAW: er zwingt den Menschen die Infektion mit den Würmern auf und ebenso die Teilhabe am großen Ganzen und WALDEN und der hypnotisierende Dieb könnte gar kein Dieb sondern sein williger Helfer sein. Aber das greift vielleicht zu kurz, denn der Sampler scheint allgegenwärtig, er beobachtet seine Opfer oder sind es seine Anvertrauten, ist er der „Hirte“ dieser Menschen? Und jenes Paar, nicht etwa Kris und Jeff, ein anderes, dessen Ehe von den gewaltsamen Ausbrüchen der psychisch kranken Frau zerüttet wurde, sind das… sind Kris und Jeff deren Wiedergänger? Ist der große Organismus etwa ein zweiter, ein irdischer Ozean von Solaris, der Menschen neu erschafft nur in anderen Körpern?
Man sollte sich UPSTREAM COLOR vielleicht nähern wie Kris dem Rand des Schwimmbeckens: mit kühnem Sprung hinein, dann ganz im Wasser treiben lassen, im Gefühl des Im-Wasser-Seins, dann noch tiefer tauchen, moos- und korallenbewachsene Steine emporholen und sie wieder ins Wasser werfen und wieder danach tauchen. Also gerade keine Suche nach Schätzen, die gehoben werden müssten. Untertauchen in die Tiefe als Ritual, oder eher noch als Erfahrung um ihrer selbst willen. UPSTREAM COLOR wird es vielen leicht machen, ihn zu hassen und schwer ihn zu mögen. Ich weiß nur, dass er noch sehr lange bei mir blieb.
Upstream Color – USA 2013 – Regie, Drehbuch, Kamera, Musik: Shane Carruth – Produktion: Shane Carruth, Casey Gooden, Ben LeClair – Schnitt: Shane Carruth, David Lowery – Darsteller: Andrew Sensenig, Shane Carruth, Amy Seimetz, Thiago Martins u.a.
Copyright Bilder: erbp
ich hatte den film absolut nicht auf dem radar. das hat sich jetzt definitiv geändert. danke.
gern geschehen. ich garantiere aber nicht für’s gefallen!! 😉
[…] Alexander S. auf Eskalierende Träume tief berührt und zum Nachdenken gebracht. Das Ergebnis ist ein langer und persönlicher Artikel über diesen Film, der definitiv sehr, sehr neugierig […]
Das herzallerliebste Herumgeferkel am Ende hat mich erneut über mein unseeliges Karnivoren-Dasein nachdenken lassen. Danke dafür Shane Carrot…äh…Carruth.